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26. April 2011

Stumpfes Schmachten und politische Intervention Anmerkungen zu arabischen Musikvideos

Von Irit Neidhardt

Unablässig flimmern sie über die Flatscreens, man kann ihnen schwer entrinnen, nicht im privaten Raum und vieler Orts auch kaum im öffentlichen. Musikvideos sind in der arabischen Welt allgegenwärtig. Die meisten werden im Libanon produziert und über die transnationalen Satellitensender ausgestrahlt, allen voran dem saudischen Rotana Music. Sie erinnern häufig an den Schulmädchenreport und stimmen wenig mit dem Bild überein, das die Medien hierzulande von der arabischen Welt im Allgemeinen und von arabischen Frauen im Besonderen zeichnen.

I. Körper als Massenware

Die libanesische Sängerin Haifa Wehbe zum Beispiel zählt derzeit zu den großen Stars der Popmusik, wobei es mehr ihr Sexappeal und ihre unzähligen Schönheitsoperationen als ihre Musik sind, die sie im Gespräch und auf dem Markt halten. Schönheitsoperationen sind in vielen arabischen Ländern im wahrsten Sinne des Wortes an jeder Straßenecke zu bekommen und meist in jeder Hinsicht billig; dennoch sind sie äußerst populär. Auch wenn die Masse an Operationen von Haifa Wehbe vielen mittlerweile als übertrieben gilt und Stoff für Witze liefert, gilt sie als besonders sexy. Ein Attribut, das schmeichelt. Der Sänger Shaggy hat den Titel seines internationalen Hits «Sexy Lady» zu Ehren von Haifa Wehbe’s Gastauftritt bei seinem großen Open Air Konzert in Kairo 2007 sogleich in «Sexy Haifa» umbenannt.

Das Video zu Haifa’s Song «Mush Adra Stanna» («Ich kann nicht länger warten») ist relativ repräsentativ für die musikalische Massenware auf arabischen Bildschirmen und gibt eine Vorstellung davon, welche Frauenbilder dieser bedeutende Bereich der arabischen Medienindustrie produziert und verbreitet. Auf den ersten Blick kann der Clip getrost als nuttig zusammengefasst werden, vor allem was die aufreizenden liegenden Posen und die Kameraführung angeht, wenn Wehbe singt: «Ich kann keinen Tag länger auf dich warten. Komm zurück, ich sehne mich nach dir. Mein Liebster, ich träume davon, dich für einen Moment zu treffen. Oh du, der mir die Hoffnung nimmt, ich habe Zeit. Geliebter, dies ist das letzte Stöhnen, wir werden hier zusammen bleiben, du warst lange genug weg von mir, sieh wie viele Jahre ich ohne Trost und Sicherheit war.»

Beim zweiten Hinsehen und Zuhören fällt die Schere zwischen Text und Bild auf. Während Wehbe schmachtend und sich des Massenpublikums sehr bewusst in die Kamera provoziert, besingt sie offensichtlich einen sehr konkreten Mann und wünscht sich das Ende der jahrelangen Trennung herbei. Schätzungen zu Folge leben im Libanon derzeit sieben Mal mehr Frauen als Männer, was bei den jüngeren unter ihnen eine verfrühte Torschlusspanik auslöst und für Verheirate bedeutet, oft über Jahre fern vom Ehemann zu leben. Zahllose libanesische Männer versorgen ihre Familien über Arbeit im Ausland. Vor diesem Hintergrund kann auch die Szene gesehen werden, in der Wehbe, wenn sie, sexy wie sie nun mal ist, auf der Straße von Männern, denen sie sich offensichtlich verweigert, angegriffen wird und Frauen ihr Warnungen und Solidarität zurufen. Wehbe selbst ist mit dem ägyptischen Geschäftsmann Ahmad Abu Hashima verheiratet und hat erst jüngst Gerüchte dementiert, dass sie zu ihm in die USA übersiedeln würde. Sie bleibt dem Libanon also als eine der zahlreichen Strohwitwen erhalten.

