31. Dezember 2020
Was vom Jahr bleibt 2020
Auf der Suche nach Halt – raus aus den Strukturen und Mustern!
In der SZ vom 19.12.2020 werden einschneidende Jahre beschrieben (1989, 2001) und dann gefragt, warum und was 2020 anders sei, wie werde dieses Jahr sich in unser kollektives Gedächtnis einschreiben? Die Antwort kann nur lauten: Das Virus ist kein Mensch (wenngleich dieser maßgeblich an seinem Übersprung auf die Menschen sehr wohl beteiligt ist). Diesem Virus sind die Menschen gleichgültig, wie wir in diesem Jahr lernen mussten. Und das, nachdem Medien-, Kultur- und Filmwissenschaftler*innen seit Jahren in ihren Texten, Bild- und Soundanalysen nonhuman agency emphatisch anschreiben. Ob Klima, Erde oder eben Pandemie – der Mensch hat sich als ziemlich überflüssig bzw. geradezu als fahrlässig gefährlich gezeigt. Wie also umgehen mit diesen anderen Kräften, Agenten und Attacken? Die Liste der Vorschriften und Orientierungsangebote ist übers Jahr lang geworden – auf den kleinsten gemeinsamen Nenner verkürzt lauten sie: Ich-Party over! Oder etwas diskurstypischer: single being over, worlding needed! Während wir allesamt in eine große Leere fielen, manche weniger verzweifelt als andere, manche weniger panisch oder auch weniger existenziell bedroht als andere, manche mit Familie, alleine oder sich in viraler co-habitation (wie Zoë Sofoulis den neu sich etablierenden Lockdown-Haushalt genannt hat) einigelten, setzte gleichzeitig eine rastlose Suche nach Organisation, Struktur, Verlauf und Logik, nach wiedererkennbaren Mustern ein (nicht zu verwechseln mit dem angeblichen großen Plan von Bill Gates u.a., den die Querdenker*innen-Bewegung seit Monaten aufzudecken verspricht), um zu begreifen, was nicht zu begreifen ist. Vor diesem Grundmuster dieses Jahres lassen sich rückwirkend viele der von mir gesehenen Filme und gelesenen Bücher überraschend – oder auch nicht zufällig – zusammenführen.
Den letzten Film im Kino sah ich im Februar – Die Dohnal von Sabine Derflinger (2019), der Film über Johanna Dohnal, der ersten österreichischen Staatssekretärin für Frauenfragen ab 1979 in der Regierung Bruno Kreisky, von 1990 bis 1994 Bundesministerin für Frauenangelegenheiten. Viele ihrer Weggefährtinnen (und auch manche Gefährten) kommen zu Wort, Archivbilder und -filme lassen eine von mir teilweise miterlebte Zeit wieder lebendig werden, in der (aus heutiger Sicht) erstaunlich wenig für Frauen selbstverständlich war, heute inzwischen – dank Dohnal und vielen anderen – gesetzlich geregelt ist (z.B. die strafrechtliche Verfolgung der Vergewaltigung in der Ehe, Gründung des ersten Frauenhauses, Anrechnung der Kinderzeiten in der Pensionsreform). Was der Film unaufgeregt und immer wieder humorvoll deutlich macht: Wie schwer es ist, Realitäten aufzubrechen, Normalität zu verschieben, eine andere Sprache und politische Bereitschaft dafür zu finden – vor allem aber die Energie immer wieder aufzubringen, daran festzuhalten, dass das alles notwendig ist und Sinn macht (gesellschaftlichen Sinn, hin und wieder sicherlich auch persönlichen).
Auf Netflix dann Unorthodox, eine Miniserie von Maria Schrader, lose beruhend auf dem Roman von Deborah Feldmann (2012). Eine junge Frau aus einer ultraorthodoxen chassidischen Familie, Esther (Esthy) flüchtet aus ihrer Ehe von Williamsburg (NY) nach Berlin, um sich hier Schritt für Schritt aus dem Korsett einer von Regeln und Beschränkungen eingeengten Lebensführung (die für Frauen Perücke, Kinder, Küche bereithält, jeden vermeintlichen Fehler mit großem Schamgefühl bestraft sowie die Ansagen des Rebbes widerspruchslos zu achten befiehlt) herauszuschälen beginnt. Um sich wiederum in größter Angst und Unsicherheit mit dem Leben der anderen konfrontiert zu erleben –, und um sich in einem weiteren Schritt ihre Scheidung und das Sorgerecht für ihren Sohn zu erkämpfen. Wie sehr Strukturen in uns doch wirksam sind, unsere unbewussten Gedanken und kleinsten Bewegungen bestimmen und manipulieren. Die filmische Inszenierung von Berlin ist in meinen Augen dabei etwas zu vorteilhaft und einseitig geraten, alles lustige, junge Menschen, offen allen Fremden gegenüber, unbeschwert in die Seen des Berliner Umlandes springend. Umso beeindruckender die Darstellerin der Ich-Erzählerin, Shira Haas, die auch in anderen Netflix-Serien (Shtisel, 2013) schon zu sehen war.
‹Begreifen, was nicht zu begreifen ist› gilt auch für diese zwei Bücher, die mich über Wochen im ersten Lockdown über Wasser hielten. Schule der Rebellen (2020) von Charles King und Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln (2020 in deutscher Übersetzung erschienen) von Stuart Hall. Ich habe Stuart Hall noch in Birmingham auf einer der letzten, in meinen Augen guten, Cultural Studies Konferenzen erlebt. Lächelnd diskutierend, während er auf seinen Stock gestützt über den Campus ging. Das war im Jahr 2000. Race, rassistische, ethnische Diskriminierung und postkoloniale Dekonstruktion sind in den letzten Jahren (wieder) zu einer der gewichtigsten Fragen unserer Gegenwart geworden – dieser posthum veröffentliche Band von Hall erscheint also mehr als zeitgenau, um auf beeindruckende Weise in ein Denken kolonialer Subjektivierung einzuführen, deren heterogene, graduelle Dimensionen von Selbst- und Fremdzuschreibungen äußerst schwer zu entflechten sind. .....«I cannot become identical with myself» heißt es bei Hall an anderer Stelle einmal dazu. Race, Sex und Gender – das Mantra der Cultural Studies – wurde jedoch in der Schule der Rebellen ‹entdeckt› – von den Schüler*innen um Franz Boas, jenem aus Minden stammenden Anthropologen, der seine ersten Erkenntnisse bei den Indigenen der kanadischen Arktis sammelte, – und der in lebenslangem Clinch mit der Führungsriege nordamerikanischer Anthropologen stand, für die Rasse letztlich das war, was die Zugehörigkeit zu den Weißen ausschloss. Ruth Benedict, Margaret Mead, Zora Neale Hurston (die gerade entdeckt wird – Vor ihren Augen sahen sie Gott, (1937) 2011) gehörten u.a. zu diesem Kreis, der Kultur als pattern of culture verstand und diese über jeden eugenischen Ansatz setzte.
Es sind noch weitere Bücher, die sich in diesem Jahr gestapelt haben, u.a.:
The Last Humanity (2021). Francois Laruelle legt einen radikalen Denkversuch vor, um zu er- oder auch zu begründen, was es im 21. Jahrhundert heißen wird, Mensch zu sein. Ich habe erst ein paar wenige Seiten überflogen, auf denen beschrieben wird, dass die heute Geborenen die letzte Generation sein werden, dass eine neue ökologische Wissenschaft an die Stelle von Philosophie treten wird, die nicht in herkömmlichen Dimensionen gedacht werden kann …Und dann immer noch William Gibsons Agency (2020) – obwohl doch gerade dieser Autor uns schon vor längerer Zeit in die pattern recognition (Mustererkennung, 2004) eingeführt hatte.
