6. Juli 2010
Berlinbiennale 6 Stadt, Kunst und Video-Tape
Die sechste Berlinbiennale expandiert von Mitte in ein leerstehendes Kaufhaus am Oranienplatz in Kreuzberg 36. Ihre erste Ausgabe 1998 ging mit einer Neubegründung des Berlin-Mythos – als Stadt der niedrigen Mieten und des hohen kreativen Potenzials - einher, seitdem ist die in den Kunst-Werken beheimatete Ausstellung Motor für die spezifisch Berlinische Verschränkung von Kunst- und Stadtraum. Nicht zuletzt deshalb wird sie spätestens seit der vorletzten Edition von 2006 auch mit dem Vorwurf der Beschleunigung von Gentrifizierungsprozessen konfrontiert. Ihr Um- und Weiterzug ist daher an sich ein Politikum; die während der Eröffnung am Donnerstagabend aufgetauchten Protestplakate waren erwartbar. Von Anfang an stellte sich die Frage, wie die Ausstellung mit diesem Apriori umgehen würde.
Bereits am Mittwoch Mittag hatte die Pressekonferenz stattgefunden. Toll in seiner kommunitären Gestalt war der dafür gewählte Ort, das Kulturzentrum der Anatolischen Aleviten in der Nähe des Oranienplatzes, toll auch die Unkompliziertheit bei Akkreditierung und Einlass. Dann konnte man sich persönlich mit der schwarz-gelben Brachial-Rhetorik bekanntmachen. Der soeben unbeschädigt und entsprechend triumphal aus der Haushaltskonferenz hervorgegangene Kulturstaatsminister Neumann stellte klar, dass «die Kunst nicht das Sahnehäubchen, sondern die Hefe im Teig» sei. Wer im Kanzleramt hat diesen Brei angerührt? Deutlich angenehmer die Einleitung von Kuratorin Kathrin Rhomberg, die, auch Dank der Einmischung des amerikanischen Gast-Kurators Michael Fried, doch einige programmatische Koordinaten anbrachte: Dass es den Arbeiten um eine Welt zu tun sei, die nicht in einer Ansammlung diskursiver Effekte aufgeht, sondern ein Eigengewicht gegenüber ihrer – ästhetischen wie anderweitigen – Bearbeitung behauptet. Was draußen wartet: Ein gewogener Kritiker mag hinter dem dünnen Titel mehr vermuten, als das vage, dem Verdacht der Affirmation sich aussetzende Bekenntnis zu einer außerästhetischen Wirklichkeit «da draußen»; nämlich Kunst als Potenzial, diese Wirklichkeit anzueignen, ohne die Waffen zu strecken vor dem, was der Fall ist. Ist es angesichts dieser Maxime überraschend, wenn das Gros der Exponate aus Videos und Filmen besteht? Rhombergs ausdrückliches Bestreben zu reduzieren und zu konzentrieren lässt sich an einer auf 43 Namen beschränkten Künstlerliste ablesen und findet zudem in der Ausstellungsarchitektur Widerhall: Soviel Platz wie beispielsweise in dem leer stehenden Spekulationsobjekt am Oranienplatz wird der Begegnung mit jedem einzelnen Werk in Großausstellungen wie dieser selten eingeräumt. Diese Strategie ermöglicht aber vor allem auch eine fokussierte Rezeption der zeitbasierten Arbeiten.
Extremer Realismus
Die von Michael Fried betreute Menzel-Schau steuert zur kuratorischen Ausrichtung den Begriff und die Anschauung eines «extremen Realismus» bei. Noch im visuellen Medium der Graphik, so Fried, fasst Menzel die ihn umgebende Welt nicht als abstrakte Sichtbarkeit, sondern als verkörperte Erfahrung: Er fühlt sich in die Welt ein, statt sie abzubilden, «wie sie ist». Wer seine Arbeiten in der Alten Nationalgalerie sieht, meint diesen Einsatz zu verstehen. Nicht nur Menzels Selbstbeobachtungen (seiner Hände, seiner Füße), sondern auch die manisch angefertigten Skizzen seiner unmittelbaren Umgebung (eines fahrenden Zugs, eines Bretterverschlags) nehmen keine ideale, auf Sichtbarkeit zielende Perspektive ein. Sein Blick bleibt an den zufälligen Standpunkt eines körperlichen Betrachters gebunden. Er tritt nie aus der vorgefundenen Situation heraus, um eine kompositorisch durchgestaltete und leichter aufzufassende Ansicht zu geben.
