9. März 2012
Szenische Aktion Katie Mitchell inszeniert Luigi Nonos Al gran sole carico d'amore
Man wird ja nicht dadurch widerlegt, daß man besiegt wird, sagt Dietmar Dath, während für Günther Anders schon das störrische argumentative Beweisen, dass man Recht hat, zu einem moralphilosophischen Problem wird.
Wird ein Kunstwerk überhaupt widerlegt, von der Geschichte, von seinen Exegetinnen oder Rezipienten? Luigi Nono unternahm 1975 in Mailand einen ästhetisch-politischen Spagat, wie er für eine entwurfshörige Moderne diagnostisch war, die nicht nur nachweislich gescheitert ist, sondern uns genauso nachweislich im Heute fehlt. Er stellte Teile seines von der Scala in Auftrag gegebenen Bühnenwerkes Al gran sole carico d'amore noch während der Proben in Mailänder Fabriken den Arbeitern vor, bevor es zur Uraufführung des Gesamtwerkes unter Claudio Abbado kam.
Luigi Nono glaubte augenscheinlich daran, dass seine Musik und die von ihm collagierten Texe von werktätigen Menschen in ihrer industriellen Arbeitsumgebung verstanden und wertgeschätzt werden würden. Er wollte für die Arbeiterklasse schreiben und darin bei all seiner intellektuellen Avanciertheit ernstgenommen werden: Er glaubte an eine andere Aufführungspraxis für das zeitgenössische Musiktheater als die der überkommenen, bürgerlichen Oper. Dieser Glaube allein würde eine nähere Beschäftigung mit dem Werk Nonos rechtfertigen. Er wird dadurch umso bemerkenswerter, dass Nono anders als etwa Hanns Eisler keine einfach verständliche Form suchte, um sich an ein Publikum mit wenig Vorbildung zu wenden, sondern es sich bei Al gran sole carico d'amore vielmehr um Musiktheater von höchster kompositorischer Komplexität und dramaturgischer Abstraktion handelt, das gerade den Vorgebildeten erhebliche Schwierigkeiten zu bereiten scheint.
Es gibt keine Bühnenhandlung. Immer fragmentarische Selbstzeugnisse, historische Dokumente, Gedichte, politische Bewertungen und szenische Texte thematisieren soziale Revolutionen im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, insbesondere die Pariser Commune von 1871, die russische Revolution von 1905 und die kubanische von 1959. Teile der vielfältigen Stimmen sind Frauen zugeordnet, die im Material zu den großen Umwälzungen auftauchen und episch extrapoliert werden: Louise Michel als Aktivistin der Pariser Commune, in Verbindung gebracht mit Rimbauds titelgebenden Zeilen über kämpfende Frauenhände, au grand soleil d'amour chargé, im aufständischen Paris. Tanja Bunke als militärische Kommandantin in Bolivien, die lyrisch reflektierend nach einem Ort in der Geschichte sucht. Pelagea Wlassowa, Gorkis epische Mutter in Brechts Bearbeitung, und Haydée Santamaria, die 1953 am Angriff auf die Kaserne von Moncada teilnahm. Dazwischen Marx, Lenin, Guevara und Castro, aber auch Pavese und wie gesagt Rimbaud. Der Sopran ist auf vier Stimmen aufgeteilt, es gibt einen Chor und vorproduzierte Zuspielungen sowie natürlich ein Orchester.
Letzteres ist im Berliner Kraftwerk Mitte, wo unter viel postindustriellem Schick und noch mehr Staffage die Salzburger Produktion vorgeführt wird, einer der beiden dramatischen Protagonisten des Abends und zweifelsohne der Sieger. Denn Ingo Metzmacher, dem Pompöses eher liegt als Filigranes, drückt auf die Tube, dass kein Ton ungehört verklingt und keine Stille entsteht im Kraftwerk. Er schlägt den Nono so, als wäre es ein Strauss oder ein Wagner, und seine Rechnung scheint aufgegangen zu sein, daß dieser dadurch zugänglicher wird für das Publikum, auf das man hier abzielt mit Kartenpreisen, die im Bereich der Großevents liegen und der Location gerecht werden wollen. Es ist quasi die Watergate Classic Lounge für Erwachsene.
Der zweite dramatische Protagonist des Abends war die überlebensgroße Leinwand, die Katie Mitchell installieren ließ: Ein gewölbtes, mit perlmuttartigem und holzspanhaftem Material ausgekleidetes Gebilde, das jedem Bild eine Patina verleiht, noch bevor es überhaupt auf sie trifft. Anders als patiniert kann oder will man sich die «Geschichte des Kommunismus» (denn als solche liest die Produktion Nonos antinarrative Collage) offenbar nicht vorstellen. Auf der Bühne sind kleine Zellen aufgebaut, die mehreren Filmteams als Live-Sets dienen. Zwar legt Katie Mitchell den Produktionsprozeß des überdimensionalen Videobildes offen, anders als z.B. René Pollesch aber will sie keineswegs dessen Produktionsbedingungen thematisieren, die Techniker_innen an Kamera und Beleuchtung treten nicht etwa als gleichberechtigte Teile des Bühnenensembles auf, sondern huschen lautlos durchs Dunkel, präzise und behende von Position auf Position, ganz als seien sie Platzanweiser oder Messehostessen bei diesem Live-Event: Leute, die man eben braucht, damit alles glatt über die Bühne geht. Per Digitalfilter fügen sie Kratzer und Staub hinzu oder filmen durch ein transparentes Stofftuch. Und in den Zellen – allesamt Kämmerlein einer neuen Innerlichkeit ohne Majuskel – stehen, sitzen oder liegen Schauspielerinnen, die in die Kamera oder aus einem Fenster starren (das natürlich nicht etwa auf die Fabrikhalle aufgeht, sondern auf einen naturalistischen Gartenbaum). Die minutenlang symbolisch aufgeladene Gegenstände anglotzen, als seien sie Kim Jong Il auf dem gleichnamigen Blog: Hier und da eine Waffe, abgeschnittenes Haar, einen Käfer im Wasserglas, eine Glühbirne, die dann zerplatzt und natürlich eine blutende Wunde in der Hand verursacht, welche wir dann nochmals lange anstarren können, während irgendwo ganz weit oben in den Übertiteln Teile des verkürzten Librettos vorbeihuschen.
