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1. August 2010

Konfiguration Kino (Futurezone) Wie das Netz das Kino verändert: Archivierung von fünf in der Futurezone erschienenen Texten

Von Ekkehard Knörer

I. Konfiguration Kino

Wie geht's dem Kino in Zeiten des Internets? Das soll die einfache Frage sein, die ich in der Folge äußerst skizzenhaft zu beantworten versuche. In der Praxis eher als in der Theorie, vor allem in den folgenden Wochen. Heute soll es jedoch erst einmal darum gehen zu fragen, wie die Erschütterungen zu begreifen sind, die die Digitalisierung und insbesondere das Internet für das Kino, wie wir es kannten, bedeuten. Die Frageperspektive soll ausdrücklich die desjenigen sein, der das Kino als sozialen Raum einer technischen Praxis zu lieben gelernt hat und der zugleich von den Möglichkeiten, die das Internet bietet, begeistert ist.

Bilderstürmerische Netzeuphorie erscheint mir, heißt das, ebenso wenig ergiebig wie rückwärtsgewandte Kinonostalgie. Die Frage, die James Quandt, einer der geachtetsten Filmkuratoren der Welt, jüngst in polemischer Absicht gestellt hat, mag dabei als Motto dienen. Sie ist eine Reaktion auf die Netzbegeisterung insbesondere von Adrian Martin und Jonathan Rosenbaum in ihrem Buch Movie Mutations von 2003.

Programmatisch hieß es da: «Der Band zeigt, dass die Kunstform bei bester Gesundheit ist und sich noch immer in neue und unerwartete Richtungen entwickelt. Im Einbezug transnationaler Diskussionen und Debatten macht das Buch deutlich, warum die Idee der Cinephilie heute nicht weniger relevant ist als zuvor.» Quandt formuliert seine Skepsis wie folgt: «Ist die ‹neue Cinephilie›, diese Netflix- und YouTube-grande-bouffe der Bilder, in der Costa, Straub und Baillie nun in Nunavut oder Kappadokien verfügbar sind und jederzeit mit Cinephilen nah und fern diskutiert werden können, das Wunder eines 'offenen Museums' demokratischer Kultur oder eine falsche Feier des Allesfressens und des Inauthentischen?»

Ich vermute: Die Alternative ist falsch. Beziehungsweise: Sie geht von Begriffen und Kategorien aus, die neuere Sachverhalte nicht mehr recht greifen. Dazu aber später mehr. Beginnen wir lieber mit einer so einfachen wie dramatisch klingenden Feststellung: Das Kino ist in Auflösung begriffen. Oder, etwas präziser gesagt: Die klassische «Konfiguration Kino» ist es, nämlich als Vorführung von Bewegtbildern am speziell für sie vorgesehenen und erbauten Ort.

Weniger denn je versteht sich, was das Medium ausmacht, heute von selbst: Nicht die ästhetische Form (zwischen Sekundenclips auf Videoplattformen und dem milliardenschweren 3-D-Schinken Avatar), nicht das Trägermedium (Server, MAZ, Film, DVD, Festplatte etc.), nicht die Art und der Ort der Vorführung (Kinoprojektion, Fernsehen, Computerbildschirm, Museumsräume etc.) und nicht die Sozialform seiner Betrachtung (Masse, Vereinzelung, zu Hause, unterwegs, auf der Couch, im Sessel, am Schreibtisch, im Zug etc.).

In alle Richtungen, die man sich denken kann, löst sich so der Verbund, der Kino hieß, in andere Konfigurationen auf. Die Bilder des «Kinos» diffundieren, verteilen sich, multiplizieren sich, das Kino begegnet dem Publikum längst an mehr als nur einem für ihn spezifischen Ort. Und nur auf den ersten Blick wird man sagen können, so neu sei diese Krise des Kinos ja wohl nicht – schließlich vagabundieren die Bewegtbilder seit Jahrzehnten auf unterschiedlichen Kanälen durch die Welt.

Das ist nicht falsch, aber es scheint mir doch, dass die «Konfiguration Kino» bis zum Anbruch des Digitalen eine für lange Zeit sehr stabile Form gefunden hatte. Zwar reichte deren Goldenes Zeitalter nur ungefähr von den 20ern bis in die 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Mit dem Fernsehen – in den 50ern – und für alle Haushalte verfügbaren Aufzeichnungsmedien – in den 80ern – trat das Kino in ein Silbernes Zeitalter ein, ohne seine wesentlichen Bestimmungen zu verändern.

Zu diesen gehörte, dass sich das Trägermedium (Film), seine Vorführgestalt (Projektion) und seine Rezeption (massenhaftes Betrachten in großen öffentlichen Räumen) regelmäßig am eigens für sie bestimmten Ort in riesigen Sälen und eigens erbauten Palästen trafen. Das Fernsehen und die Videokassette als frühere Diffusionsformen des Kinos ließen sich noch als Hilfsmedien (minderwertige Abspielstation bzw. Ersatzträger) begreifen, die für – auch institutionalisierte – Zugänglichkeit sorgten, an der Konfiguration selbst und den an sie gebundenen Institutionen und Diskursen aber qualitativ wenig änderten.

Heute aber haben die einstigen Nebenformen nicht nur quantitativ die Führung übernommen. Der Bewegtbildkonsum findet in seiner Masse längst nicht mehr vorwiegend in eigens für ihn geschaffenen Räumen statt. Noch allgemeiner gesagt: Das Bewegtbild ist nicht mehr an einen bestimmten Ort, an ein bestimmtes Trägermedium, auch nicht mehr an Vorführzeiten gebunden. Es ist inzwischen selbst beinahe unendlich beweglich. Hier wie stets gilt jedoch: Wer technische Neuerungen als bloße Veränderungen materialer Mechanismen begreift, begreift nichts. Zur Technik gehört ihre gesellschaftliche Aneignung in Praktiken und Diskursen. Wo eine neue Technik nicht angeeignet wird, bewirkt sie schlicht: nichts. Zur Auflösung, in die die «Konfiguration Kino» geraten ist, gehört der Aufruhr jener sozialen Praktiken und Diskurse, die sie ausmachen.