John Smiths frühe Filmarbeit The Girl Chewing Gum von 1976, die im patinierten ehemaligen Café Firat in der Dresdener Straße zu sehen ist, erscheint vor diesem Hintergrund als ingeniöse Parodie einer Weltanschauung, die von dem, was draußen wartet, keinen Begriff mehr hat, weil sie alles Sein zur kulturellen Hervorbringung stempelt. Während das körnige Schwarzweißbild die kontingenten, offensichtlich ungesteuerten Abläufe an einer Londoner Straßenkreuzung registriert, dynamisiert nur durch einige horizontale und vertikale Schwenkbewegungen, kläfft ein unsichtbarer Demiurg Befehle von der Tonspur: «I want the little girl to cross - now!» Absurder noch als der Befehl ist seine Befolgung. Dass das kleine Mädchen im nächsten Moment tatsächlich den Kader durchquert, beglaubigt die Macht des vermeintlichen Weltenschöpfers nicht, sondern macht sie umso deutlicher (und vor allem: umso komischer) als Anmaßung kenntlich. Smith ist aber noch mit einer weiteren, beinahe antithetischen Arbeit vertreten. In Frozen War von 2001 filmt er ein eingefrorenes Fernsehbild, unmittelbar nach Anbruch des Kriegs in Afghanistan. Auf dem Bildschirm zu sehen ist das Logo der BBC, ein Mann im Anzug, womöglich ein Experte, der zu den jüngsten Ereignissen befragt wird, und darunter ein Schriftzug, der die ersten Angriffsziele benennt. Smiths Stimme, diesmal leise und vernuschelt, analysiert dieses Bild und entspinnt ein Narrativ über sein Zustandekommen: Ist die BBC einem Gegenschlag zum Opfer gefallen? Kündet der Gesichtsausdruck des Experten von der Einsicht, das sein Leben in diesem Moment zuende geht?
Wo Form beginnt, hört Politik auf
Jene Arbeiten, die hinter dem Anspruch eines extremen Realismus zurückbleiben, bescheiden sich mit Abbildung und produzieren in ihrer Auseinandersetzung mit Öffentlichkeit partizipatorischen bzw. revolutionären Kitsch, wie Minerva Cuevas' Demonstrationsdoku Dissidence, Nir Evrons digitale Fingerübung Echo oder Andrey Kuzkins Videoperformance Resistance. Cuevas' buntem Fleckenteppich altermondialistischen Aufbegehrens will es nicht gelingen, sich in ein anderes als schlicht abbildendes Verhältnis zu ihrem Gegenstand zu setzen, und tut ihm damit keinen Gefallen. Evrons mit gefälligem Lounge unterlegte Visuals treiben das traditionell schwierige Verhältnis von Politik und Form auf die Spitze. Das von Zwischentönen unbelastete Ergebnis dieser Versuchsanordnung: Wo Form beginnt, hört Politik auf. Kuzkins Arbeit exponiert, ihrem dumpfen Titel gemäß, eine widerständige Geste in hundertfacher Ausführung. Ein Mann mit Gasmaske und zerschlissenen Gummihandschuhen geht mit Säure gegen Hochglanzmagazine vor, mehr nicht.
Sebastian Stumpfs «Tiefgaragen» sind voller Körpereinsatz gegen die endgültige Trennung des privaten vom öffentlichen Raum durch die Tiefgarageneinfahrt, das prägnanteste Charakteristikum urbaner Gentrifizierungsarchitektur. In unbewegten Einstellungen läuft Stumpf auf sich schließende Garagentore zu und rollt im letzten Moment unter ihnen hindurch. Die Dauer der einzelnen Einstellungen variiert, den vorprogrammierten Intervallen von Öffnung und Schließung der Tore entsprechend. Stumpf begegnet diesem Mechanismus als etwas Vorfindliches, dem es sich – passgenau – einzufügen gilt. Wie Stumpf sich unters Garagentor wirft, ist indes keine Unterwerfung, Zweck der Übung ja gerade ein Akt der Überschreitung. In ihrer einfachen Lesbarkeit ist diese Arbeit dennoch charakteristisch für einen Teil des Video-Programms der Ausstellung und ihr merkliches, bisweilen angestrengtes Bemühen um Politizität.