«Auge und Umkreis» I - IX (Rainer Knepperges, 2018 ff.) • Abhängen an der BoarderKING Teleskop Klimmzugstange • Farbensehen: der rosarote Umschlag der Stroemfeldausgabe von Kurzecks Vorabend, Ls orange Socken am Schwarzen See, Kobalt- und Taubenblau • Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist (Sabine Herpich, 2020) • Ne croyEZ pas surtout que je hurle (Frank Beauvais, 2019) • «Notizen» (Ekkehard Knörer, 1.1.2020 ff.) • das schwingende Gleiten des Pelikan 400 EF mit Asa-Gao von Iroshizuku auf 52gsm Tomoe River Paper • Rahels erste Liebe (Günter de Bruyn,1985) • SARS-CoV-2 und die Leute, Texte, Bilder (und ich) • Sayat Nova – The Colour of Pomegranates (Sergei Parajanov, 1969) • The End of the Novel of Love (Vivian Gornick, 1997) • The Sound of the Mountain (Yasunari Kawabata, 1954) • «Thirty Recommendations for Good Writing Habits» (Lydia Davis, 2013) • Der Vogelgott (Susanne Röckel, 2018) • Wohnhaft Erdgeschoss (Jan Soldat, 2020) • Zen Body-Being (Peter Ralston, 2006)
First Cow
La merveille, qu’après avoir réalisé quatre ans plus tôt, comme le veut son titre, Certain Women, un film qui appartient aux femmes, Kelly Reichardt ait choisi pour son dernier film, First Cow, de ne s’intéresser qu’aux hommes. Avec le même art vibrant d’inscrire ses personnages dans des paysages et des décors qui leur collent à la peau comme peu de cinéastes savent le faire. Et toujours avec cet art à la fois réaliste et lyrique des costumes, dus ici à April Napier, dans les tons sourds accordés à la vie menée par les hommes dans la forêt, qui contrastent avec l’éclat lumineux des magnifiques robes de femmes chevauchant vers l’Ouest conçues il y a déjà dix ans par Vicky Farrel pour Meek’s Cutoff.
Séries/Mini séries/Films
Le développement frénétique des séries rend d’autant plus sensible à la forme intermédiaire de la mini-série dont un exemple récent a été donné par le magnifique Senses du japonais Ryusuke Hamaguchi, distribué en France il y a deux ans sous la forme d’un feuilleton en cinq épisodes, découpés en trois programmes successifs de cinéma (Senses 1 & 2, Senses 3 & 4, Senses 5).
Découvrir à un demi-siècle d’écart La Maison des bois de Maurice Pialat à la faveur du confinement est une expérience de vision un peu comparable, même si on y passe du cinéma au salon. De ces sept épisodes de 52 minutes, diffusés à partir du 11 septembre 1971 sur la deuxième chaîne de l’ORTF, on a pu dire que «Pialat filme dans une format bâtard entre le téléfilm et la série télé ce qui est sans doute son plus beau film.»
Réaliste, social, infiniment tendre et souvent cruel, servi par des enfants-héros exceptionnels et un instituteur emblématique joué par son metteur en scène, ce portrait campagnard de la France en guerre, émouvant parfois jusqu’aux larmes, devient aussi un des signes rétrospectifs du brouillage qui n’a cessé de se développer depuis si longtemps entre les formats d’œuvres et leurs dispositifs de vision.
Gregory Crewdson
Je découvre par une suite de hasards associés à l’activité du Fonds régional d’art contemporain Auvergne, l’un des plus remarquables de France, un immense photographe américain dont j’ignorais tout. Il filme des photos sur-mises en scène, montrant souvent des corps abandonnés, nus autant qu’habillés, dans des lieux désolés où ils paraissent convoquer l’éternité. Des photos composées comme des plans de Hitchcock vidés de tout affect, auxquelles le traitement numérique ajoute un supplément d’angoisse. Depuis toujours, Crewdson travaille ainsi avec la minutie d’un grand formaliste obsédé. Or il est arrivé, c’est l’argument central du bel essai du directeur du Centre d’art, Jean-Charles Vergne, qui a consacré à Crewdson une grande exposition, il est arrivé une fois que celui-ci faillisse à ses principes et photographie en rafales toute une nuit illuminée par des myriades de lucioles. Improvisation traumatique, pour ce forcené de la composition, qui lui fera «oublier» pendant vingt ans cette série où triomphe l’obsession documentaire et le pris sur le vif. Le regard du lecteur-promeneur est ainsi appelé à vivre de façon exacerbée, dans le beau catalogue de cette exposition, la tension qui anime les deux bords extrêmes de l’activité photographique.
Spuren des «Unjahrs»
Unhintergehbar und unvergesslich werden uns die vielen Unbekannten und gesichtslosen Verstorbenen dieser Pandemie noch über Jahre sein und weiterhin begleiten. Es braucht keine prophetischen Gaben, um vorauszusehen, dass Sie es sind, die als Wiedergänger*innen bleiben werden, indem sie auf Leinwänden, Bildschirmen und Bühnen uns auch daran erinnern werden, was wir in eben diesem Jahr so wenig hatten: Präsenz und Sozialität, lautes Lachen bei Kino- und Theatervorführungen, tiefes Durchatmen bei Konzerten, stilles Hineinhorchen in Lesungen und sich mit Freund*innen oder Kolleg*innen nach Vorträgen von Angesicht zu Angesicht austauschen!
Mich haben die Worte von Heiner Müller und Thomas Bernhard eine Weile begleitet: «AM ANFANG WAR DAS WORT. Wenn es den Schrecken formuliert, ist er vielleicht vermeidbar.» (Heiner Müller auf S. 87 in der von Franz Raddatz in diesem Jahr herausgegebenen Anthologie Der Amerikanische Leviathan). Und in einem Interview hebt Thomas Bernhard auf das generische Element in der Zerstörung und im Auslöschen ab: «Was heißt Auslöschung? Wiederbeginn des Neuen. Wo ein Ende ist, ist auch ein Anfang.» (auf Youtube: Krista Fleischmann, Thomas Bernhard – Die Ursache bin ich selbst, 1986. [3'54].) All das also, was alles ausgelöscht wurde oder nicht war, schafft Freiräume, Anfänge, Neues – etwa auch Unvorhersehbarkeiten: Die Last des Schreibens wird etwa auch als Privileg erkennbar – Puschkin schrieb Ein Fest in der Zeit der Pest in seiner produktivsten Periode zurückgezogen auf seinem Landsitz in Boldino während der Choleraepidemie von 1830/31. Unvorhergesehen sind daher auch die Entdeckungen einer Vielzahl von Podcasts. Auf der Suche nach der wieder eingeführten Weimarer Buchstabiertafel, bin ich auf den Podcast «Verschwörungsfragen» von Michael Blume gestoßen, der als Antisemitismusbeauftrager des Landes Baden-Württemberg einen wunderbaren Aufklärungs-Podcast mit historischem Tiefgang produziert. Eine Überraschung war die audiovisuelle Utopie des globalen-gemeinsamen Gedenkens per Videokonferenz zu Ehren von Samuel Webers 80. Geburtstag. Endlich Twin Peaks geschaut und die Dr. Mabuse-Referenz verstanden. Mit den Jugenderinnerungen von Annie Ernaux habe ich zwar ihr Werk von hinten aufgezäumt, aber mitunter weiß man ja nicht, was man in der Hand hält. Bleiben wird wohl auch ein «Corona-Sprech»: Aerosole, Home Schooling, in praesentia, hot spot, Inzidenz. Das lustigste Mem: Das berühmte Portrait des Malers Franz Hals von René Descartes mit dem Schriftzug: Covido, ergo zoom.