Wie jede Kunst hat auch die «Konfiguration Kino» (Rezeptions-)Formen der Liebe hervorgebracht, die das technisch Bedingte als unbedingt notwendig fetischisieren und damit die distinktive Produktion von Gemeinschaftserfahrung – und daran angeschlossene Formen der Reflexion und Kritik der Kunstrezeption und damit einen Diskurs – erst ermöglichen. Es gab zahlreiche Vorgängerformen, aber fürs Kino hieß diese Liebe seit den 50er Jahren Cinephilie. Die klassische Cinephilie, die die Rezeption des Kinos für die Begeisterten auf Jahrzehnte geprägt hat, liebt(e) den Besuch der Kinemathek, sie liebt(e) die «realistische» Ontologie des Aufzeichnungsbilds ebenso wie die Anmutungsqualität der chemischen Emulsion, sie liebt(e) die Projektion auf der Leinwand, und natürlich kommunizierte sie in begeisterter Rede den Ausschluss anders Begeisterter unentwegt mit.

Wie jede Gemeinschaft bildete die der Cinephilen Rituale und Codes aus, zu denen die Wertschätzung für das Entdecken des Unbekannten wie das Bilden von Kanons gleichermaßen gehörten. Und sie erfand sich (meist ortsgebundene) Institutionen, die das Entdecken des Neuen, die Kanonisierung des Anerkannten und die Kommunikation und Zusammenkunft Gleichgesinnter verbanden: Kinematheken, Verlagsreihen, Zeitschriften, Festivals und Studiengänge an Universitäten.

Der industriellen Vermarktung durch das kommerzielle Verleihsystem stand dabei ein eigener «Markt» gegenüber, der in kuratorischer Praxis Verfügbarkeiten und Ein- und Ausschlüsse regulierte (Ein- und Ausschlüsse von Personen, aber auch Formen, damit auch die zusehends schwieriger werdende Abgrenzung von anderen Künsten – insbesondere der bildenden Kunst). Und er tat das, was beinahe wichtiger ist, mit einer Verbindlichkeit, die über die engeren Zirkel der cinephil Vergemeinschafteten hinaus starke Wirkungen zeitigte. Die Behauptung der französischen Cahiers-Generation etwa, es ließen sich im Industriekino Hollywoods Autorenhandschriften erkennen, erschütterte die Vorstellung davon, was Kino ist, auf der ganzen Welt (nicht zuletzt in Hollywood selbst).

Dieser kurze Exkurs zur Cinephilie ist alles andere als ein Abweg beim Versuch, über die Krise der «Konfiguration Kino» zu sprechen. Die Cinephilie gehört irreduzibel zu dieser Konfiguration, sie verbindet als einziger Diskurs die sonst oft getrennten Sphären von Bildindustrie, Normalrezeption, Feuilleton und Akademie. Deshalb ist es von weit mehr als nur nebensächlicher Bedeutung, dass die Institutionen der Cinephilie – nämlich: die kuratorisch betriebenen Kinos, die einschlägigen Zeitschriften und Verlagsreihen, auch die Festivals – mit den Umbrüchen konfrontiert sind, die die Digitalisierung und das Internet brachten und bringen. Die längerfristigen Folgen sind noch kaum absehbar, aber wichtige Konfrontationslinien und neue Praktiken und erste Versuche der Reflexion zeichnen sich ab.

In der Folge soll es genau darum gehen: Wie die Digitalisierung nicht nur gegenwärtige Diskurse und Praktiken des «Kinos», sondern auch dessen Geschichte (genauer: den Blick darauf) verändert. An vielen Beispielen werde ich mich in den nächsten Wochen mit dem Wandel von Rezeptionsgewohnheiten, filmischem Material, erzählerischen Verfahren und mit der Bedeutung von Verfügbarkeit, Kopierbarkeit und der gewaltigen Ausdifferenzierung von Bewegtbildformen befassen.

II. Von den Piraten lernen

Kaum war James Camerons mit Spannung erwarteter Fantasyfilm Avatar in den Kinos, tauchte mindestens eine Cam-Kopie (natürlich der 2-D-Version) auch im Netz auf. Ausweislich der inoffiziellen BitTorrent-Piraten-Charts, die von der Website TorrentFreak wöchentlich erstellt wird, war Avatar in der Woche vom 20. bis zum 27. der am häufigsten heruntergeladene Film auf der Welt.

Aufgrund der zunehmend verschärften Gesetze gegen den Tausch von Kopien übers Netz haben in den letzten Monaten direkt aus dem Netz gestreamte Kopien und ihre Anbieter (wie zshare und megavideo) immer größeren Zulauf. Der Clou dabei: Das Ansehen solcher (ganz sicher) unlizenziert eingestellten und (vermutlich) illegal verlinkten Kopien ist (wohl) in zahlreichen Ländern nicht verboten. (Es ist nach wie vor auch eine Parallelwelt der rechtlichen Grauzonen.)

Einer der Linkhosts für solche Services verzeichnet derzeit bereits mehr als 1,2 Millionen Abrufe für Avatar. Dieser Linkhost selbst sieht aus wie eine Online-Videothek: Es ist, in mehr oder minder guter Bild- und Tonqualität, Titel für Titel, von Avatar bis Zombieland, so ziemlich alles unmittelbar abrufbar, was in den letzten Monaten in den US-Kinos anlief.

Man sieht daran: Die Parallelwelt der illegalen Filmdistribution ist so lebendig wie eh und je. Es ist eine Parallelwelt, in der die Erfolgsgesetze der kommerziellen Distribution in ziemlich identischer Weise gelten. Es sind die gleichen Blockbuster, die in den Charts vorne stehen. Weitere Erkenntnis: Das von der Industrie heftig bekämpfte Filesharing wird durch den noch dazu viel bequemeren Direktstream vom Dateihoster zusehends verdrängt.

Der Kampf der Industrie gegen die Hoster, den Schweizer Anbieter Rapidshare vor allem, begann längst. Und das illegale Angebot für aktuelle Filme hat nicht nur den Vorteil, dass es nichts – oder höchstens das Abo für den schnellen Zugriff beim Hoster – kostet. Es ist auch unendlich viel reichhaltiger, flexibler, simpler als alles, was derzeit an legalen Möglichkeiten entsteht, aktuelle Filme zu sehen.

Man nehme, als ein Beispiel unter vielen (in Deutschland etwa: Videoload und MSN Movies), das größte Erfolgsmodell Hulu, ein Gemeinschaftsangebot mehrere US-Fernsehsender, unter Federführung der großen Networks ABC, NBC und Fox, mit Schwerpunkt bei Fernsehen, aber auch mit einem Filmangebot. Bisher ist Hulu gratis, über Bezahlmodelle wird jedoch nachgedacht.