Dagegen steht die latente Dringlichkeit von Ruti Sela und Maayam Amir, die in ihrem Video Beyond Guilt Partygänger zu fiesem Toilettensex vor der Kamera anstiften und dabei zeigen, wie noch der letzte, zwielichtigste Freizeitwinkel von der israelischen Militärpolitik durchdrungen ist. Direkt nebenan und durch die Wände der hölzernen Projektionsbox auch immer hörbar, versucht Avi Mograbi in seinen Videos Details 2 & 3 von 2003 israelische Grenzposten zu filmen, und die Soldaten dazu zu bringen, den Grenzzaun für eine Gruppe von Schulkindern zu öffnen. Beide Arbeiten versetzen den Betrachter direkt in die Aktion und teilen zugleich ihre Handlungsunfähigkeit mit: die dispositivische Trennung von Kamera und Realität als Spiegel eines unendlichen Grenzkonflikts.
Renzo Martens' Episode 3, ein neunzigminütiges Reisetagebuch aus dem Kongo, zielt treffsicher ins Herz der Finsternis. Den Entwicklungshelfern, internationalen Fotografen und UN-Soldaten, denen er unterwegs begegnet, stellt Martens stets die richtigen Fragen: Warum prangt auf den Zeltplanen, die das Kinderhilfswerk UNICEF verteilt, das Logo der Organisation? Wem nützt der UN-Einsatz gegen Aufständische im Goldabbaugebiet? Wieviel verdient ein Fotograf an den Bildern vergewaltigter Frauen? All diese Mittler zwischen Krisenregion und Weltöffentlichkeit bezichtigt Martens der Geschäftemacherei, so weit ist seine Kritik artikuliert und scharf beobachtet. Spätestens wenn er, seinen Trägern durch sumpfiges Unterholz hinterher stapfend, Neil Youngs «A Man Needs A Maid» anstimmt, nimmt der Film dann aber eine Wendung ins offen Zynische. Von nun an geriert sich Martens als europäischer Wahnsinniger im Geiste von Werner Herzogs Aguirre und Fitzcaraldo, der mit seinem Boot in entlegene Dörfer vorstößt, um seine in Neon-Buchstaben aufleuchtende Botschaft unters Volk zu bringen. «Please Enjoy Poverty!», Armut als eine Ressource, deren Verwaltung die Ausgebeuteten an sich reißen sollten. Die unerträgliche Geste, mit der Martens einem unterernährten Kleinkind an die Rippen fasst, um einer Gruppe kongolesischer Fotografen ihr Sujet zu weisen, trennt keine kritische Distanz mehr von der Unerträglichkeit ringsum.
Die Eloquenz, mit der die drei aus Paris nach Berlin eingeladenen Videos ihre Methodik verhandeln, bestätigt den Verdacht, dass in Frankreich nach wie vor besonders intensiv über Bewegtbilder nachgedacht wird. Marie Voigniers Hearing the Shape of a Drum schlägt unvorhersehbare Seh- und Hörschneisen in die massenmediale Inszenierung des Fritzl-Prozess im niederösterreichischen St. Pölten und kommt zu einer Beschreibung von Medienperformanz, die ein initiatives Ereignis wie den Kriminalfall nur benötigt, um sich selbst an dessen Stelle zu setzen. Bernard Bazile montiert in Les Manifs Aufnahmen von Demonstrationen in Paris auf zwei im rechten Winkel zueinanderstehenden Leinwänden zum Dialog über ein Drittes: den Zuschauer, der wechselseitig von den auf ihn zuschreitenden Fronten bedrängt wird, und sich fragen muss: auf welcher Seite stehe ich? Am Rand der Ausstellung hält sich Mohammed Bourouissas Handy-Videofilm, produziert in Le Fresnoy, Frankreichs neuer Meta-Filmakademie; pixelige Blow-Ups weisen den Weg zum Bildschirm. Mit einem inhaftierten Freund tauscht er über das Mobiltelefon Gefängnisbilder. Anhand von in den Film integrierten SMS verständigen sich beide darüber, was für Einstellungen sie gerne voneinander erhalten würden. Darüber verunklart sich nicht nur die Topologie von Freiheit und Gefangenschaft, sondern auch die von Außen und Innen, Autor und Gegenstand. Das Motto der Ausstellung «was draußen wartet» findet hier eine unerwartete Antwort: es gibt kein Draußen. Hinter dieser maximal gegenwärtigen Ästhetik mobiler Dispositive bleiben Bourouissas Fotografien von Banlieue-Gangs in den Kunst-Werken leider weit zurück. Mit ihren etwa bei Delacroix entlehnten Kompositionen und Groß-Formaten unternehmen sie den Versuch einer Einschreibung der Ausgeschlossenen in die Ikonographie der französischen Staatsmythologie. Auch Nilbar Güres' Fotoserie Çirçir will mit altmeisterlichem Leinwandformat die Aufteilung des Sinnlichen zu Gunsten des Weiblichen umgestalten, doch die künstlerische Strategie erschöpft sich in beiden Fällen in der Geste des Großen, die die Grenzen inszenatorisch erneuert, statt sie zu überschreiten. Überhaupt fällt auf, wie wenig das unbewegte fotografische Bild in dieser Ausstellung als Wahrheits-Index gilt, als Dokument: Fotografie wird eingerückt in Malereidiskurse, das Video erbt deren vormalige sinnliche Evidenz.