Mitte März, Champions League, FC Valencia gegen Atalanta Bergamo: Zuschauer*innen waren in Valencia schon keine mehr erlaubt, das Stadion musste leer bleiben. Ganz auf eine Stadionatmosphäre wollte man jedoch nicht verzichten und so wurden zumindest in der ersten Halbzeit aufgezeichnete Fangesänge und Publikumsgeräusche abgespielt, die überraschenderweise direkt aus den Stadionlautsprechern dröhnten. Dass dieses Gedröhne in keiner Weise mit der Dramaturgie des Spiels im Einklang stehen konnte, verwunderte nicht weiter. Viel irritierender war dermerkwürdig metallische Klang dieser Tonbandaufzeichnungen, der diesen seltsamen Moment verstärkte und das Spiel nur noch mehr der Realität entrücken zu schien.
Wenn ich nun an die vergangenen Monate zurückdenke, dann ist es dieser Klang, der für mich wie kein anderer Moment dieses Jahr zusammenfasst und diese Dissonanz zwischen der sich im März immer stärker abzeichnenden neuen Realität und der künstlichen Stadionatmosphäre hat mich die darauffolgenden Monate kontinuierlich verfolgt.
Sommer, Zombie-Apokalypse: The Last of Us Part 2: Dass mich dieses Game dermassen mitnimmt, damit habe ich nicht gerechnet. Langsam kämpfe ich mich durch diese zerstörte Welt (die, wie könnte es auch anders sein, durch ein Killervirus verwüstet wurde) und die Tragödie, die sich um Ellie, Dina und Abby entspinnt, wird mich wohl noch lange verfolgen.
Es war kein gutes Jahr um Filme zu schauen. Nicht nur wegen den geschlossenen Kinos, sondern auch weil sich mein Alltag extrem zerstückelt anfühlte. Zwischen Homeoffice, Kinderbetreuung und wieder Homeoffice waren längere Momente der Konzentration für Filme rar. Was mir jedoch in Erinnerung bleibt ist der schleichende und unergründliche Horror von She Dies Tomorrow (Amy Seimetz), die vier Stunden im Kino mit Malmkrog (Cristi Puiu), die Serie Devs von Alex Garland und vor allem City Hall von Frederick Wiseman, mein Film-Highlight des Jahres.
Viel gelesen habe ich dagegen und besonders vier Bücher werden mir in Erinnerung bleiben: Emmanuel Carrères Yoga und The Glass Hotel von Emily St. John Mandel, die beide vom Leben nach größeren und kleinen Katastrophen erzählen, sowie Piranesi von Susanna Clarke und The Ministry for the Future von Kim Stanley Robinson. Während Clarke einen Mann ein riesiges Gebäude mit unzähligen Räumen erkunden lässt, denkt sich Robinson in seiner Climate Fiction ein Ministerium aus, das ausschließlich Rechenschaft gegenüber zukünftigen Generationen ablegen muss. In seiner Mischung aus politischem Thriller und progressiver Klima- und Wirtschaftspolitik hat dieses Buch sehr gut zu diesem Jahr gepasst.
Kenji Mizoguchi im Arsenal / ein langer Berlinale-Tag mit The Works and Days (of Tayoko Shijiori in the Shiotani Basin) von C.W.Winter & Anders Edström im CUBIX am Alex, einschließlich der 5 Pausen / Kurven, Balken, Zahlen / The Time for Peace Is Now (Gospel Music About Us) / Spaziergänge, die zu Berlin-Wanderungen ausarten / Filme von Lynne Sachs / erster Kinobesuch nach dem Lockdown / Moyra Davey Peter Hujar bei Buchholz / Hannersdorf im Burgenland & Buschenschank Wagner / Clarice Lispector / #TEMPEST im Innenhof des Bellevue di Monaco / John Miller im Schinkel Pavillon / Luisenstädtischer Friedhof / Mush von Sonja vom Brocke / Pick-Up-Fenster / Ausflug ins Brücke-Museum in Dahlem zu Vivian Sutters Bonzo’s Dream am letzten Tag vor Lockdown 2 / Jury-Arbeit bei der Duisburger Filmwoche und Abwahl von Trump als Parallelgeschehen / Neige von Juliet Berto und Jean-Henri Roger (1981) und Mon coeur est rouge von Michèle Rosier (1976) beim Filmfestival Mannheim Heidelberg / Freunde & Jours fixes / Straßen, Plätze, Parks und Ecken in ganz Berlin.
Im Zeichen der Pandemie: Demobilisierung der akademischen frequent flyer, zoom fatigue, und anderes Jammern auf relativ hohem Niveau; die Stillstellung der Stadt im ersten Lockdown und die Wiederentdeckung der Seen im Nordosten Berlins mit A; As insistierendes ‹ich bin doch ein Grund!›; Konsternation und Ernüchterung angesichts der katastrophalen Folgen (nicht nur) europäischer Arroganz und Ignoranz, der Persistenz und Ausbreitung neofaschistischer Idiotien und Ideologien, des endlosen Staatsversagens angesichts von rechtem Terror in Hanau und anderswo; Dynamiken der Solidarisierung und Desolidarisierung im Großen und Kleinen; zur Orientierung im public health fiasco die tägliche Dosis @gregggonsalves; zum Schluss der bittere Weihnachtsgruß aus Moria.
An den langen Abenden zuhause unter anderem: zwei südkoreanische Serien: STRANGER 2 & THE GOOD DETECTIVE; zwei türkische Serien: BIR BAŞKADIR (ETHOS) & ALEF (ALEPH); drei Genealogien von Dissens und Protest: SMALL AXE, COCKROACH, MONOPOLY OF VIOLENCE --- Octavia Butlers Kindred; Didier Fassins Mort d'un voyageur: Une contre-enquête; Aimé Césaires Resolutely Black: Conversations with Françoise Vergès; Elsa Dorlins Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt; Nguyễn Phan Quế Mais The Mountains Sing; Musa Dağdevirens The Turkish Cookbook, die Neuauflage von Aras Örens Berliner Trilogie.
Mit das Schockierendste, was ich in diesem an schlechten Nachrichten nicht gerade armen Jahr gelesen habe, war die im September in der Zeitschrift Globalizations veröffentlichte Kritik Steven Keens an William Nordhaus. Nordhaus, Nobelpreisträger für Ökonomie, hat berechnet, wie sich verschiedene Klima-Szenarien auf die Wirtschaft auswirken würden, und wird seit den neunziger Jahren gerne von jenen zitiert, die mit Blick auf die Klimadiskussion gegen «Panik» argumentieren und «Besonnenheit» (oder so) anmahnen. Keens vernichtende Kritik zeigt die zahlreichen, eigentlich sehr simplen Denkfehler auf, die seinen Modellen zugrunde liegen. Man muss keine heterodoxe Ökonomin sein, um das leider ziemlich überzeugend zu finden. – An journalistischen Texten dieses Jahr ist mir besonders die ausführliche Reportage in Mother Jones von Bridget Huber über Fleischproduktion in den USA und Europa während der Pandemie in Erinnerung geblieben. – Mein Lieblingsbuch war der zweite Band der Kafka-Biographie von Rainer Stach. Und mein Lieblingsessay: «This Babushka has Talons» von Nell Zink, erschienen im Januar in n+1, kurz bevor dieses verrückte Jahr so richtig losging.
Berlin, Ende April: Der letzte Abend vorm «Kaisers» in der Fürstenberger Straße, der immer noch «Kaisers» heißt, obwohl er von Edeka betrieben wird, und die letzte existierende der Kaufhallen war, die vom Ost-Berliner Wohnungsbaukombinat zwischen 1971 und 1980 im Prenzlauer Berg errichtet wurden; so früh jedenfalls, dass die kleinkriminellen Jungs aus Thomas Heises Wozu denn über diese Leute einen Film? dort einsteigen konnten, um Alkohol zu klauen. Die Stimmung ist gelöst, wenn nicht übermütig, Freiluftgeselligkeit nach all den Spaziergängen, Radfahrten, Videokonferenzen, aber auch weil etwas verschwindet und man nicht weiß, wie das Gefühl heißt für den Moment, in dem es zum letzten Mal da ist. Wir stehen rum und freuen uns. Und S. geht, um mit besagtem Gefühl etwas anzufangen, noch mal rein ins alte Haus und kommt dann tatsächlich heraus als strahlender letzter Kunde mit einer Packung «Ariel», auf die es Rabatt gab. Inversion der Begrüßungsgeld-Währungsunion-Bilder 30 Jahre danach.
