fotografie

10. März 2016

Erst Faktum, dann Datum Daidō Moriyama in der Fondation Cartier in Paris

Von Ekkehard Knörer

Die Fondation Cartier hat ihr Quartier an einer breiten Ausfallstraße in unmittelbarer Nähe zum Cimétière Montparnasse, auf dem Fußweg dahin kommt man am Verlag Albin Michel, vor allem aber an Fenster um Fenster von Bestattungsunternehmen vorbei. Ich sehe ein Stück Grasteppisch auf einem in den Raum hineinsimulierten Grab.

Auch die Fondation Cartier setzt Grün hinter Glas. Die Glasfassade sperrt ein Stück Land, das eher Brache als Park ist, für den Zutritt, nicht für den Blick. Der Brachraum gehört zum Gebäude selbst zugleich dazu und auch nicht. Es nimmt ihn und lässt ihn. Das Gebäude seinerseits ist von Glasfassaden umgrenzt, zieht also die Blicke von außen hinein und gewährt Blicke hinaus. Im ebenerdigen Ausstellungsraum (es gibt im Keller einen weiteren) sind 86 Fotografien von Daido Moriyama zu sehen, zu Dreier- und Vierergruppen gesammelt, nicht in edlen Abzügen vom Digitalmaterial, sondern aufgeblasen, verrauscht, in zu grellen Farben (ja, es sind alles Farbfotografien), Bilder, die um ihre Machart nur insofern Aufhebens machen, als sie das Snapshothafte, das ihre Art ist, nicht herunterspielen, sondern in der Diskrepanz von Größe und Qualität noch betonen. Nichts wird so monumentalisiert, eher sticht das Billige der Billigkamera stärker heraus.

Aufnahmen, die Moriyama in den letzten Jahren im Tokioter Viertel Shinjuku gemacht hat. Tiere sieht man, Echsen, und Menschen, auf Straßen. Ecken, Wege, Eingänge, Deko mit mehr oder minder erotischer Konnotation; bei Tag, bei Nacht, Autos, Schaufensterkussmund, es macht Moriyama nichts aus, als Schattenumriss, als Spiegelkörper in die Bilder zu geraten, nicht Selbstporträt-eitel, sondern matter of fact, der Fotograf ist Teil der Umgebung. Als gehörte er wie alles andere zur Stadt, sieht man auch mal den Mond hellgelb schwimmend in matt rauschendem Blau. Die Bilder sind in Gruppen zwischen metallene Stangen gespannt, man geht herum, macht sich einen Reim auf wiederkehrende Motive, oder versucht es, denn allzu nahegelegt wird das nicht, dass man sich einen Reim macht. Es ist ein Parcours, der die wilde Abfolge von Moriyamas Beutezügen durch die Gassen, Straßen, Winkel, Wege Shinjukus in ein braves Ausstellungslabyrinth hinein domestiziert. Keiner wird sich verlaufen; die Augen suchen nicht, sondern finden. Es ist evident, man kann noch sehen, dass diese Fotografien Aufnahmen und Entladungen von Bildcharakter annehmenden Energieströmen sind. Diese Energie ist in der Präsentation aber fast völlig verpufft.

Bei der extra für die Ausstellung konzipierten Diashow Dogs and Mesh Tights ist das anders. Das liegt nicht so sehr (wenn überhaupt) daran, dass die Bilder hier schwarz-weiß sind. Sondern an der Präsentation. Der Raum ist dunkel, typische separierte Museumsblackbox. Man sitzt auf beweglichen Quadern. Es gibt Sound, Straßengeräusche, Gespräche, japanische Laute, Ansagen, alles ist Stadt. Man blickt auf vier Leinwände, groß wie Menschen, nein größer. Zwei links nebeneinander, zwei rechts nebeneinander, ein schwarzer Block in der Mitte. Es dauert ein bisschen, bis ich begreife, dass der Wechsel der je nur ein paar Sekunden stehen bleibenden Bilder nicht willkürlich ist. Von links nach rechts soll man folgen. Die Bilder sind auf Tage genau datiert, vom Juli 2014 bis März 2015. Mal drei, vier Aufnahmen pro Tag, mal ein paar Tage keine. Ich begreife: ein Bildtagebuch. Der Blick wandert in Sekunden-Sakkaden von links nach rechts, springt am Ende der Reihe wie der Wagen einer Schreibmaschine (ohne pling) nach links zurück. Was er mit der schwarzen Fläche in der Mitte macht, bleibt ihm überlassen. Mein Blick ruht sich da nicht aus, ich muss den gewesenen Tagen in Bildern folgen.

Hier aber ist nun: Bewegung, fast gehetzt, aber dann doch wieder nicht. Das Auge springt dem Auge/der Hand des Fotografen hinterher. Das Datum ist dem Bild jeweils nicht aufgeprägt als Zeitstempel, sondern blendet sich eine halbe Sekunde etwa nach dem Erscheinen der Fotografie auf der Leinwand erst hinterher. Es wird vor meinen Augen gestempelt. Erst Faktum, dann Datum. Keine Ortsangaben. Das kleine Infobrevier sagt: Moriyama war in der Zeit in Tokio, Hongkong, Taipeh, Arles, Houston und Los Angeles unterwegs. Das verblüfft mich. Davon habe ich wenig erkannt. Aber die Verblüffung führt ins Zentrum dieser Fotografie. Sie dokumentiert nicht. Schon gar interessiert sie sich nicht, tausendmal nicht, für Cartier-Bressons «Moment décisif». Kaum, vielleicht letztlich gar nicht, für die Schönheit einer in der Wirklichkeit zusammenschießenden Komposition.

Moriyamas Fotografie überlässt sich vielmehr einem Reiz-Reaktions-Schema, in das der Fotograf zwischen Straße und kleinem, billigem, unaufdringlichem Kamerahandapparat als auslösender Apparat eingespannt ist. Er nimmt Energieströme auf, die Muster an einer Wand sein können, eine Bewegung, das Gesicht einer Frau, ein vergehender Schatten, Kabelstrangwirrnis, ein Junge mit Schlange, ein diamantener Mund, Schaufenster, Puppen, Duschkopf, oft ist gar nicht zu entscheiden, ob etwas aus der Welt abfotografiert ist oder schon aus einer Abfotografie. Etwas wird das Auge des Fotografen angezogen haben (das Auge als Chiffre für einen ästhetisch hoch gereizten, erfahrungssatte, offensichtlich aber immer wieder aufs Neue reizbaren Weltaufnahmeapparat), aber es ergibt sich in der Serie keine Handschrift daraus. Moriyama nötigt der Welt, die er fotografiert, keinen Stil auf, er streift sie in flüchtigen Snapshots. Nähme jedes Bild - wie es Balzac laut Nadar fürchtete – von dem, was es zeigt, eine den Gegenstand nach und nach abtragende Schicht, so wäre diese Schicht bei Moriyama hauchdünn; fast nähme sie von der Wirklichkeit nichts. Sie ist leicht, sie verlangt der Netzhaut so wenig ab wie dem Denken. Fast ist sie in dieser Diashow-Abfolge selbst wieder nur Energie. Ich gehe zurück auf die Straße, entlang am Cimétière Montparnasse. Nicht so sehr reicher an Bildern; aber reicher an Begehren, die Stadt als Energie von Bildmöglichkeiten zu erleben.