Der große Nachteil nicht nur dieses Angebots wird ersichtlich, sobald man von außerhalb der USA darauf zuzugreifen versucht: Hulu ist per Geoblocking eingezäunt. Wer von anderswo das Angebot nutzen will, muss den (nur bedingt legalen) Umweg über Proxy-Server und VPN gehen – und auch da versucht Hulu inzwischen, einen Riegel vorzuschieben. Dasselbe gilt für Netflix, eigentlich ein sehr erfolgreicher, übers Netz organisierter DVD-Verleih per Post, der aber zusehends auf Online-Streaming, auch direkt auf den Fernseher, umstellt. (Dass das Ende der Brick-and-mortar-Videotheken bevorsteht, ist ohnehin klar, siehe etwa diese Meldung aus dem Standard.)

Das zentrale Problem ist einfach und kompliziert zugleich, und bisher verhindert es jeden wirklich wirksamen Versuch, dem Filesharing und dem illegalen Streaming ein akzeptables kostenpflichtiges Angebot entgegenzusetzen: Lizenzen für die Aufführung bzw. Ausstrahlung von Filmen werden seit eh und je für lokale Märkte vergeben. Daher schon die künstliche Aufteilung des DVD-Weltmarkts durch Regionalcodes.

Das Geoblocking freilich ist nun eine der Distributionslogik des Netzes komplett zuwiderlaufende Praxis: Es verhindert, dass der Markt einen Großteil all jener bedient, die – zum nicht geringen Teil durchaus gegen Entgelt – bedient werden wollen. Die Filmindustrie, die geschäftlich längst weltweit agiert, fand bisher keine Mittel und Wege, der in jeder Hinsicht (auch der des Englischen als Weltsprache) längst global gewordenen Zuschauergemeinde ein auch nur halbwegs adäquates Angebot zu machen.

Die Industrie ist hier Traditionen verhaftet, die mit der durch die Digitalisierung und das weltweite Netz geschaffenen Lage nichts mehr zu tun haben. Schlichter formuliert: Sie versagt bisher weitgehend vor der Aufgabe ihrer notwendig gewordenen Umstrukturierung. Was sie nicht daran hindert, bei staatlichen Stellen Bestandsschutz zu suchen (und, siehe in Frankreich HADOPI, in haarsträubender Verletzung der Grundrechte sogar zu bekommen) und sich im Gegenzug über konstruktive Vorschläge zur sinnvollen Umstrukturierung des Markts sofort zu empören. (Siehe z. B. den jüngsten Aufschrei aus Deutschland zum Thema Kulturflatrate.)

Jetzt noch ein kurzer Blick auf das Gebiet des Films als Kunst, also das Kerngebiet der Cinephilie. Vielleicht ist es erstaunlich, vielleicht auch nicht, dass sich hier im Netz erstaunlich viel tut. So hat, was nur ein bezeichnendes Beispiel ist, das größte US-Filmfestival Sundance kürzlich die Kooperation mit Googles Videoplattform YouTube versucht, bzw. andersherum gesagt: YouTube suchte sich Sundance als Partner aus, um einen der ersten Versuche mit einem Bezahlangebot zu unternehmen.

Weitere sind geplant, für Liveübertragungen und anderes, dieser erste jedoch ging, wie man liest, eher schief. Einige der beim Festival in Sundance gezeigten Filme sollten gegen einen Preis von 3.99 $ (selbstverständlich auf die USA begrenzt) bei YouTube abrufbar sein. Bei NewTeeVee kann man nachlesen, dass nicht mehr als zwischen 250 und 300 Nutzer zugegriffen haben – alles andere als der erhoffte Erfolg.

Nicht ganz unähnliche Erfahrungen macht man bei The Auteurs, dem weltweit ambitioniertesten Versuch, der Cinephilie eine Plattform im Netz zu geben. The Auteurs versucht, vieles auf einmal zu sein: kostenpflichtige Online-Videothek, Cinephilen-Forum, Festivalbegleiter, kuratierte Kinemathek (jüngst mit einer von Stella Artois gesponserten Reihe von Nouvelle-Vague-Filmen) und Filmzeitschrift beziehungsweise Filmnachrichten-Aggregator (Abteilung Notebook).

Die Probleme, mit denen The Auteurs kämpft, sind vertraut: Sie bekommen nur selten weltweite Ausstrahlungsrechte, so dass sie, abhängig von der Distributionsindustrie, selbst fast immer Geoblocking einsetzen müssen. Schlimmer noch: Zwar funktioniert das Forum mit Zigtausenden Besuchern und Einträgen hervorragend. Die Bildqualität, die die eigene Encodings einsetzenden Techniker der Auteurs fürs Streaming zustande bekommen, ist atemberaubend. Das Publikum, das dann aber Zahlungsbereitschaft zeigt und fünf Dollar bzw. Euro für einen online betrachteten Kunstfilm auszugeben bereit ist, scheint jedoch eher klein. The Auteurs bleibt vorerst ein faszinierendes Start-up auf der Suche nach einem Geschäftsmodell.

Nicht zuletzt hat das damit zu tun, dass die weltweite Cinephilen-Gemeinde über eine hier namentlich besser nicht genannte, nur per Einladung zugängliche Tauschbörse bestens vernetzt ist. Ganze Bestände an VHS-Fernsehaufzeichnungen aus jenen Zeiten, in denen im Fernsehen noch so ziemlich alles gezeigt werden konnte, sind hier eingestellt. Manch heiliger Gral der cineastischen Sehnsucht steht zum Download bereit. Jüngst konnte stolz vermeldet werden, dass das auf DVD in weiten Teilen nicht – oder nur unter abenteuerlichen Bedingungen – zugängliche Werk des taiwanesischen Meisterregisseurs Hou Hsiao-hsien komplett vorhanden ist. (Zwei frühe kommerzielle Filme noch ohne Untertitel. Aber auch Untertitel werden von der Community eigens erstellt.)