Frankfurt/Main, Ende August: Das Deutsche Museum für Schwarze Unterhaltung und Black Music öffnet, ein kleiner Raum für etwas Großes, das sich in allen Begegnungen und Gesprächen zeigt, so einfach wie einleuchtend, weil da der Zusammenhang ist, der tradierbar macht, was vorher Fragment war und wieder erzählbar wird in diesem Rahmen, durch diesen Rahmen. Dabei geht es doch nur darum, eine Geschichte zu schreiben, die immer schon da war.
Hiddensee, August: Doch so was wie Urlaub in diesem merkwürdigen Jahr, und dann der vorletzte Abend auf der Wiese vorm Gerhard-Hauptmann-Haus in Kloster zu Ehren von Hanns Cibulka, bei der auch, ganz zart, was von dem spürbar ist, was diese Zeiten mühsam und sorgenvoll erscheinen lassen, aber dann bricht das Gespräch darüber bald ab, weil nach dem Ende doch einigermaßen fix zurück nach Vitte gedüst werden muss, D. und ich fahren schon mal vor, durch die irrsinnige Mückendichte hindurch, den Kopf nach unten und zur Seite gesteckt, alles Zukneifbare zugekniffen, weil Barcelona gegen Bayern läuft, und als wir endlich vor dem Stream sitzen, steht es schon 1:4. Aber so ist das dann auch alles.
Zu viel. Mehr als sonst, kommt mir vor, drückt sich aus der Erinnerung in einen Vordergrund, der das Jetzt bestimmen und auch für die nahe Zukunft Ansprüche anmelden will. Besonders dabei: jede Menge Auseinandersetzung mit Gewohn- und Sicherheiten. Die Frage Wie viel Nähe geht? betrifft mich im Miteinander mit meinen Liebsten, meinen Anderen und mit mir selbst. Bei all dem hilft mir auch eine Wiederentdeckung von Emmanuel Levinas. Unter neuen Vorzeichen und mit dem Wunsch, dass die fundamentale Bedeutung der Anderen, die Levinas in den Mittelpunkt stellt und die – was ich jetzt brauche – komplett menschlich gemeint ist, planetarisch zu wenden ist.
Drei Kino-Erlebnisse rahmen etwas davon diesem Jahr. Das erste findet im Januar in einem kleinen Kino östlich von Berlin statt, das Freundinnen und Freunde zum Geschenk gemietet haben und in dem wir Karla gucken. Weil einige Teenager dabei sind, die mit diesem Schwarzweißfilm von 1965 und von über 130 Minuten Länge ja nicht unbedingt etwas anfangen können müssen, bin ich etwas nervös. Damit ist es vorbei, als der Kleinste der Runde, ein entschiedener Marvel-Freund, 12 Jahre, nach ungefähr einer Stunde aufs Klo muss und dann aber direkt vor der Saaltür mit dringlichem Blick zur Leinwand stehen bleibt, weil ihn da etwas so interessiert, dass er inne- und anhält bis die Szene vorbei ist.
Im Februar sehe ich zusammen mit dem größten mir bekannten Werder-Bremen-Fan Les Misérables in einem Kreuzberger Kino. Die letzte halbe Stunde macht alles noch besser, als es eh schon war, und endet mit einer großartigen Mischung aus Entschlossenheit und Ambivalenz, an die ich in den nächsten Monaten immer wieder denken werde. Wir sind total begeistert, bester Film des Jahres bis dahin (in Vorfreude auf die vielen Kinoabende, die dann nicht mehr kamen), und dieser Abend findet seinen ungeahnten Höhepunkt, als wir noch genau rechtzeitig zum großen Finale des Pokalspiels zwischen Werder und Dortmund in einer nahegelegene Kneipe einen guten Sichtplatz finden und den Überraschungssieg bejubeln.
In der ersten Septemberwoche sitze ich neben meiner Tochter in einem Multiplex und sehe Tenet. Um uns herum ein den Abstandsumständen entsprechend platziertes Publikum, ausverkauft. Die Freude der sich unbekannten Gemeinschaft, die alle mit Maske und Restrisiko ins Kino gekommen sind, nur um mit diesen Anderen gemeinsam das zu tun, was sie in den letzten Wochen zuhause qua Stream andauernd gemacht haben (same same but different), hilft dem Film unglaublich. Dass wir nach dem Abspann nicht geklatscht haben, war auch schon alles.
P.S. Fast taggenau in der Mitte dieses bewegenden und zugleich stillstellenden Jahres steigt Arminia Bielefeld nach über zehn Jahren Gefühlspaternoster zweiter und dritter Klasse in die Bundesliga auf. Ich wäre im Freudentaumel gern voll und ganz dabei gewesen. Ging nicht.
Es gab in diesem Jahr kaum Kino (schlimm), keine Fernreisen mit Nachtzügen (schlimmer), und kaum Konzerte (am schlimmsten).
B wie Bührle. Der Chipperfield-Bau des Kunsthauses Zürich steht nun also. Die historische Aufarbeitung zur Kontextualisierung der Sammlung Bührle mitsamt Gutachten wurde veröffentlicht. Es bleibt unverständlich, dass die Sammlung Bührle einen eigenen, von der Öffentlichkeit finanzierten Bau erhält, und nicht ins Museum integriert und im Rahmen von Wechselausstellungen zugänglich gemacht wurde. Fest steht, dass die Eröffnung des Hauses nächstes Jahr nicht (wie ursprünglich durch das Kunsthaus und die sozialdemokratische Stadtpräsidentin geplant) über die Bühne gehen kann. Es braucht nun noch mehr Druck, damit der sogenannte gesellschaftliche Kontext in die heiligen Hallen integriert werden muss.
C wie Cryptoleaks. Als ich am Abend des 12.02.2020 auf meinem Rechner die SRF Rundschau-Sondersendung ‹einschaltete›, hatte ich es wieder, dieses berauschende und verlorene Gefühl des synchronen Live-Fernsehens: Gleichzeitig mit Hundertausenden anderen Zuschauern war ich dabei bei der Berichterstattung zu den Cryptoleaks. Ob die Geschichtswissenschaft die Verwicklungen von Schweizer Dechiffrier-Unternehmen mit der Bundesverwaltung, mit Wissenschaftlern und mit Geheimdiensten angesichts von Geheimhaltungskoalitionen und Akten-Verschwindens-Aktionen je wird systematisch aufarbeiten können, ist leider zu bezweifeln.
D wie der Bob Dylan-Deal mit Universal. Der Deal hat wieder einmal die Gewinner des Copyright-Systems sichtbar gemacht: Die Starautoren und die Großverleger. Mit der Bewirtschaftung von Copyrights machen jene Kasse, die das größtmögliche Repertoire besitzen.
E wie Edition Moderne. An der Nachfolgeregelung scheitern viele, auch linke und alternative Betriebe. Wie das geht, hat Edition Moderne (der Verlag für Comics und Graphic Novels) vorgeführt. Ende 2019 hat David Basler den Verlag an Claudio Barandun und Julia Marti übergeben. Die beiden sind inzwischen mit ihrem Verlag in ein Ladenlokal mit Schaufenster in den Kreis 5 gezogen. Besonders cool: Das Verlagsprogramm wird immer weiblicher!