Kennengelernt haben sich die beiden auf einem Konzert des ägyptischen Sängers Amr Diab, der hier als Beispiel eines männlichen Megastars dienen soll. In «Leily Nahary» («Meine Nacht und mein Tag») besingt Diab seine Liebe, lockt die Auserwählte unter den vielen Frauen, die um ihn und für ihn tanzen und weiß nicht recht, wie er sie ansprechen soll. Die Schüchternheit, die in den Worten zum Ausdruck kommt, wird in den Bildern teilweise überwunden. So wie bei Wehbe-Clips der Silikonbusen ein wichtiges Element der Bildgestaltung ist, ist es bei Diab der perfekt trainierte Bizeps.

Dass jene Video-Figuren gewöhnliche Frauen und Männer ebenso wenig repräsentieren, wie ihre westlichen Äquivalente, versteht sich von selbst. Der Einfluss, bzw. die Imitation von US-amerikanischen kommerziellen Musikvideos in diesen Clips ist nicht zu verkennen. Die Musikerin, bzw. der Musiker steht mit dem Körper und allen Implikationen seines Sexappeals im Zentrum der Aufmerksamkeit.

II. Anspruchsvollere Massenware

Nadine Labaki, in Deutschland am ehesten als Regisseurin und Hauptdarstellerin des Spielfilms Caramel (Sukr Banat, Libanon/Frankreich 2006) bekannt, gehört zu den erfolgreichsten Musikvideoregisseurinnen und –regisseuren der arabischen Welt. Sie ist vor allem mit den Clips für Popstar Nancy Ajram, die manche als arabische Britney Spears bezeichnen, bekannt geworden. Ihre Videos gelten als künstlerisch wertvoll innerhalb des Mainstream, da sie kleine Geschichten erzählen. Labaki selbst unterscheidet, wie sie auf einem Podium während des Ayam Beirut al-Cinemay’ia Festivals in Beirut im Oktober 2008 sagte, zwischen ihrer Arbeit für die Musikindustrie und ihrer künstlerischen Tätigkeit als Kinoregisseurin. Dies unterstreicht, dass ihre Arbeiten zwar als besonders im Kontext des Kommerzes gesehen werden können, aber nicht als Kunst gedacht sind.

Nancy Ajram’s Hit «Ah wa Nouss» («Ich meine es ernst») war über Monate omnipräsent, nicht nur in arabischen Ländern; in Auszügen war er in Deutschland vielleicht mal bei einer Reportage aus der arabischen Region im Hintergrund zu hören oder er dröhnte aus einem wartenden Auto an der Ampel, eventuell auch aus dem offenen Fenster der Nachbarn.

Das Lied erzählt von einer Frau, die ihren Mann aufgrund seiner ewigen Beleidigungen verlassen hat. Die Bedingung für ihre Rückkehr ist, dass er sich beruhigt und Probleme vernünftig angeht. Labaki erzählt die Geschichte wie einen Flirt zwischen der jungen Frau und einem Verehrer und lässt diese im Milieu der armen vom Land zugezogenen Bevölkerung Kairos in ihren spartanischen Behausungen auf den Dächern der Stadt sowie im ländlichen Umland spielen. Die Inszenierung und die Fremdheit Ajrams in diesem sozialen Umfeld sind dabei offensichtlich und grenzen an die Ironisierung jener gesellschaftlichen Klasse. In anderen Clips sowie in der Werbung ist Nancy Ajram meist in der oberen Gesellschaftsschicht, wenn nicht unter den Superreichen zu sehen, z.B. in dem Clip «Inta eh?» («Was ist los mit dir?»), bei dem Labaki ebenfalls Regie führte, oder auf den Werbeplakaten für Kosmetik und Juwelen, auf denen sie riesengroß über zahlreichen Straßenzügen hängt.