Man darf sicher sein, dass die Nutzer dieser Tauschbörse zu den eifrigsten Käufern regulärer DVD-Editionen gehören, die oft genug selbst wiederum unter Selbstausbeutungsbedingungen entstehen. Wer es sich nicht leisten kann oder will, greift dann aber in der Schattenwelt der Gleichgesinnten umsonst zu. Dies ist durchaus ein Ort, an dem das Netz als utopischer Ort abseits des Mainstreams und abseits des Markts zu sich kommt: Hier ist das Ideal jener weitreichenden Verfügbarkeit alles Begehrenswerten so weit umgesetzt, wie es vor zehn Jahren noch niemand zu träumen gewagt hätte. Die Geschichte des Kinos war, nicht nur in dieser Tauschbörse, nie zuvor so greifbar und so präsent. Was diese – von James Quandt ja im Eingangszitat der letzten Woche gerade beklagte – Verfügbarkeit aber zu bedeuten haben könnte, dazu dann mehr in der nächsten Folge.

III. Verfügbarkeit/Filtern/Kuratieren

Die universale Verfügbarkeit ihrer Gegenstände ist die radikalste Veränderung, die das digitale Zeitalter für die Kultur im engeren wie im weitesten Sinn mit sich bringt. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts hat Walter Benjamin angesichts der neuen Reproduzierbarkeit der Kunstgegenstände einen Verlust von deren «Aura» konstatiert – und schwankte wie noch jeder große Diagnostiker zwischen Trauer ums Verschwindende und Faszination für das Neue. Mit der Möglichkeit der digitalen – und das heißt: datenverlustfreien – Kopie, aber auch der unter Inkaufnahme vertretbarer Qualitätsverluste machbaren Verkleinerung der Datenmengen durch Kompression hat dann seit den Neunzigern des 20. Jahrhunderst eine weitere, nicht nur quantitative Revolution stattgefunden.  

Seitdem und erst recht fortan besteht die eigentliche soziale Herausforderung im Umgang mit der geradezu unendlichen Menge kultureller Produktion in der Strukturierung von Aufmerksamkeiten. Also: In der Auswahl, in der Filterung, in der Zumessung von Wichtigkeit. Ordnungsmechanismen, Instanzen und Institutionen, Strukturen, Formen, Kanäle und Medien einer solchen Zumessung gab es stets. Die Vielfalt und Flexibilität und Reaktionsschnelligkeit und Differenzierung und Verarbeitungskapazität dieser Medien der Aufmerksamkeitsstrukturierung hat heute jedoch Ausmaße erreicht, von denen noch vor dreißig Jahren keiner zu träumen gewagt hätte. Raffinierte Verknappungsmechanismen des Marktes (vor allem in der Bildenden Kunst) gehören ebenso dazu wie die mathematisch ausgefeilten Such- und Empfehlungsalgorithmen von Google bis Amazon. Aber auch soziale Aufmerksamkeitsattraktoren wie Moden und Hypes, und zwar mit Marktmacht platzierte ebenso wie virale (nicht dass die Unterscheidung da immer einfach ist).  

Globale Aufmerksamkeiten stehen neben lokalen, Foren für Totalexpertise neben Foren für Totalahnungslosigkeit. Die Flaschenhälse der Printmedien-Verbreitung (Aufwand für Druck, Vertrieb) lösen sich auf, im Netz geht, fast aufwandlos, mehr oder weniger alles. Es gibt punktgenau fokussierte Aufmerksamkeiten ebenso wie breit gestreute. Was sich so auflöst, ist weniger - wie etwa von Jürgen Habermas befürchtet – eine gesamtgesellschaftliche Öffentlichkeit; vielmehr wird immer sichtbarer, dass eine solche zu einem großen Teil die Illusion jener war, die als Türhüter und Torwächter den Zugang zu dieser vermeintlich gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit kontrollierten. Wie in jeder Situation eines revolutionären Wandels geht derzeit alles, mit teils heftigen Debatten und Streitereien, versteht sich, durcheinander: Die alten Herren (für die Kultur: des bürgerlichen Feuilletons) sind noch nicht tot, die Emporkömmlinge, die absehbar die Zukunft bestimmen werden (Blogger, Aggregatoren, neue Virtuosen der Aufmerksamkeitsverarbeitung aller Art) noch auf dem Sprung.

Das ist die Lage, in der wir sind. Und die kurze Skizze der Lage ist nötig, um zu begreifen, vor welchen Problemen und Chancen eben auch die zentrale reproduzierbare Kunst des 20. Jahrhunderts, das Kino, in dieser Situation des Umbruchs steht. Die Vision eines «imaginären Museums» (André Malraux) des Kinos, in dem jederzeit auf jedes (erhaltene) Werk der Geschichte sofortiger kostengünstiger (wenn nicht gar kostenfreier) Zugriff besteht, ist jedenfalls nicht mehr absurd. Der Einzelsammler, als ikonische Figuren – Henri Langlois von der Cinemathèque Francaise oder Amos Vogel (Film as Subversive Art) – hat ausgedient. Kommerzielle Streamer und über den Globus verstreute, in fröhlicher Illegalität tätige Uploader-Horden treten an seine Stelle. 

Die Uploader als neue Figur des Sammlers gehen im Mainstream-Bereich wahl- und unterschiedslos vor: was ihnen vor die Flinte kommt, stellen sie ins Netz. In den neuen Stream-Archiven springen ihnen Horden von Verlinkern zur Seite in wettkampfförmiger Jagd nach dem frischesten Wild. Anders ist das im Kunstbereich. Das gilt für eine Seite wie The Auteurs ebenso wie für die in der letzten Woche erwähnte Cinephilen-Tauschbörse, in der es vielfältigste kuratorische und kritische Aktivitäten gibt. Es gilt aber auch für Youtube, das längst unüberschaubar gewordene Welt-Gesamtbildarchiv – einzelne Kanäle entwickeln sich da zu kleinen Kinematheken. Sie entziehen sich der Kontrolle durch Entstellung der Filmtitel und sind deshalb auch nicht über die Suche, sondern nur über den einmal gefundenen Kanal selbst abrufbar. Auch hier sind nicht unbeträchtliche Teile der Kinogeschichte schon ins Netz eingespeist. 