F wie Fiktion Kongo im Rietberg Museum. Mein letzter Museumsbesuch vor dem ersten Lockdown im März. Die Ausstellung beleuchtete die Sammlung des Kunstethnologen Hans Himmelheber, die er in den 1930er Jahren aus dem Kongo nach Europa brachte, und besonders erfreulich – auch wirtschaftshistorisch! Sowas ist im Kunsthaus Zürich noch undenkbar. (Vergleiche oben, B wie Bührle). Als Beigabe gabs noch kongolesische Gegenwartskunst. Mein Liebling: Die afrofuturistischen Astronauten von Ata Ndele Mokili.
F wie Frieden, die Mini-Serie von SRF, Arte und ZODIAC Pictures, geschrieben von Petra Volpe, unter der Regie von Michael Scherrer. Die Serie schafft, was die vielen Berichte der Bergier Kommission nach dem Holocaust-Bankendeal leider nicht geschafft haben: Dass man sich in breiten (über die Geschichtswissenschaft hinausgehenden) Kreisen mit der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg (und darüber hinaus) beschäftigt. Weiterhin zu sehen auf der neuen SRG Streaming-Plattform Playsuisse.
G wie Geschlecht im Stapferhaus Lenzburg. Ein praller und farbige Trip in die Geschlechterfrage. Bereits in der ersten Station im Panoramakino verfließen die vermeintlich eindeutigen Penisse und Vulven zu einem berauschenden Unterwasserkino. Prince lächelt vielleicht von oben und erfreut sich ob des vielen Purple im Stapferhaus.
H wie Tarik Hayward. Zuerst dachte ich an Baumaterial, als ich in Pontresina einen wohlgestapelten Turm aus Zementsäcken auf einer Wiese nahe bei der Busstation erblickte. Drei Wochen später war der Stapel dann mit einem Schild versehen: Tarik Hayward. Tower Built on Lies, 2020. Was würde aus der Kunst, wenn sie ohne Beschriftung und Katalog in den Raum träte? Tarik Hayward hätte auf jeden Fall Bestand.
L wie Lizzo bei «One World: Together At Home» im April. Ein wunderschönes Cover von A Change Is Gonna Come von Sam Cooke.
M wie Morricone. Ich war wohl nicht die einzige, die am 6. Juli auf YouTube nochmals seine besten Film Scores suchte. Meine Liste zum Abend war die: 1. Le clan des Siciliens (1969), 2. Uccellacci e uccellini (1966), Sacco e Vanzetti (1971) mit Here’s to You (Nicola and Bart) von Joan Baez, 3. Once Upon a Time in America (1984) mit Gheorghe Zamfirs Panflöte, 4. The Battle Of Algiers (1966) mit den revolutionären Trommeln.
N wie Nérija, mein letztes Konzert vor dem Lockdown im Februar im Moods. Kooler, kollektiver Nu-Jazz.
N wie Harald Nägeli. Seine Totentanzfiguren haben Leben in den Lockdown gebracht. Inzwischen sind sie im Zwingli-Zürich teilweise wieder weggeputzt. Und ihr Schöpfer endlich (gerade noch rechtzeitig) mit dem Zürcher Kunstpreis gewürdigt.
P wie Pati Hill in der Kunsthalle Zürich, mein letzter Ausstellungsbesuch am 19. Dezember vor dem zweiten Museumslockdown. Wie sich das für ordentliche Copy-Art gehört, hat Frau Hill seit den 1970er Jahren alles auf den Xeroxkopierer gelegt, was ihr unter die Finger kam. Noch nie war ich allerdings so entzückt, wie an jenem Samstag, als die Aufsicht für mich mit weißen Handschuhen die superfragilen Mappen durchgeblättert hat. Und nie waren Blue-Jeans schöner abgebildet als in Hills elektrostatischen Pulverbildern in blauer Farbe.
R wie das Kino Rex in Pontresina, das sich u.a. mit der Sennerei und der Dorfmusik ein Haus teilt. Einst während Jahrzehnten von Christian Schocher geführt, wurde es 2013 wiedereröffnet. Im Januar ahnte ich noch nicht, als ich im Rex Knives Out und The Farewell gesehen habe, daß Kinobesuche bald unmöglich sein würden.
R wie Reisender Krieger von Christian Schocher aus dem Jahr 1981. Der Directors Cut ist 2008 als DVD erschienen. Ich hatte die DVD im Januar in Pontresina im Gepäck. Vielleicht der beste Film des ausgehenden 20. Jahrhunderts aus der Schweiz.
S wie der Skross-Reiseadapter. In der Nacht vom 27. auf den 28. März, am Tag 14 der «Auserordentlichen Lage» träumte ich Beunruhigendes. Und das ging so: Wir gehen zusammen in einen Zivilschutzbunker. Es ist alles ganz harmlos. Man kennt sich, Freunde. A. ist auch da. Und immer mehr Leute kommen rein. Es ist eine fröhliche Atmosphäre. Und irgendwann, unendlich lang ging das, fange ich an, die Tür zu schließen. Es war meine Aufgabe, die Tür zu schließen. Doch eine junge Frau (ich kenne sie nicht) fragt besorgt: Wie geht das? Ich will es nun machen, diese Türe zumachen, und es geht ganz schlecht. Es geht nicht. Dieses Schloss ist eigenartig. Ich will es verstehen. Es hat Stäbe, die ausgefahren werden müssen und einrasten. Ein grosses Veloschloss? Doch es ist eben nicht ein Veloschloss. Es ist eigentlich aus Plastik. Was ist denn das? Verdammt! Irgendwann wache ich auf. Die Frage lässt mich nicht los. Ich döse wieder ein. Und als ich wieder aufwache, weiss ich es: Es ist so ein Reiseadapter, wie ich ein paar davon in der Schublade liegen habe. Immer wieder zur Not auf dem Flughafen für Reisen gekauft. Der World Adapter von Skross. Schweizer Qualitätsware. «Innovative Lademöglichkeiten für Weltenbummler». In der «Ausserordentlichen Lage» natürlich komplett unbrauchbar.
T wie die große Christina Thürmer-Rohr, die im Januar im Literaturhaus in Zürich zu Gast war. Die Essaysammlung Fremdheiten und Freundschaften (2019 bei transcript erschienen) ist eine unbedingt Leseempfehlung – gerade in Zeiten, in denen es auch Feministinnen manchmal schwerfällt Ambivalenz zu denken.
U wie Ulli Lust. Ihre coronasicheren Seminare auf YouTube waren das beste Online Teaching im Covid-19-Digitalcamp
V wie Visions du Réel, mein erstes Online-Festival. Das Highlight (und passend zum Lockdown) war Nemesis von Thomas Imbach. Zeitkapsel, Zeitraffer, Zeitverschwender. Kino halt.
Was von 2020 bleibt?
Zu wenig im Kino gewesen.
Zu wenig im Theater gewesen.
Zu wenig bei Konzerten gewesen.
Zu wenig gewesen.
Aber viel Netflix geschaut.
Zu viel als dass viel hängen geblieben wäre.
Grundsätzlich vielleicht so: Ein Lieblingssong, für dessen Refrain es in diesem vermaledeiten Jahr weder Raum noch Zeit gab. «It was a very good year». Die Platte, die in früheren Jahren vielfach auf dem Plattenteller lag, wäre in 2020 nur mit gesteigertem Masochismus zu ertragen gewesen.
Am Ende aber doch manch Schönes. Immerhin.