Für Yuri Mrakadi’s Hit «Behabak Moot» («Ich bin unsterblich in dich verliebt») hat Labaki eine historische Kulisse der urbanen oberen Mittelschicht gewählt, nämlich einen Musikclub aus den 1920er/30er Jahren, in dem der Sänger ein rein weibliches Publikum in langen Abendkleidern und wassergewellten Haaren verzückt und an den Rand der Ohnmacht treibt. Ähnlich wie im Video von Amr Diab hat auch Mrakadi nicht viel mehr zu sagen, als dass er sich nach der besungenen Frau verzehrt und sie nicht ahnen kann, wie sehr sein Herz für sie schlägt. Auch in diesem Clip wird der eine Mann von einer großen Menge von Frauen begehrt und steht absolut im Mittelpunkt des Geschehens. In Labakis Inszenierung jedoch ist eine gewisse Ironisierung der Situation nicht zu übersehen, etwa wenn der Sänger sein Jackett aufreizend über die Schultern zieht und dabei keck in die Menge sieht, bevor er das Kleidungsstück auszieht und in die kreischende Menge schleudert; oder wenn eine der Damen auf die Bühne stürmt und vom Ordnungspersonal heruntergetragen werden muss. Auch wenn sich Labaki‘s Videos ästhetisch von den beiden ersten Clips unterscheiden, führen sie nicht über das Zuschaustellen von Sexsymbolen, bzw. die Stimulierung des Schmachtens hinaus.

III. Andersgeartete Massenware

In manchen Clips werden diese Muster jedoch gebrochen. Die beim ägyptischen Musiklabel Fame Music unter Vertrag stehende Mai Selim träumt in fast allen ihren Videos vom Märchenprinzen und davon begehrt zu werden. In «Saktaloh» («Ich sag‘ ihm nichts») jedoch malt sie sich den perfekten Mord aus.

Die Hausfrau Selim bereitet dem Gatten den Tee und raucht seine Pfeife an, während er vorm Fernseher hängt. Sie mischt noch etwas Gift in den Tee und verbündet sich in ihrem nun einsetzenden Gesang mit dem Publikum. Sie werde ihn in dem Glauben lassen, von nichts zu wissen. Dabei streicht sie über sein Oberarm-Tattoo, auf dem eine überdurchschnittlich lange Liste mit Frauennamen steht. Nachdem das Gift anfängt zu wirken, packt sie die Koffer, TV und den angeschlagenen Mann und fährt mit ihm ans Meer, wo das Fernsehkabel ihm durch Strangulieren den Garaus macht. Die Spurensicherung findet den Toten auf dem Boden der ausgeräumten Wohnung. Auch wenn’s alles nur ein Traum war.

IV. Populäres Medium Musikfilm

Die Idee der Videoclips kommt aus dem Westen. In der arabischen Welt war der Musikfilm historisch das erfolgreichste Genre der Filmgeschichte. Ikonen des klassisch arabischen Gesangs wie Oum Kalthoum, Asmahan, Farid El Atrash, Mohamad Abdel Wahab oder Halim Abdel Hafez waren ihre Stars. Sie waren es, die das Medium Film populär machten und ihre eigene Popularität hing im Gegenzug mitunter vom Film ab. Durchaus vergleichbar mit dem Videoclip ist die Handlung im Musikfilm auf den Star hin geschrieben, die Gesangseinlagen sind integraler Bestandteil des Drehbuchs und der Erzählung.

Seit der Produktion des ersten Tonfilms in Ägypten im Jahr 1931 und bis 1961 waren ein Drittel der ägyptischen Filmproduktion, 370 Arbeiten, Musikfilme. In den 1970er Jahren nahm der Erfolg dieses Genres ab. Inwieweit dies mit der Verbreitung des Fernsehens und der Übertragung von Konzerten und Musikveranstaltungen ins häusliche Wohnzimmer zusammenhängt muss an anderer Stelle beantwortet werden.

Manche Gesangssequenzen jener Filmklassiker werden heute als Videoclips im TV ausgestrahlt - unter anderem auf dem bereits erwähnten Kanal Rotana Music - und auf youtube von einem Millionenpublikum gesehen. Sie werden im Fernsehen mit SMS-Grüßen versehen und auf youtube mit Kommentaren, wie jedes zeitgenössische Video auch.