Es ist kein Wunder, dass die KuratorInnen der Kinematheken – wie James Quandt, siehe den ersten Teil dieser Reihe – jene sind, die am lautesten aufschreien. Nur in zweiter Linie geht es dabei um eine Konkurrenz der «Spielorte», um eine Liebe zur analogen Projektion von analogem Film und eine Nostalgie für das Kino als Gemeinschaftserfahrung unter Anwesenden. Der eigentliche Umbruch liegt in der Position des Kurators, die ähnlich unter Druck gerät wie die der Redakteurin im Massenmedium. Beide filtern mit einem spezifischen Anspruch – nämlich dem, als Einzelperson nichtbeliebige Auswahlen zu treffen. Sie bestimmen qua Position, was in Umlauf kommt und in Umlauf bleibt. Kuratorinnen und Redakteure sind, zugespitzt gesagt, in ständiger Kanonisierungsarbeit begriffen. Das funktionierte gut, solange sie die Verfügbarkeit – von Informationen, Filmen etc. – selbst mitregulieren konnten. Filmhistorische Entdeckungen außerhalb der kanonisierenden Institutionen waren, zugespitzt gesagt, schwer möglich. VHS und DVD haben den Umbruch dann eingeleitet, dessen entscheidende Phase inzwischen erreicht ist.

Heute kann jeder, da die Verfügbarkeit sich gegen unendlich bewegt, seine Entdeckungen machen und darüber in seinem Blog oder im Online-Magazin seines Vertrauens schreiben. Und andersherum: Es ist viel schwieriger geworden, die Nicht-Beliebigkeit der eigenen Auswahl zu behaupten. Die Situation ist dabei freilich beinahe paradox: Das Schaffen von Struktur, Übersicht, Ordnung ist nötiger denn je; die Glaubwürdigkeit hergebrachter Machtpositionen erodiert. Zwei grundsätzlich andere Wahlmechanismen, scheint mir, ergänzen – und ersetzen in Zukunft möglicherweise – die unflexiblen, institutionell gestützten kuratorischen und redaktionellen Praktiken. 

Die beiden Pole, zwischen denen sich das bewegt, sind nicht für den Film, sondern für die revolutionäre Umbruchsituation spezifisch, in die auch das Kino mitsamt seiner ganzen Geschichte hineingeraten ist. Diese Pole sind, pointiert gesagt: der Algorithmus und die Idiosynkrasie. Das Allgemeinste (die mathematische Formel) und das am wenigsten Verallgemeinerbare. Das Unpersönliche und die Persönlichkeit. Die automatische Auswahl und die durch die komplexe Wunsch-, Willens- und Erfahrungskonfiguration namens Subjekt gegangene Wahl, Bewertung, Sicht der Dinge, die allerdings große Mühe hat, sich noch als nicht-subjektiv zu behaupten. Der Algorithmus findet, was einer sucht und manchmal führt einen der Zufall auf einen spannenden Abweg; natürlich gibt es weiter die Kritikerin und den Kurator, jetzt aber zunehmend als Bloggerin und Experten: mit viel weniger Macht zur Verfügbarkeitsregulation, Aufmerksamkeitssteuerung und Kanonisierung. Die Experten rutschen von Schlüsselstellen der Aufmerksamkeitsregulierung in die Position des einen Experten neben anderen für stark ausdifferenzierte und spezialisierte Teilöffentlichkeiten. 

Wichtiger für die Konstitution größerer Öffentlichkeiten werden Mittler anderer Art. Mittler, die das Verhältnis von Algorithmus und Idiosynkrasie grundsätzlich anders verschränken, Spezialisten, wenn man so will, für genau diese Verschränkung. Spezialisten, heißt das auch, für genau das, was jeder, der im Netz unterwegs ist, beherrschen muss: Sich mithilfe von Filtermechanismen und -instrumenten zu orientieren. Ein großer Teil des Web 2.0 ist im Grunde nichts anderes als die neue Verschränkungsform von Algorithmus und Idiosynkrasie: Der persönliche Feedreader wie die eigenhändig zusammengestellte Twitter-Liste öffnen die Horizonte. Ich wähle – sozusagen – als zusätzliche Sinnesorgane mir nahestehende Zweit- und Drittsubjektivitäten. In professionellen Filtern und Aggreggatoren konsolidiert sich das dann in aller Vorläufigkeit zu quasi-objektiven Überblicks-Momentaufnahmen von dem, was im jeweiligen Feld derzeit wichtig ist. Für den englischsprachigen Raum erfüllt diese Funktion David Hudson mit seiner täglichen Aggreggierungsarbeit in Perfektion – früher bei Greencine, kurz bei IFC, heute bei den Auteurs. Im deutschsprachigen Raum leistet für die Kultur insgesamt der Perlentaucher Ähnliches, im Filmbereich reicht bislang nichts annähernd an David Hudson heran.

Dabei «kuratiert» David Hudson so wenig wie das einzelne Blogger tun. Oder vielleicht doch? Was wäre «Kuratieren» anderes als sorgfältige Auswahl, die kenntnisreich plausibel gemachte, womöglich emphatische Erlösung des Einzelobjekts aus seiner Beliebigkeit? Die Kinemathek oder das Programmkino bündeln Auswahl, Ort der Aufführung, Beschaffung der Kopie und die Vorführung selbst. Mit der Verfügbarkeit des Films im Netz löst sich die Notwendigkeit dieser Bündelung im Prinzip einfach auf. In einem Blog, das ein Aggregator verlinkt, weist einer auf einen Film, ein Werk, einen Kontext hin – und wer dies liest und interessiert ist, kann sich selbst zuhause (also: fast überall auf der Welt) sofort die Kopie beschaffen (als Download oder Stream) und den Ort der Vorführung einrichten (am Rechner, am Fernseher, am Rechner als Fernseher, am Fernseher als Rechner) –  oder wird dies in einer schon recht nahe herangerückten Zukunft jedenfalls können. Hinterher oder sogar währenddessen kann er oder sie mit Expertinnen und seinen Freunden 2.0 über das Gesehene plaudern und tweeten. Der Effekt ist eine weitreichende Dezentralisierung, eine Absenkung der Zugangsschwellen, eine größere Offenheit fürs Einzelinteresse, um nur die wichtigsten Vorzüge dieser anderen Konfiguration des Kinos zu nennen. Frage an James Quandt: Was ist gegen diese schöne neue Kinowelt denn im Ernst einzuwenden?