Gereist und gegessen: In Saarbrücken, Ende Januar, schwänze ich die Preisverleihung eines Festivals, sitze bei «Hilde + Heinz» bestelle Dibbelabbes und Gefilldes. Gut und unaufgeregt sitzen, genussvoll essen und an Peter Kubelka denken. Das einzige Mal, da ich Kubelka in echt begegnet bin, riet er mir: «Wenn man anderswo ist (und isst), nie etwas wählen, was man schon kennt.» Zurück in Berlin auch noch mal seine Verbeugung vor einem guten Kalbsschnitzel rausgekramt: «Aus dem Schenkel eines jungen Kuhmädchens wird ein dünnes Stück lebendiges Fleisch herausgeschnitten und mit federnden Schlägen weichmassiert. Es wird geschmückt mit feinen, gestoßenen Salzkristallen. Es wird eingehüllt, zuerst in einen Schleier aus den lebend zermalmten Samen einer Pflanze, dann in ein Kleid aus rasch ineinander geschlagenen, lebenden, ungeborenen Hühnern, dann in einen Mantel zerriebenen Brotes (den Ruinen eines alten Kunstwerks). Nun wird das neue, menschengeschaffene Wesen jenem Element ausgesetzt, welches das Leben zum Blühen bringt: Sonnenlicht, in seiner konzentrierten Form: Feuer … etc. etc.» Kochen und Essen als fernes Echo archaischer Opferfeste. (Unmittelbar im Anschluss noch mal auf YouTube angeschaut: Kubelkas Besuch im Philosophischen Quartett [ZDF, 2003], wo er sich über Frankfurter Würschtel und den Mund-Anus-Schlauch auslässt, was die Gesichtszüge von Safranski und Sloterdijk wie auch den anderen Gästen trefflich zum Entgleisen bringt.)
Gehört und überlegt (1): L. liest aus einer Meldung von Pro Quote Film vor, dass man seit neuestem Projekte feiern könne, in denen «Frauen als Dreh- und Angelpunkt von Geschichten» fungieren. Als Beispiel dafür diente, glaube ich Bad Banks (2018/2020). Eigentlich eine schöne Faktencheck-Aufgabe: was ist mit Showgirls (1995)? Silkwood (1983)? Neun Leben hat die Katze (1968)? Abschied von gestern (1966)? Vielen Mizoguchi-Filmen (1923-1956)? Und weil diese Meldung, glaube ich, aus dem zeitlichen Umfeld der Berlinale kam, was ist mit den King Vidor Filmen Duel in the Sun (1946), Beyond the Forest (1949) und Ruby Gentry (1952)?
Gehört und überlegt (2): Vergnügen am Wiederhören alter Audio Cassetten. «Inzwischen denke ich, dass Heimat eine Religionsform ist. Und speziell Berlin ist die Stadt, die mir die Unnötigkeit von Heimat deutlich macht. Berlin macht Mütter und Väter überflüssig. Es ist für mich die Stadt der Geschwister.» Aufzeichnung eines Gesprächs mit Teresa Salema Cadete, portugiesische Germanistin (u.a. «Entre Dois Países», 1978).
Gehört und gewundert: Im April, nach ausgefallenem Bretagne-Urlaub ausgiebig im Auto in Brandenburg unterwegs. Regelmäßig Autoradio. Verwunderung, dass der rechtsextreme Lübke-Attentäter in den DLF-Nachrichten immer nur «Stephan E.» genannt wird. Wieso eigentlich dieser diskrete Umgang mit dem Nachnamen des Mörders? Anderswo (nur ganz zum Beispiel RTL) hat der Mann ganz selbstverständlich seinen vollständigen Namen: Stephan Ernst.
Gesehen und gehört (1): «Helden sind entweder saudumm oder sturzbesoffen». Aus Nachts, wenn der Teufel kam (1957).
Gesehen und gehört (2): «Wenn das Gebälk in Flammen steht, kannst Du nicht über die Farbe der Dachziegel diskutieren». Einer dieser gnadenlos trockenen Erklärungen von Albrecht Broemme. Er war lange Jahre Leiter der Berliner Feuerwehren und auch des THW. Im Frühjahr war er verantwortlich für die Einrichtung der Corona Notfallstation auf dem Berliner Messegelände. Seit November koordiniert er den Aufbau der Berliner Impfzentren). Ein Held. Oder eben kein Held (s.o.). Ich muss unvermeidlich an Martha Gellhorn (1908-1998) denken, die geniale Kriegsreporterin, Kollegin von Capa, Gattin von Hemingway und gestandene Trinkerin, die die Männer in ihrem Leben einmal als «brave men» bezeichnete und hinzufügte: «Brave men are funny!»
Gelesen: Von Lektüre über Prognose und Hochrechnung zur Übertragung auf den eigenen Leib. In seinen Aphorismen zur Lebensweisheit (VI) schrieb Schopenhauer (1788-1860), dass die ersten vierzig Jahre unseres Lebens den Text liefern würden, die folgenden dreißig den Kommentar. Und weiter: «… den Kommentar, der uns den wahren Sinn und Zusammenhang des Textes nebst der Moral und allen Feinheiten desselben erst recht verstehen lehrt.» Im Geburtsjahr Schopenhauers betrug die durchschnittliche Lebenserwartung knapp 30 Jahre. Schopenhauer selber wurde 72. Wenn ich das Mittel zwischen gesellschaftlichem Durchschnitt und Schopenhauerscher Abweichung berechne und mit dem demographischen Status Quo von knappen zweieinhalb Jahrhunderten später in Beziehung setze müsste ich eigentlich drauf kommen, wieviel Zeit mir noch bleibt, ab jetzt den Sinn und Zusammenhang des Textes nebst der Moral und allen Feinheiten desselben mit Kommentar zu durchdringen. Aber da ich in Mathematik schon immer mehr oder weniger eine Niete war, werd’ ich’s wohl nehmen müssen wie’s kommt. (Bloß mein Archiv will ich trotzdem gern noch in Ordnung bringen.)
Wiedergelesen: Frühsommer. Eine der letzten längeren ICE-Fahrten. Zielsicher den Speisewagen angesteuert. Auf dem Tisch, den ich mir aussuche ist ein abgegriffener Simenon-Roman liegen geblieben: Der Untermieter. Seltsame Wiederbegegnung. Vor inzwischen fast 40 Jahren habe ich das Ding als junger Mensch übersetzt. Eigentlich ziemlich gut, finde ich immer noch. Bloß stößt mir auch schnell wieder das Grundproblem der Übersetzung auf: der Grundriss des verschachtelten Hauses, in dem zwei Drittel des Buches spielen, stimmt nicht. Die zuständige Diogenes Lektorin hatte damals die labyrinthisch angeordneten Halbebenen des mehrfach mit Um- und Anbauten versehenen Bergarbeiterhauses in Liège in eine schlichte westdeutsche Reihenhaus-Architektur umredigiert. Als Novize im Metier, war ich zu schüchtern gewesen, um einen Aufstand zu machen. Gewurmt hat’s mich dennoch – über Jahre hinweg. Ich werde mir jetzt den Untermieter doch noch mal vornehmen, um wie verspätet auch immer, dem Sinn des Textes, seiner Moral und anderen Feinheiten auf die Schliche zu kommen. (Und beim neuen deutschen Verlag von Simenon ist man noch nicht mal abgeneigt!)
Umgenietet: Mitte September, früher Samstagmorgen. Ein Schlag, der mich anfällt. Dank L. liege ich eine Viertelstunde später auf der Intensivstation in der Brandenburgischen Kreisstadt. Ein Satz, den mir eine fabelhafte Ärztin immer wieder zum Nachsprechen vorsagt, wird zum Mantra des Jahres: «Die Katze tritt die Treppe krumm.» Heulen vor Glück, als mir das nach Tagen halbwegs wieder so über die Zunge kommt, wie ich eigentlich immer dachte, dass es normal und selbstverständlich sei! In den daran anschließenden Wochen viele gute Wünsche und Geschenke. Darunter auch Joachim Meyerhoffs Buch: Hamster im hinteren Stromgebiet. Vor kurzem hatte ich mich noch darüber darüber lustig gemacht: Obacht vor Schauspielern, die sich zu Selbsterfahrungs- oder Krankheitsbüchern hinreißen lassen! In mehreren schlaflosen Nächten der Rekonvaleszenz aber rückt mir Meyerhoffs Schreibe dichter auf den Pelz als mir lieb ist: «Die Angst ließ mich einfach nicht in Ruhe, war lästig, und dadurch, dass mein Körperempfinden aus dem Lot geraten war, schien auch die Nacht schief. Das Dunkel um mich herum war gegen den Raum verkantet, passte nicht recht ins Zimmer und verursachte mir Schwindel. So als hätte jemand eine Schachtel Dunkelheit geschenkt bekommen und sie falsch herum zurück in den Karton gestopft. Oder war das Schwarz bloß in meinem Kopf? Schon immer hat mich das erstaunt, wie finster es in einem ist. Das Gehirn sieht auf Abbildungen so schön weiß aus, so licht, aber eigentlich wird jeder Gedanke in lichtloser Finsternis gedacht.»