Farid El Atrash (1915-74) komponierte die Musik zu den rund 30 Kinofilmen, in denen er auch als Darsteller mitwirkte. Sie reichte von klassischer Bauchtanzmusik, wie dem nach wie vor beliebten Lied «Noura» aus dem Film Lahan Hubi (Das Lied meines Herzens, 1954) bis zu Stücken versetzt mit Wiener Walzer-Elementen, so z.B.  «Layali», von Atrash’s Schwester Asmahan kurz vor deren frühen Tod in dem Film Gharam wa Intiqam (Liebe und Rache, 1944) präsentiert.

Bei den Musikfilmen ist es üblich, dass die Lieder nicht als Hintergrundmusik laufen. Sie werden auf einer Bühne dargeboten, wie in den beiden hier genannten Beispielen oder die Szenen sind so geschrieben, dass alle Figuren ihre aktuelle Tätigkeit unterbrechen, um der Musik zu lauschen und der Musikerin bzw. dem Musiker die gebührende Aufmerksamkeit zu geben.

Obwohl klassische arabische Musik nach wie vor sehr geschätzt und die Clips der Spielfilme auf den Musikvideo-Sendern gleichwertig mit aktueller Massenware ausgestrahlt werden, hat sie den Grad der Popularität, den sie bis in die 1970er Jahre genossen hat verloren. Die Libanesin Fairuz ist die letzte noch lebende Ikone.

V. Opposition zum Kommerz

Rima Khcheich trat, wie Nancy Ajram, bereits als Kind im libanesischen Fernsehen auf und hat später, anders als Ajram, klassischen arabischen Gesang studiert. Sie unterrichtet am libanesischen Nationalkonservatorium und ist unter anderem mit dem Komponisten und Oud-Spieler Simon Shaheen, dem Trompeter Toufic Farroukh und der niederländisch-libanesisch-irakischen Band Orient Express aufgetreten, die alle auf ihre Weise klassische arabische Musik und Jazz miteinander verbinden. Darüber hinaus singt sie in zahlreichen libanesischen Autorenfilmen, in denen sie teilweise auch auftritt, wie in Tango of Yearning (Mohamed Soueid, Libanon 1998) oder Terra Incognita (Ghassan Salhab, Libanon/Frankreich 2002).

2006 hat sie ihr erstes Soloalbum «Yalalalli» herausgegeben, auf dem sie klassische arabische Lieder sowie neue Kompositionen präsentiert. Khcheich versteht ihre Musik auch «als Zeichen der Rebellion gegen die Diktate des kommerziellen Musikmarktes». Einen Videoclip hat die Künstlerin, die ihre Alben selbst produziert, 2009 zu dem Stück «Haflat Taraf« («Verrückte Party») verwirklichen können.  Das Stück bezieht sich auf die bürgerkriegsähnlichen Eruptionen im Libanon 2007 und die Selbstherrlichkeit der herrschenden Klasse. Musikalisch gehört «Haflat Taraf» zu Khcheich’s eingängigeren Liedern und bietet sich vor allem deshalb für einen Videoclip an, dessen Zweck die Vermarktung der CD ist.

Das no-budget Video, das Khcheich zusammen mit Freundinnen und Freunden aus der kleinen und vibrierenden Kunstszene in Beirut erstellt hat, wurde über einen Zeitraum von mehreren Wochen drei bis vier Mal täglich im libanesischen TV ausgestrahlt und damit verschwindend selten im Vergleich zu den Clips von Ajram, Wehbe und Co.:

Wie in den Videos der Massenmusikware hat auch der Clip von «Haflat Taraf» ein einziges Motiv, nämlich die Ikonisierung des Stars. Wörtlich genommen wird diese bei Khcheich jedoch zur Anklage. Die Überhöhung der Sängerin im Kontrast zum gesichtslosen Fußvolk kann auch als pointierter Kommentar zur führenden politischen Schicht, die im Libanon deckungsgleich mit dem Großkapital ist, gesehen werden und ist damit ebenso eine Stellungnahme zum Kommerz.