IV. Die Verfügbarkeit und ihre Folgen

Letzte Woche schloss ich mit der Frage, was eigentlich einzuwenden wäre gegen eine Situation der dauerkuratierten Online-Verfügbarkeit von Filmen, die noch vor zwanzig Jahren außerhalb der Festivals und Kinematheken der Welt (und eventuellen DVD-Veröffentlichungen und Fernseh-Ausstrahlungen zu später Stunde und/oder auf winzigen Sendern) unsichtbar geblieben wären. Eine erste, eher einen Nebenaspekt beleuchtende Antwort darauf ist zunächst: Verfügbar sind nicht die Kinofilme, sondern in ihrer Bildqualität meist schlechtere, mindestens aber andere, Kopien. Anders gesagt: Einen Film wird man im Netz niemals zu sehen bekommen. Das ist so trivial, dass man es gern übersieht. Fernsehausstrahlungen sowie DVD, Blu-Ray und ihre im Internet anzutreffenden Kopien sind, teils natürlich außerordentlich brillante, aber doch immer nur: Ersatzmedien für den Kinofilm. Als Kinder des Fernsehens haben wir uns früh angewöhnt, von der Anmutungsqualität des Bewegtbilds zu abstrahieren. Das ändert wenig daran, dass die alte Konfiguration Kino aus Kameraufzeichnung auf lichtempfindlicher Emulsion, aus chemischer Entwicklung und analoger Projektion mit rund 24 Bildern pro Sekunde besteht. (Ein paradoxes Faktum der Bildkonsumgegenwart ist, dass wir nicht nur immer besser aufgelöste Bilder sehen, sondern gleichzeitig auch ganz miese: als Cam-Versionen im Netz, als Miniaturbilder auf dem iPod etc.)

Man muss kein Nostalgiker oder Purist sein, um zu sagen, dass ein großer Teil der Kinogeschichte anders aussehen sollte, als er in der Mehrzahl seiner heutigen Aufführungen aussieht. Andererseits muss man wohl schon Nostalgiker oder Filmhistoriker oder Purist sein, um das als große Katastrophe zu betrachten. Filme sind keine Gemälde und von manchen speziellen Gegenbeispielen abgesehen, verlieren sie mit ihrer Anmutungsqualität und Materialität nicht ihr Wesentliches. Es kommt dazu, dass das Kino der Gegenwart ohnehin gerade dabei ist, sich ganz auf die digitale Produktion und Projektion umzustellen. Den Schock (des Entsetzens oder der Euphorie), den der vielleicht erste radikal auf die neue Ästhetik zielende Mainstreamfilm, Michael Manns Public Enemies, traditionsgeschulten Augen versetzt hat, werden künftige Generationen wohl kaum mehr verstehen. Wie sich unsere cinephilen Sehgewohnheiten da insgesamt umjustieren (wird 35mm irgendwann altmodisch aussehen? wird es Retro-Moden geben, also Versuche, digital Analoganmutungen zu erzeugen?), lässt sich derzeit sicher nicht sagen. Nur: die Bandbreite der Bildformen, Bildqualitäten und der mit ihnen verbundenen Konnotationen («dokumentarisch», «großes Kino», «Amateurfilm») hat in den letzten zwanzig Jahren zugenommen, die dänische Dogma 95-Bewegung, die einen Substandard einfach mal zur Norm erklärte, ist da nur ein herausragendes Beispiel. 

Wichtiger aber als die Frage, ob eine alte, von Puristen fetischisierte Norm von Kino den Doppelschlag von Digitalisierung plus Internet überleben wird, ist wohl eine andere: Was sind die Implikationen – und eben auch Kosten – der leichten, dauernden, kostengünstigen Verfügbarkeit? Man muss gleich differenzieren: Was sind ihre sozialen, ihre ökonomischen, aber auch ihre psychosozialen Folgen? Sozial bedeutet Verfügbarkeit zunächst einmal vor allem etwas sehr Erfreuliches: Demokratisierung des Zugangs, Schleifen von hohen Schwellen. Was zuvor jenen vorbehalten war, die in Großstädten mit Kinematheken wohnten oder Pay-TV-Kanäle abonniert hatten oder das Geld und Know-How besaßen, sich DVDs auch aus abgelegenen Weltgegenden zu besorgen, haben es im Zeitalter der Tauschbörsen und Streaming-Angebote entschieden leichter. Umgekehrt nimmt die Praxis des Eins-zu-Eins-Bezugs des Betrachters zum Bild im privaten, nicht im quasi-öffentlichen Raum des Kinos ganz neue Gestalt an. Dank mobiler Geräte lässt sich so längst auch der öffentliche Raum nicht nur akustisch, sondern auch visuell wieder weitgehend privatisieren. Die Kulturkritik ist wie stets schnell zur Stelle. Grund zur Dramatisierung besteht eher nicht. 

Die Frage nach den ökonomischen Folgen der Verfügbarkeit ist von der nach Tauschbörsen, geistigem Eigentum, verlustfreier Kopierbarkeit von Digitalbildern dominiert. Und damit auch von rechtlichen Fragen. Kein Wunder, denn die kulturproduzierenden und -verwertenden Industrien sehen nicht nur ihre Felle davonschwimmen, sondern auch ihre Jagdgründe in Gefahr. Das Grundproblem des Internets als Aufmerksamkeitsmarkt trifft auch die Bildindustrien: Aufgrund der niedrigen Wettbewerbsschwellen und damit der Allgegenwart von Konkurrenzangebeoten, sind die Preise verdorben. Das Glück des nichtindustriellen Produzenten wie schlechthin der Nutzerin ist auch für die Filmindustrie ein Problem.

Da Verknappung in der Logik des Markts Wertsteigerung bedeutet, bedeutet Verfügbarkeit unweigerlich: Wertverlust. Im Verbund mit der kinderleichten verlustfreien Kopierbarkeit hat das zu eben jener Situation geführt, in der wir nun sind. Es ist schwierig geworden, für digitale Kopien überhaupt noch Geld zu verlangen. Wie sehr das Rückwirkungen auf die gesamte Verwertungskette hat bzw. haben wird, ist derzeit eher unklar. Konkret stellt sich das Problem für die Rechteinhaber, an welcher Stelle dieser Kette Platz ist für «Video on Demand» und andere Online-Vergnügen. Ein alter Hase sieht da im Moment allerdings offenkundig keinen Anlass zur Panik. In einem Gespräch mit der FAZ erklärte Herbert Kloiber, Besitzer der Tele München Gruppe (und des österreichischen Senders ATV) am vergangenen Wochenende:

Wenn Sie mich fragen, was in fünf, zehn Jahren sein wird, kann ich nur sagen, dass unsere Verkaufs- und Rechtsabteilung, die heute zwanzig Leute mehr beschäftigt als vor zehn Jahren, noch einmal zehn mehr umfasst, die sich um die Verteilung der Rechte auf allen Übertragungswegen kümmern werden. Wir verkaufen heute schon jeden Film in einem Zyklus von zehn Jahren an mindestens 25 Nutzer. Die Nutzung des Films vervielfacht sich.

