fußball

2. Juli 2012

Wischblende Fußball im Weltbild

Von Bert Rebhandl

In der Fernsehserie Seinfeld gibt es eine Folge, in der George Costanza am Rande des Tennis-Turniers in Flushing Meadows dabei gefilmt wird, wie er ein Eis isst (ein sehr großes Eis, einen Hot Fudge Sundae, nach dessen Genuss sich auch kultiviertere Menschen das Gesicht waschen müssten). Die Szene wird im Fernsehen übertragen, und George liegt wohl nicht ganz falsch, wenn er einen Zusammenhang dazu herstellt, dass seine Freundin plötzlich mit ihm Schluss gemacht hat.

Die Begebenheit fiel mir wieder ein, als ich die Diskussion um ein Bild verfolgte, das die Weltregie der Euro beim Spiel zwischen Deutschland und Italien gezeigt hatte: Eine Frau, der eine Träne aus dem Augenwinkel läuft, nachdem Italien ein Tor geschossen hat. (Hier in einer Nachrichtensendung zu sehen.) Später stellte sich heraus, dass die Regie da ein wenig geschummelt hatte: Die Aufnahme stammte aus einem anderen Zusammenhang, sie enstand vor dem Spiel während der deutschen Nationalhymne. Die Tränen zeugten also von patriotischer Rührung, nicht vom Schmerz über ein Gegentor.

Was dabei auf dem Spiel steht, ist unser Verständnis von einer Live-Übertragung. Dieses wurde bei der Euro 2012 auf eine subtile Weise verändert. Die Richtung ist dabei schon länger eindeutig abzusehen: Das Spiel wird in eine «human story» verpackt. Die Großaufnahmen der Fans betten das Spiel in ein Spektakel ein, das die Anhänger liefern, indem sie sich maskieren, bemalen, inszenieren – oder aber sogar ein echtes Gefühl zeigen. Tränen sind dafür nun einmal das deutlichste Zeichen.

Neu ist, dass die Braodcaster solche Motive inzwischen auf Vorrat sammeln, und sie an geeigneter Stelle einpassen. Damit brechen sie das Schema auf, dem eine Live-Übertragung bisher unterlag. Live heißt, dass die Bilder nach ursächlichen Kontinuitäten geschnitten werden – der Pass, dem ein Schwenk folgt, ist dafür die klassische erste Einstellungseinheit, der Umschnitt auf eine halbnahe Aufnahme des angespielten Teamkollegen eine zweite. Wenn ein Tor fällt, gehört die Jubeltraube der Spieler ebenso zum Inventar wie der Schwenk über die ausgelassenen Fans, aus denen vielleicht noch ein paar herausgehoben werden.

Die Zeitlupen unterbrechen diese Kontinuität deswegen nicht, weil sie in der Regel nach genauen Regeln mit Kontext versehen werden. Eine Großaufnahme des beteiligten Spielers «erinnert» uns gewissermaßen an die Szene, zu der wir nun einen anderen Blickwinkel und ein deutlicher lesbares Bild bekommen. Dazu gehört auch das Mittel des «replay wipes» (einer kurzen, kennzeichnenden Einblendung, die inzwischen vielfach als Werbefenster genützt wird).

Der Broadcaster der Uefa beruft sich bei der zweiten kontroversen Szene darauf, einen solchen «replay wipe» vorgeschaltet zu haben: Joachim Löw hatte bei dem Spiel Deutschland gegen Holland einem Balljungen den Ball aus den Armen gestupst, ein harmloser Vorfall, der einen «menschlichen» Bundestrainer zeigte, wodurch die Szene für die Übertragung interessant wurde. Sie wurde während des Spiels gewissermaßen nachgetragen.

Ich halte den ersten Vorfall für gewichtiger als den zweiten. Die meisten Fans machen sich noch immer viel zu wenig bewusst, in welchem Ausmaß sie mittlerweile selbst zum Gegenstand des Kamerainteresses im Stadion geworden sind. Jeder kann in jedem Moment in Großaufnahme ins Bild rücken, beim Jubeln genauso wie beim Nasenbohren, bei einem Kuss wie bei einem Nickerchen, das einem Fan mit entsprechender «Vorglühung» ja auch einmal vorkommen kann. Dass alle diese Szenen zu «stock footage» werden können, das nach Belieben bestimmten Ereignissen appliziert werden kann, ist das Element Inszenierung, das derzeit Gefahr läuft, sich zu verselbständigen.

Zumal bei diesem Turnier deutlicher denn je wurde, dass die Regie zunehmend Schwierigkeiten hat, der Ereignisdichte der Spiele zu folgen. Je mehr dann auch noch Folklore von den Rängen dazu kommt, desto weniger wird das Spiel in seiner anspruchsvollen Komplexität zu sehen sein. Das kann nicht im Interesse der Fans sein.