Aufgeatmet: Erstes Novemberwochenende. Man kann dem Mann, dessen Namen man lieber nicht mehr ausspricht, vieles vorwerfen, allerdings nicht, dass er mit seiner Verachtung der amerikanischen Demokratie hinter dem Berg gehalten hätte. Bereits bei seiner Antrittsrede 2017 hätte man wissen können, dass es für ihn gar nicht im Bereich des Vorstellbaren lag, je eine künftige Wahl verlieren zu können bzw. zu wollen. Man erinnere sich, im zweiten Satz seines Inauguration Speech von 2017 hieß es, «Gemeinsam werden wir den Kurs Amerikas und der Welt für viele, viele Jahre bestimmen.» Konnte irgendjemand Zweifel hegen, dass dieser Mann, wenn er «viele, viele Jahre» sagt, sicher nicht nur von einer, im Höchstfall (!) zwei Wahlperioden sprach. Anfang November 2020 jedenfalls tiefes Gefühl der Dankbarkeit, dass diese viel zu lange Zeit, da dieser ungebildete, unflätige Lackaffe sich anmaßte, die Geschicke eines verdammt tollen Landes zu bestimmen, mit jeder neuen Nachrichtensendung in die eigenen vier Wände einzudringen und den Herzschlag zuverlässig wieder aus dem Takt zu bringen, endlich ein friedliches Ende gefunden hat. Novembertage, die mir am Ende wie verfrühtes Weihnachten vorkamen und Lust auf Capra Filme machten: It happened one Night (1935), Mr. Deeds goes to Town (1936), Mr. Smith goes to Washington (1939).
Call my agent ist die schönste Serie, die ich dieses Jahr gesehen habe. Es gab auch andere gute (Fleabag, Normal People, besonders auch Gösta, gerade in der ARD-Mediathek vom lange verschwundenen Lukas Moodysson), aber doch, diese Serie über eine französische Agentur, die Schauspielerinnen* betreut, steht an erster Stelle. Schade zwar, dass die Serie auf Amazon Prime nur auf deutsch zu sehen ist, aber immerhin ist sie zu sehen. Und trotz der Synchronisation bleibt sie von A bis Z französisch. Jede Folge dreht sich um 1-2 echte Schauspielerinnen*, die von den 5 Agentinnen* in ihren leicht schrulligen und narzisstischen Auftritten begleitet und betreut werden. Vertreten ist das Who‘s Who der Branche: Cécile de France, Guy Marchand, Isabelle Adjani, Christopher Lambert, Juliette Binoche, Monica Belluchi, um nur einige zu nennen, natürlich auch die unvermeidliche Isabelle Huppert (deren Allgegenwart im Weltkino allerdings dadurch thematisiert wird, dass sie zwei Rollen für unterschiedliche Produktionen in einer Nacht zugleich spielen muss und dies natürlich so professionell-kühl hinbekommt, wie man es von ihr erwartet). Da sich auch zwischen den Agentinnen* ein Netz von Eifersüchteleien, Sehnsüchten, Intrigen und Bösartigkeiten entspinnt, entfaltet sich ein wunderbares Panorama von Problemen und Allüren, die sich von den meisten US-amerikanischen Produktionen absetzt. Call my agent ist (natürlich) verspielter, erotischer (nicht dieses kalkulierte «Jetzt muss noch die Sexszene rein» der US-Amerikaner), vertraut der moralischen Fragilität der Figuren und damit uns Zuschauerinnen*, dass wir damit schon klarkommen, ist aber trotzdem existenziell, denn es gibt eben nur dieses eine Leben. Call my agent lässt aber besonders in den Auftritten der bekannten Schauspielerinnen* nicht nur das irgendwie (gerade 2020) vergangene Kino lebendig werden, sondern balanciert die Verstricktheit des Wahren ins Fiktive und Imaginäre so wunderbar aus, dass die seit der Nouvelle Vague im Kino schwindenden Grenzen zwischen Wirklichkeit und Wunsch mit den Mitteln der Serie fortgeschrieben werden.
Eine andere, nicht-US-amerikanische Serie, die sich lohnt, ist O mecanismo von José Padilha (in zwei Staffeln auf Netflix). Padilha, einst mit Tropa de Elite (2007) bei der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, hatte zuvor in Narcos (ebenfalls auf Netflix) das Treiben des Drogendealers und Mörders Pablo Escobars in Kolumbien thematisiert. O mecanismo handelt von der Operation Lava Jato (Autowäsche), die gigantische Korruptionsaffäre um den halbstaatlichen Ölriesen Petrobas, die zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens Politiker und mächtige Unternehmer (hier kann man auf das Sternchen verzichten, nahezu nur Männer) zur Strecke brachte. Darüber hinaus war Lava Jato der Auslöser für den Fall der Arbeiterpartei, legte die Grundlage für das Impeachment Dilma Roussefs (2016) und den Sieg Jair Bolsonaros bei der Präsidentschaftswahl 2018. O mecanismo ist vor allem von linken Gruppen kritisiert worden, weil sowohl Ex-Präsident Lula als auch Dilma Rousseff als Mitwissende und Bestandteile des Korruptionsnetzwerks behandelt werden. Die Rolle von beiden ist bis heute unklar, Rousseff ist bisher nichts nachzuweisen, Lula ist verurteilt, aber im Moment auf freiem Fuß, da das Urteil der letzten Instanz erwartet wird. O mecanismo geht es aber nicht so sehr um die Schuld des Einzelnen, sondern um die Korruption, welche die brasilianische Gesellschaft im wahrsten Sinne des Wortes um den Verstand bringt. Ermittler, Politiker, Unternehmer bilden selbst ein Netzwerk der Obsession, der verzweifelten Jagd und des Verrücktwerdens, in dem es kein Außen mehr zu geben scheint. Korruption und Nepotismus, so erzählt es ausgerechnet der schuldige Petrobas-Vorstandschef im Verhör, ist seit dem Beginn der Unabhängigkeit Brasiliens von Portugal, also seit 1822, eine so tief verwurzelte Ausprägung der Gesellschaft, so dass gerichtliche Verfahren kaum etwas ändern dürften. O mecanismo verzichtet auf melodramatische Liebesgeschichten und konzentriert sich auf die Infrastruktur von Korruption, Ermittlung und Verhör, die im düsteren Design brasilianischer Großstadtfassaden inszeniert werden.
Anfang Januar: Bruno Dumonts JEANETTE und JEANNE D’ARC als Double Feature in Köln-Kalk. Habe beide Filme für sich, aber besonders als Programmbündel und Sinnzusammenhang genossen: die anachronistische Wiederbesetzung von Lise Leplat Prudhomme, die Variationen von Metal und Pop, den Kurswechsel von der horizontalen Prärie zum vertikalen Sakralbau und die rhythmischen Bewegungen zwischen Paukenschlag und Pferdetrab, zwischen Gesangschoreografien und Sprachmelodien. Das war der erste von nur vier regulären Kinogängen in diesem Jahr; wahrscheinlich also, dass bereits hier meine nachträglichen Überbewertung «der Kinosituation» durchscheint.