Großer Optimismus also, dass sich das Netz als (kostenpflichtiger) «Übertragungsweg» wieder einfangen lässt. Die aktuellen Zahlen deuten umgekehrt kaum darauf hin, dass die Kinos – die großen, für die Programmkinos sieht es anders aus – unter der oft sehr raschen Netz-Verfügbarkeit und dem zahlenmäßig gewaltigen Abruf von oft jedoch schauderhaft anzusehenden Cam-Versionen stark leiden. Unter den folgenden Gliedern der Kette – DVD, Pay-TV, Free TV – scheinen am ehesten die DVD und möglicherweise Pay-TV betroffen. Die Kinos jedenfalls verzeichnen derzeit Rekordzahlen, und die verdanken sich ganz sicher nicht nur der neuen 3D-Mode, die aber nicht erst seit Avatar große Verdienste nicht zuletzt um den Anstieg von Kartenpreisen hat. 

Der Schluss liegt nahe: Kino- und Musikindustrie stehen eben nicht vor identischen Problemen, weil der Markt aus historischen Gründen anders strukturiert ist. Der Kinobesuch entspricht nicht der CD, die durch Digitalkopien stark entwertet scheint, sondern eher dem Konzertbesuch, also einer digital nicht kopierbaren Praxis. Insofern wird das «Video on Demand» die DVD und mit höheren Bandbreiten auch die BluRay gefährden und vielleicht letztendlich ersetzen, nicht aber den Kinobesuch. Und darum müssen die Rechteinhaber früher oder später wohl einsehen, dass der Online-Vertrieb digitaler Kopien in zeitlicher Nähe zum Kinostart die einzige Möglichkeit ist, den Wünschen des Marktes nachzukommen.

Eine weniger häufig diskutierte Frage ist die nach den psychosozialen Folgen der Verfügbarkeit. In einer Situation, in der man fast alles fast jederzeit fast ohne Aufwand haben kann, ist jeder einzelne Gegenstand mit jedem anderen erst einmal gleichrangig. Zum einen wird dadurch der Auraverlust noch einmal radikalisiert – denn die «Aura» ist an einen aus dem Alltäglichen herausgehobenen («heiligen») Zusammenhang gebunden. Zum anderen werden dadurch alte Kanonbildungen unterminiert. Beides hat wiederum seine demokratisierenden Seiten (es ist nicht mehr schwer, sich selbst ein Bild zu machen, ob an dem, was der Kanon empfiehlt und befiehlt, wirklich was dran ist). Umgekehrt macht es ratlos. Man ist unendlich ermächtigt, aber das hat, wie im Märchen, seine bestürzenden Seiten. Wie verhält man sich im Schlaraffenland? Was tut man zuerst, was wählt man, was lässt man liegen?

Verfügbarkeit ist ein Gleichmacher von Werten. Sie ist aus diesem Grund der Gegenspieler des Kurators. Daher der Hass von James Quandt. Was früher Türhüter- und Schlüsselpositionen waren, sind, wenn jeder den Schlüssel besitzt, nur noch Positionen neben anderen. Im Prinzip gleichgeordnet. Daher der verbissene Kampf, den die alten Mächte derzeit führen. Das Egalitäre des Prinzips Verfügbarkeit hat sie eingeholt. Und es wird zugleich klar, dass der kapitalistische Markt, proteisch wie stets, auch darauf reagiert. Der Mechanismus der Wiederverknappung von Verfügbarem ist das Event. Das Event schafft «Heiliges» in komplett säkularer Form – also auch Aura und Wert, meist in spektakulärer Form. Die Eventkultur ist die Kehrseite des demokratischen Zeitalters der Verfügbarkeit. Das künstlich geschaffene Ereignis hebt den einzelnen Gegenstand aus seiner Beliebigkeit heraus. 

Im real life heißt das fürs Kino: Wem es gelingt, den Kinobesuch zum Event zu machen, der kann kassieren. Die Blockbusterwelt versucht das für jeden einzelnen Kinobesuch. Im Grunde ist natürlich schon der landes-, ja internationale Start eines Films mit der damit verbundenen konzentrierten Aufmerksamkeitsproduktion etwas wie die Eventisierung des laufenden Programms. Die immer stärkere Fixierung aufs Startwochenende gehört dazu. Auf der Arthouse-Seite steht dagegen weniger der einzelne Kinobesuch als das Florieren der Festivals. Was sonst nur in letzten Programmkinobastionen der Groß- und Universitätsstädte sein Gnadenbrot bekommt, findet auf Festivals oft riesigen Zulauf. Die gerade zu Ende gehende Berlinale schafft es, bei immer desaströser werdendem Programm immer größere Massen zu ziehen. Das erlaubt den Umkehrschluss: Wer im Internet mit Bewegtbildern Geld verdienen will, muss möglicherweise Wege finden, die künstliche Produktion von Wert per Event im Netz zu reproduzieren. Durch Quasi-Festivals, vielleicht auch schnelles Reagieren auf aktuelle Ereignisse, die Produktion von Fangemeinden und die Reaktion auf existierende Kulte. 

V. Aneignung. Utopischer Schluss

Ich habe mir in den letzten Wochen Mühe gegeben, den Kopf der Unterhaltungsindustrie, teils gar des einschlägigen Rechts und vor allem der Verwerter im besonderen zu zerbrechen. All das mehr oder minder brav im Rahmen jener großen, von uns allen zu verehrenden kapitalistischen Weltordnung, die derzeit den Eindruck des Unentrinnbaren macht. Aber man soll sich schon grundsätzlich nicht zu sehr beeindrucken lassen von solchem Unentrinnbarkeitsanschein. Und im Speziellen dieses Falls doppelt nicht. Denn es ist für den, der Kunst und Kultur als das begreift, was sie ist, schon ganz außerordentlich unangenehm, sich auf diese Weise den Kopf zu zerbrechen. Nimmt man sie nämlich, wie man aufs schönste utopisch doch muss (unterm Imperativ geht hier nichts), als radikalen Freiheitsraum, in dem fast alles denkbar und ausprobierbar zu sein hat, dann liegt ihr nichts ferner als dieser Rahmen eines Wirtschaftsbetriebs, der alles juristisch zurichten will und noch aus dem letzten Akt des Genusses  und dem kühnsten Gedanken geldwerten Gewinn und Zins ziehen muss. Und zwar mit Hilfskonstruktionen noch und noch, nämlich vom Recht nie und nimmer einfriedbaren Größen wie «Originalität» und «Schöpfungshöhe» und so immerzu weiter. 