Das alles tritt in dem Moment in den Hintergrund, da man die George Kuchar-Retrospektive in einer abseitigen Lagerhalle am Mehringdamm betritt, humorvoll und konzis kuratiert von Marc Siegel. Wir wollen Marc preisen für die Entscheidung, am Eingang das Comic-Strip Marlene looking for Jo aufzuhängen. Es etabliert an der Schwelle zum Kuchar-Kosmos eine spezifische affektive Haltung; einen suchenden, melancholisch-heiteren Blick auf neunzehn Monitore, die den Filmemacher als Selbstporträtisten, verhinderten Storm-Buster, Motel-Romantiker, Americana-Mythologen und späten, unverhofften Nachfolger Adolph Menzels zeigen. Die Videos heißen Weather Diaries, sie sind entstanden im Tornado-Alley im mittleren Westen der USA, und zeigen einen ratlosen, alternden Amerikaner im Herzen seiner Nation, wie er, statt selber Stürme zu jagen, den Storm-Busters im Fernsehen zusieht und später die Schäden registriert. Schäden nicht nur an der Außenwelt, sondern auch am eigenen, zusehends verfallenden, hinfälligen Körper: Blasen an der Ferse, ein Hämatom am Unterschenkel, Kot in allen Konsistenzen. Aus dieser Passivität, durch die banalen Fenster der Motels und Fernsehapparate hindurch, entwickelt Kuchar einen Blick auf sich und sein Land, der aus der Differenz von American Dream und Wirklichkeit ein Bild der Existenz zu geben vermag. Ein Bild, das nie im Leben ernst gemeint sein kann und doch vom Ende des Lebens her gedacht ist. «When the day arrives – and it will – to appoint an official United States cultural ambassador to Outer Space, Mr. Kuchar is the obvious choice.»
Wenn, wie Boris Groys anlässlich von zwanzig Jahren Mauerfall formulierte, das Leben in der Stagnation dem Mythos Berlin – als realisierte Utopie des «angenehmen Lebens» – am nächsten kommt, dann ist die Berlinbiennale ein Doppelagent der Auflösung dieses Mythos: sie beschleunigt die Wertsteigerung und das wirtschaftliche Wachstum, und sie bildet diesen Vorgang durch ihre eigene, zwischennutzerische Expansivität auch selbst ab, im Zweijahresrhythmus. Alle (Neu-)BerlinerInnen, die am Mythos hängen, fragen dann: Was? Schon wieder? Und hier jetzt auch? Ja, hier auch. Von einer solchen Stadt-Ausstellung zu verlangen, sie möge nicht vor der eigenen Haustür stattfinden, ist absurd; dass sie der mythischen Disposition ihrer Bewohner gegenüber nicht blind sein sollte, wäre dagegen eine begründete Forderung. Ausgerechnet Kuchar/Siegel gelingt es im Off des Motelzimmers am Mehringdamm, dieser Sehnsucht zu entsprechen. Dass das Aufsichtspersonal der Berlinbiennale mit 6 Euro pro Stunde ein Auskommen finden muss, ist demgegenüber ein besonderer Affront: Mit diesem Gehalt lässt sich in Kreuzberg schon lange keine Wohnung mehr bezahlen.