VI. Opposition zur Besatzung

Explizit politische Musikvideos sind selten in der arabischen Welt und werden in aller Regel nicht im Fernsehen ausgestrahlt, sondern vor allem in der eigenen Community konsumiert; teilweise kommen sie im Ausland zur Geltung. Die Gruppe DAM um Leadsänger Tamer Nafar ist die älteste palästinensische Hip Hop Gruppe. Ihr erstes Album heißt «Tamer Nafar. Awal Rayar Araby min Arab al-48» («Der erste arabische Rap von 48er-Arabern», (also Palästinensern, die im israelischen Staatsgebiet, dem 1948 verlorenen Gebiet, leben)) und ist, bei selbstgebrannten und dann raubkopierten CDs nicht ungewöhnlich, keinem genauen Erscheinungsjahr zuzuordnen, es war ca. 2004.

Die Gruppe rappt auf Arabisch, Englisch und Hebräisch. Seit Ausbruch der Zweiten Intifada im Herbst 2000, an der sich auch Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem sogenannten 48er-Gebiet mit Demonstrationen beteiligt haben, und dem 11.September 2001 wird die palästinensische Bevölkerung innerhalb Israels auch von Regierungsseite wieder häufiger als terroristisch bezeichnet. Der Rap «Min Irhabi?» («Wer ist der Terrorist?») handelt von diesem Vorwurf sowie Staatsterrorismus und hat DAM unter jungen Palästinenserinnen und Palästinensern in Israel und den von ihm besetzten Gebieten, aber auch innerhalb palästinensischer Gruppen in der Diaspora sehr bekannt gemacht.
Das Video ist ein Zusammenschnitt von Nachrichtenbildern, eine Autorenschaft gibt es nicht. Zu sehen ist es auf youtube; im Vimeo-Account von DAM taucht der Clip nicht auf, dort veröffentlicht die Band vor allem Mitschnitte von internationalen Konzertauftritten.

Zusammen mit dem prominenten israelischen Soft-Rocker Aviv Gefen hat die Band einen Video zu ihrem gemeinsamen hebräisch-sprachigen Song „Innocent Criminals“ hergestellt, der sich in seiner Machart komplett von «Min Irhabi?» unterscheidet und im israelischen Fernsehen ausgestrahlt wurde.
Der Clip «Min Irhabi?» entspricht vielleicht am ehesten europäischen Publikumserwartungen an arabische Musikvideos. Innerhalb der arabischen Welt ist er jedoch völlig marginalisiert und in keinster Weise repräsentativ.

VII. Opposition zur Romantik

Mashrou‘ Leila sind die Shooting Stars des Libanon. 2008 sind sie aus einem Workshop der Fakultät für Architektur und Design an der Amerikanischen Universität Beirut hervorgegangen. Der Name heißt so viel wie «Übernacht-Projekt» und die Formation der sieben Musikerinnen und Musiker versteht sich als Kollektiv und Experiment. Ihre Musik ist eine Melange aus Independent-Rock und arabischen Rhythmen, die Texte sind sozialkritisch und befassen sich mit Themen, die «vom Mainstream nicht behandelt werden», wie es der Wikipedia-Artikel über die Gruppe ausdrückt. Damit trifft die Gruppe auf den Nerv vieler 20 bis End-30-Jähriger im Libanon.

Das Video zu Mashrou‘ Leila’s erster Single «Raksit Leila» («Leila’s Tanz») ist ein Liebeslied für eine Aubergine und besticht durch seinen Charme des Selbstgemachten und den humorvollen Blick auf Beirut. Auch ein Making-Of des 4:39 min Clips wird direkt mit geliefert, es kommt auf 6:10 min und führt in die Produktionsgeheimnisse ein.

Etwas mehr als ein Jahr nach ihrem Start hat die Gruppe das Video «Fasateen» («Kleide»r) herausgebracht, das mit Blick auf potentielle TV-Ausstrahlungen bereits teurer produziert wurde. Wie schon beim «Raksit Leila»-Clip ist sämtliche Schrift englisch (bei einem Vortrag zur alternativen Musikszene Beiruts hat der Radio DJ Ziad Nawfal im April 2011 eine Videofassung von «Raksit Leila» mit arabischen Credits gezeigt, die jedoch im Netz nicht zu finden ist), die Stabangaben sind professionell und machen den Eindruck, dass der «Underground», ein Label, das im Zusammenhang mit der Band häufig benutzt wird, schnell zum Vermarktungs-Tool werden könnte.