Wenn, anders gesagt, irgendwo die Grundideen des Kapitalismus an ihre Grenzen stoßen, ad absurdum geführt und als der komplett auf Anreiz durch Gier und geistige Umwegrentabilitäten gebaute Brems- und Verhinderungsklotzbetrieb erkennbar werden, der sie nun einmal sind, dann doch justament hier und jetzt, im Bereich dessen, was sich die Produktions- und Verwertungsindustrie unterm Begriff des «geistigen Eigentums» so fein zurechtgedacht, mit Paragraphen umzäunt und ganzen Gesellschaften mit Peitsche und Zuckerbrot eingetrichtert bzw. plausibel gemacht hat. Das freilich, «geistiges Eigentum», ist ein Begriff, der, lässt man den Rahmen der Verwertung versuchshalber einmal weg, einfach nur unsinnig ist. Über das einschlägige Klassikerzitat hinaus muss man dazu nichts weiter sagen. Also schrieb kein Geringerer als Thomas Jefferson bereits am Ende des 18. Jahrhunderts – just zu jenem sattelzeitigen Moment also, in dem die Vorstellung von Autorschaft als Werkherrschaft so richtig gründlich kodifiziert wurde: «Wer eine Idee von mir empfängt, mehrt dadurch sein Wissen, ohne meines zu mindern, ebenso wie derjenige, der seine Kerze an meiner entzündet, dadurch Licht empfängt, ohne mich der Dunkelheit auszusetzen.» (Ganz aktuell wird dies gerade wieder hochgekocht am Exempel von Helene Hegemanns zu weiten Teilen nicht auf ihrem Mist gewachsenen Roman Axolotl Roadkill. Die Debatten, die keinen einzigen neuen Gedanken gebracht haben – nun gut, wie sollen sie auch – sind bei der Lektüre der Feuilletonrundschau des Perlentaucher der vergangenen Wochen in jeder Einzelheit nachzuvollziehen. Von da jetzt auch das Jefferson-Zitat und dort zu finden auch der Hinweis auf Jonathan Lethems eigentlich fast schon erschöpfenden Harpers-Magazine-Text aus dem Jahr 2007.)

Die Grundidee, die primäre Bewegung, ja sogar das Medium des Denkens, mithin der Kunst wie der Wissenschaft, ist nicht das Eigentum (an Ideen, Gedanken, Taten und Werken), sondern die Aneignung eben dieser Ideen, Gedanken, Taten und Werke. Und damit eben nichts, auf das man sich setzt, nichts, auf dem man sitzen bleibt, nichts, das was man wegsperrt und hinter Schloss, Riegel und Drahtzäune bringt. Wer aneignet, hält nicht den Daumen drauf auf etwas, das ihm gehört, sondern er greift und nimmt, was er braucht, und offeriert im Gegenzug, was er aus dem Genommenen und Gefundenen gemacht hat. 

Aneignung ist, recht verstanden, etwas Dynamisches, ein nicht anzuhaltender Fluss, eine Bewegung, und zwar keine, die etwas, das einem anderen gehört, in Eigentum überführt. Vielmehr setzt Aneignung die Anerkenntnis voraus, dass ich als Autoren- und Schöpfer-Ich ein Ich bin, das dazutut und transformiert, Einflüsse wirken lässt, die es nicht kontrolliert und also Freiheitsspielräume der Zeichenverkettung nutzt, die von anderen immer schon miteröffnet sind und die ich in jenen Transformationen, die ich mir zuschreibe bzw. die mir dann zugeschrieben werden (oder auch nicht), wiederum Spielräume für andre eröffne, die damit dann tun, was ihnen einfällt. Klar kommt mein Name drauf, aber doch eher im Sinn einer momentanen Zwischenspeicherung des großen Diskurses, der Kunst im weitesten Sinn heißt. Das Gedächtnis der Kunst vergisst, was der Bewahrung nicht wert ist, von selbst. Wir nennen die Deformationen, die die Eigentums- und Verwertungsindustrie aus diesen als Utopie vorgestellten Aneignungsprozessen macht, ungern Zensur. (Wir verbieten uns das eher, als dass es uns ausdrücklich verboten würde.) In Wahrheit ist es genau das: Der oft barbarische und brutale Schnitt, der nicht aus kunstintrinsischen Gründen, sondern der bloßen Verwertbarkeit halber dumpf und stumpf ins Denken und Schaffen und Aneignen und Umdenken und Umschaffen gesetzt wird.

In der Kunst haben die Vertreter der sogenannten appropriaten art bis ins Detail durchexerziert, welche Vielfalt der Sprechakte sich unterm Begriff der Aneignung fassen lassen – bis hin zum fast kompletten Verschwinden einer romantisch inspirierten – und zum Ideologem einer kapitalistischen Kultur jederzeit umnutzbaren – Idee von Originalgenialität: vom feministischen Einspruch gegen einen von Männern dominierten Diskurs (Sherry Levine) etwa, über die im Prinzip eher affirmative Aufblasbewegung von ikonisch gewordenen Werber-Bildern und -Zeichen (Richard Prince) bis – am interessantesten – zu den Paradoxien, die sich aus der auf den ersten Blick vollkommen identischen Kopie von existierenden Werken ergeben (Elaine Sturtevant). Das zeigt, um ganz zuletzt etwas konkreter doch eine Wendung in Richtung «Film im Netz» zu nehmen, vor allem eins: das Remixen, Mashupen, Verwursten und ja, auch das illegale Hochladen und Ansehen und Weiterverbreiten von Filmen als digitale Kopie, kann der Kunst und Kultur als Freiraum der Aneignung und der Umeignung, des Kennen- und Wissenwollens und des Damit-dann-selbst-etwas-anstellen-Wollens immer nur nützen. 

An einem Ort, der Futurezone heißt, will all das auch einmal gesagt sein.