Obschon Katie Mitchell in ihrem Programmtext betont, es sei keine konventionelle Oper und folglich gebe es auch keine Personen, setzt sie all ihre Mühe daran, eben doch welche zu erschaffen, eine Louise Michel, eine Tanja Bunke, eine Deola (Lyrisches Ich aus Paveses Gedichten), die sie aufdringlich als Sexarbeiterin markiert, obwohl das Libretto keinerlei Hinweis darauf enthält, und die am Ende schwanger geht (mit der Revolution?). Was diese Frauen gemeinsam haben ist, daß ihr Handlungsradius auf Verrichtungen im Hause, also in ihrer Filmset-Zelle beschränkt wird und ihnen keinerlei soziale Interaktion zugebilligt wird. Weit entfernt ist dieser affektierte Stummfilm von Bildern bewaffnet kämpfender Frauen, nicht einmal andeutungsweise wird deren Denken und Handeln von Mitchell kritisch befragt. Es wird einfach gar nicht dargestellt. Man wird nicht dadurch widerlegt, dass man besiegt wird, aber es interessiert einfach niemanden mehr, ob man vielleicht Recht hatte.
Nono war es gelungen, die Texte und Vorgänge in seiner «szenischen Aktion» vom Kitsch zu befreien, der von der miefigen Propaganda der KP-Kulturabteilungen gefördert wurde; er entschied sich dafür, ihren dogmatischen Gehalt zu bewahren. Mitchell entscheidet sich ebenso dafür, diesen dogmatischen Gehalt zu bewahren und auszustellen, als einen Gegenstand von Nostalgie, dem man sich nur durch das Kaleidoskop der Innerlichkeit noch annähern kann. Den Kitsch will sie ihnen aber wieder überstreifen. Auf kleinen Plastikstreifen produziert sie Bilder von Wiesen und Wüsten, die in ihrer gekünstelten Natürlichkeit an Produktwerbung gemahnen, ohne dass oben auf der Leinwand irgendwo der Gedanke zu erkennen wäre, diese Ikonographie zu ironisieren. Vielmehr nimmt Mitchell das Ausstellen so wörtlich, daß sie eigens eine stumme Figur anlegt, die traumwandelnd in einem verstaubten Museum Gegenstände aus den längst vergangenen Lebensläuften der Michels und Bunkes entdeckt und (wieder nur passiv-innerlich) antastet.
Nonos Collage ist nicht nur musikalisch, sondern auch dramaturgisch eine Herausforderung. Sie ist in ihrer unbewegten Aneinanderreihung einzelner Aussagen vielleicht am Ehesten mit einem Architekturfilm von Emigholz zu vergleichen, nehmen wir den diesjährigen Berlinale-Beitrag Parabeton: Die urbanen Räume, in denen antike Baudenkmäler und 60er-Jahre-Betonbauten stehen, würde man nie so sehen, mit dieser Schärfe und Klarheit wahrnehmen, wie sie durch Kadrierung, Schnitt und den Verzicht auf einen Kommentar entstehen. Aber man muss durch 100 Minuten stiller Bilder sitzen, um diese Erfahrung zu erlernen.
Dies scheint für die heutige Kulturindustrie eine Überforderung zu sein, die bei Al gran sole carico d'amore weit unangenehmer auffällt als ein etwaiger Wille, eine politische Idee zu diffamieren. Katie Mitchell hat sichtlich keinen anderen Zugriff gefunden als jenen ältesten Hut des Regietheaters, aus komplexen Gedanken simple Figuren zu schälen und situative Gesten zu vergrößern, damit kein Raum mehr zwischen den Worten bleibt, in dem ein Publikum einen eigenen, dem Regieeinfall ebenbürtigen Gedanken fassen könnte. Ingo Metzmacher hat das Pianissimo ausgeschaltet, als handele es sich dabei um kommunistische Propaganda, und lässt die Singstimmen keinen Augenblick ohne dröhnende Pauken, dräuende Bläser und flirrende Streicher – alles Dinge, die man in der Stuttgarter Einspielung von Lothar Zagrosek (1999) gar nicht findet. Dort bleibt den menschlichen Stimmen der Raum, mit den Texten Dinge zu tun, die in einem opulenten Event schlicht keinen Platz mehr haben.
Ist Nonos Glaube daran, daß seine Musik eine von gesellschaftlicher Relevanz sei, also widerlegt oder besiegt worden? Vielleicht ist beides der Fall. Vielleicht aber lebt er in der Forderung, oder zumindest der Sehnsucht, nach einer anderen Kulturpraxis nach. Im Kraftwerk Mitte jedenfalls ist die einst von Brecht eingeforderte Anregung zum Widerspruch überkleistert und Nonos «szenische Aktion» posthum zur kulinarischen Oper geworden, deren Erleben an Qualität einer typischen Clubnacht der eigenen Kinder um nichts nachsteht.
Al gran sole carico d'amore von Luigi Nono, Staatsoper Berlin im Kraftwerk Mitte Trafo (Berlin); Musikalische Leitung: Ingo Metzmacher; Inszenierung: Katie Mitchell