«Fasateen» dekonstruiert zum einen spritzig die Institution Ehe und Symbole romantischer Liebe, zum anderen thematisiert es ökonomische und konfessionelle Schranken junger Paare: «Erinnerst du, dass du mich heiraten wolltest, obwohl ich weder Geld noch Haus hatte? Erinnerst du, dass du mich liebtest, obwohl ich keiner von den deinen war? Erinnerst du, dass wir so waren?»

Im Libanon gibt es keine Zivilehe, dementsprechend sind interkonfessionelle Ehen (18 Konfessionen sind im Land offiziell anerkannt) sehr selten und beinhalten immer einen Aspekt von Protest. «Keiner von den deinen» bezieht sich auf eine andere Konfession.

Vor 15 Jahren wäre zumindest der zweite Clip sicher als politisch bezeichnet worden, heute sagt man, er befasse sich mit sozialen Themen. Das hat zum einen mit dem grundsätzlichen Wandel des Begriffs «politisch» zu tun, zum anderen mit dem Fakt, dass in Ländern mit offizieller Zensur, wie z.B. dem Libanon, politische Themen eher unter die Lupe genommen werden als soziale. Explizit politische Statements sind jedoch in beiden Videos zu finden: derzeit sind es die Bärte, die im Libanon linke politische Einstellungen in Allgemeinen und Spezifika wie trotzkistisch, marxistisch oder allgemein linkspolitisch im Besonderen ausdrücken.

VIII. Medienintervention

Was Beirut für den Nahen Osten ist, ist Casablanca für Nordafrika: eine Metropole künstlerischen Schaffens mit einer pulsierenden Musik- und Clubszene.  Auch das Goethe Institut Casablanca/Rabat hat 2008 begonnen, mit Filmstudierenden aus Deutschland und Marokko Musikvideos zu produzieren. In zehntägigen Workshops kommen Studierende aus beiden Ländern zusammen, um die Clips unter deutscher Anleitung zu entwickeln und herzustellen.

Man ist erstaunt wenn man nach Marokko kommt und eine überraschend lebendige und vielfältige Musikszene vorfindet: Es gibt viele gute Musikbands und Strukturen wie «L’Boulevard», die diese unterstützen und in ihrer musikalischen Karriere fördern. Schaut man sich allerdings die Musikvideos an, sieht man fast immer nur stereotype Versatzstücke: Rapper mit Basketballmütze, dickem Auto, schönen Frauen… Wäre es möglich, dass die Musik- und Kreativszene dieses «Format» noch nicht für sich entdeckt hat? Diese Frage bildete den Ausgangspunkt und Anlass für den bilateralen Musikvideoworkshop, so Nadine Müseler vom Goethe-Institut Rabat/Casablanca, Initiatorin der Workshops, auf der Institutswebsite.

Der Mainstream ist immer und überall weitaus sichtbarer als die alternative Kultur. Um diese zu finden und wahrnehmen zu können, muss man ein Land kennen, mit seinen Strukturen vertraut sein und die Sprache sprechen. Der arabische Mainstream, Videos aus dem Hause Haifa Wehbe Productions, Kreationen von Nadine Labaki oder die im Zitat genannten «Rapper mit Basketballmütze und dicken Autos», entsprechen unserem Klischee von der arabischen Welt so wenig und sind westlichen Videoclips so ähnlich, dass sie durchaus schockieren können.

Historisch war es die europäische Intervention in Form von Kolonialismus, die in Afrika und dem Nahen Osten eine Obsession für alles, was als modern angesehen wird hervorgebracht hat. Die koloniale Mission‚ «den Wilden die Zivilisation zu bringen» hat bei den Kolonialisierten die Vorstellung ausgelöst, eine Adaption oder Imitation der westlichen Moderne könne Gleichwertigkeit und das Ende von Unterdrückung bringen. Heute unterstützen Repräsentanten westlicher Staaten die authentische Kultur jener Länder, wobei der Begriff «authentisch» nicht definiert ist.

Das Goethe Institut Casablanca/Rabat hat bisher zwei Videoclips produziert «´Am jdid» von Azul Vibrations und «La Base» von Barry. Beide unterscheiden sich in den Bildern, der politischen Explizität sowie im Stil grundlegend von allen bisher gezeigten und besprochenen Clips aus rein arabischer Produktion. Motive wie ein mit Henna bemalter Mädchenarm, das Putzen der traditionellen Messingtabletts, ein Minarett, dreckige Schuhe, in denen eine Gruppe Kinder einen Ball in einer Nylontüte über das Straßenpflaster kickt, aber auch die Musikinstrumente im Anschnitt und in Großaufnahme bestimmen, neben den Musikern selbst, die Bildebene beider Videos. Der Außenraum, zerfallende Häuser, die Dächer der Stadt oder das Abstellgleis eines Güterbahnhofs werden zu einer Figur der Clips. Die Schnitte wirken sehr viel schneller als in den arabischen Produktionen, die Kameraperspektiven sind vielseitiger und die Videos filmisch abstrakter.

Während in den arabischen Produktionen der Star oder die Band im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, rückt das Individuum in den deutsch-marokkanischen Videos in den Hintergrund, ohne dass seine Bedeutung jedoch geschwächt wird. In «La Base» singen Gruppen von Kindern auf der Straße den Refrain und wiegen sich im Rhythmus des Liedes, wodurch die Unterstützung für die Ideen des Sängers suggeriert wird. «La Base» befasst sich mit der Frage nach den Grundwerten, die jungen Menschen in Marokko mitgegeben werden sollen und prangert an einer Stelle explizit die Korruption im Polizeiapparat an. Diese Szene wurde für die Fernsehausstrahlung in Marokko zensiert.

Schluss

Musikvideos in der arabischen Welt differenzieren sich in den letzten Jahren immer weiter aus. Anders als in Deutschland gibt es zahlreiche Musikvideokanäle, die ein zunehmend breites Spektrum an Videos veröffentlichen, wobei die kommerziellsten Clips naturgemäß die beliebtesten und damit die meist gesendeten sind. Sie werden in allen gesellschaftlichen Schichten und Gruppen, auch in sehr religiösen Familien gesehen; am wenigsten Zuspruch finden sie unter den Intellektuellen.
Aufgrund der Wirtschaftsgeschichte der Region ist die Musikvideoindustrie traditionell libanesisch dominiert, vor allem was die Herstellung der Clips angeht. (Im Mainstream wird traditionell im ägyptischen Dialekt gesungen.)

Frauen sind sowohl als Sängerinnen als auch als Regisseurinnen und Produzentinnen relativ stark in der Branche vertreten, sowohl in dem äußerst gut bezahlten kommerziellen als auch im low- und no-budget Bereich. Auch wenn sie in den Mainstreamproduktionen vor der Kamera extrem sexistische und meist eindimensionale Rollenbilder vertreten, haben sie hinter den Kulissen einige Macht – unter anderem bei der Perpetuierung eben dieser Rollenbilder, die sie gleichzeitig durch ihre eigenen Biographien wiederum aufbrechen.

Da es in arabischen Musikvideos immer einen Abspann gibt, sind ihre Macherinnen und Macher bekannt und können ebenso zu Celebrities werden wie die Musikerinnen und Musiker, wie das Beispiel von Nadine Labaki zeigt. In alternativen Videos, aber z.T. auch im Kommerz, spielt die Auseinandersetzung mit der sozialen, politischen und ökonomischen Fragen eine große Rolle, wobei politische Themen, außer im Falle von Palästina oder der europäischen Medienintervention nicht direkt angesprochen werden.

Durch den Vergleich von den arabischen Videos und den unter deutscher Anleitung entstandenen Produktionen stellen sich Fragen sowohl nach Fremd- und Selbstbildern wie nach Möglichkeiten und Grenzen von (kultureller) Medienintervention. Besonders auffällig ist die Abwesenheit arabischer Frauen in den vom Goethe Institut produzierten Clips.