Ein anderes Beispiel: Am 26. Januar Claude Lanzmanns SHOAH im Filmforum NRW gesehen. Richtet man an dieses memorialkulturelle Opus Magnum nun so eine profane Frage wie «Was bleibt?», dann zielt meine Antwort erneut auf das Kino, genauer noch: auf dessen Pausen. SHOAH wurde in drei Blöcken à drei Stunden gezeigt. Dazwischen halbstündige Pausen (und ein Podiums- und Publikumsgespräch). Diese Pausen sind nichts Besonderes. Weder unbeschwertes Residuum noch wirkliche Kontemplations- oder Reflexionsmöglichkeit (gleichwohl es ein sehr mulmiges Gefühl war, in der Raucherpause auf den Kurt-Hackenberg-Platz zu starren, nachdem Köln als Standort der Täterinterviews filmisch etabliert wurde). Was diese Pausen aber sind: ein unvermittelter Schnitt mit dem Film (sie sind nicht entlang irgendeiner filmischen Struktur terminiert) und meine Wiedereinführung in eine soziale Situation. Die körperlichen Gelüste (fix zum Bäcker, Toilette, Zigarette) sind schnell gestillt. Was bleibt ist ein Haufen an toter Zeit, den man sich mit basalem Smalltalk unter Bekannten oder am Kaffeetresen vertreiben muss, während der Film mich weiter beschlagnahmt hat. Pausen als geöffnete Zeitfenster, die durch die Bilder des Films aber immer schon besetzt sind – nur eben nicht vollends ausgefüllt. Vielleicht also eher ein Intervall als eine Pause? Ich will mir zumindest einreden, dass dieser nachdrückliche Irritationseffekt der Pausen beim Screening von SHOAH nicht nur Ergebnis der eigenen sozialen Ungelenkheit (und auch nicht das paralysierende Resultat der «Krassheit» von Geschichte) ist, sondern auch etwas mit Lanzmanns filmischem und historiografischem Programm zu tun hat.
Dann Berlinale-Flow im Februar: FIRST COW, THE WOMAN WHO RAN, PURPLE SEA, AN AMERICAN ROMANCE und LETTER TO A FRIEND (buchstäblich Forensic Architecture «avant la lettre»). Das restliche Jahr als (und via) Stream: BILDNIS EINER TRINKERIN, VARIETY, VON WEGEN SCHICKSAL, SUPERMARKT, KUNST KOMMT AUS DEM SCHNABEL WIE ER GEWACHSEN IST und A PLACE IN THE SUN.
Abschließend, X-Mas: Zum x-ten Mal Douglas Sirks ALL THAT HEAVEN ALLOWS, aber dieses Jahr besonders zeitgeistig. Jane Wyman kommt kaum unter Leute, schaut viel aus dem Fenster und verguckt sich in Rock Hudson – einen DIY-Burschen mit Naturfetisch. Wymann ist zum «Social Distancing» angehalten, ergo die wohlhabende Witwe solle sich vom simplen Gärtner fernhalten (das eigentliche Problem ist freilich nicht sein proletarischer Status, sondern seine proletarische Statur). Jane will die ganze Sache aussitzen und braucht eine Pause von Rock. Unterdessen Weihnachten im engsten Familienkreis. Die Kinder sind auf Durchreise (Paris bzw. die Ehe sind die nächsten Stationen) und karren zur Bescherung einen Fernseher für Jane heran: «All you have to do is turn that dial and you have all the company you want.» Janes Symptome (Kopfschmerz) verschlimmern sich, ohne dass ihr der Arzt weiterhelfen kann. Denn für das Leben und die Liebe kann er nichts verschreiben. Am Ende fügt sich zwar alles, doch gelöst wird eigentlich nichts. Rock ist bettlägerig (Langzeitfolgen unklar), aber die idyllische Schneelandschaft spendet zeitweise etwas Trost.
Wissenschaftliche Aufsätze ohne Peer Review haben 2020 das Horror-Genre endgültig ersetzt. Es stimmt leider: Der erste Eindruck ist der wichtigste, auch wenn er völlig falsch sein mag. So blieb das Bild des Covid-Joggers aus einem Paper belgischer Physiker vom März 2020 bis heute in meinem Kopf hängen: Eine krude 3-D-Computersimulation eines keuchenden Läufers, der eine Wolke von Viren hinter sich herzieht. Bis heute halte ich die Luft an, wenn ein Passant zu dicht an mir vorbeigeht. Das Genre der 3-D-Tröpfchenwolkenvisualisierungen feierte täglich neue ästhetische Triumphe, begründete eine arte povera der Science-CGI aus Spurenelementen von LaTeX, R, Lawnmower Man, Unreal Engine, New Aesthetic und blender.org. Ein Adept des HR Giger ließ im Rahmen einer Hustensimulation tausende Tentakel aus dem Gesicht eines CoV-Dummies wachsen, die meisten anderen verließen sich auf Punktewolken, die an Artefakte zeitgenössischer Photogrammetriesoftware erinnerten. JG Ballard hat des öfteren darauf verwiesen, er habe die Inspiration für seine spekulativen Texte gerne aus «grauer Literatur» extrahiert, aus den Textfossilien wissenschaftlicher Prozesse, aus Tagungsbänden und Pre-Papers. Der Horror lagert gigabyteweise auf arXiv.org und Academia.edu, die Universität als Institution ist ohnehin zu einem Lovecraft-Bunker verdunkelt, dessen schattenhafte Bewohner bald nicht einmal mehr durch Kettenverträge an die basaltenen Wände gefesselt werden können. Horror und Wissenschaft sind untrennbar eins. Darum ist der einzige Film, den ich 2020 gesehen habe, der in meinem Kopf. Es ist der Covid-Jogger, der Running Man des viralen Obskurantismus.
Im Herbst 2020 fand ich auf dem Gehweg vor meiner Wohnung eine Tüte voller toter Wellensittiche und wunderte mich darüber mutmaßlich weniger, als ich es in einem anderen Jahr getan hätte. Es war eine Discounter-Brötchentüte aus braunem Papier, auf der «Noch mehr sparen mit der Lidl-App» stand, sie war gefüllt mit gut zwei dutzend toten Vögeln und ich war mir sofort sicher, dass es eine logische Erklärung dafür geben musste. Das Jahr lief schon eine Weile zu diesem Zeitpunkt, es war jene Phase der Corona-Zeitrechnung, die sich nach einer unendlichen Dehnung des Aprils anfühlte: eine zähe Dauereskalation ohne Katharsis, der man sich mit müder Fassungslosigkeit entgegenstellte. Niemand konnte mehr sagen, wann genau der Präsident der USA vorgeschlagen hatte, zur Bekämpfung des Virus Sonnenlicht ins Innere des Körpers zu bringen, Kyle Rittenhouse hatte zwei Demonstranten auf einer Black Lives Matter Demo erschossen und in Deutschland hatten rechte Verschwörungstheoretiker*innen versucht, den Reichstag zu stürmen. «Welcome to The Cool Zone» sagten wir, wenn vage apokalyptisch anmutende Dinge wie die Sache mit den Wellensittichen passierten, die auf eine Verschiebung der Regeln der Realität selbst zu verweisen schienen – nach einem viralen Tweet von Sean Moorhead, der das 2020-Gefühl Anfang April auf den Punkt gebracht hatte: «If unemployment exceeds 30% and distrust of the political process becomes widespread, there is a danger that the United States will enter what historians call The Cool Zone». Cool-Zone-Memes verwiesen bald nicht nur auf die Möglichkeit politischer Verschiebungen, sondern auf veränderte Möglichkeitsbedingungen generell: «The Cool Zone is a period of human history where everything feels possible, for better or for worse», beschrieb Gita Jackson das Gefühl in ihrem Artikel «We’re All Living In The Cool Zone Now» für das Vice-Magazine. Gelegenheiten für Cool-Zone-Memes gab es viele. Im Urlaub in Venedig zum Beispiel, wo es laut dem Concierge so leer war wie seit den 1970er Jahren nicht mehr, und wo wir an jeder Brücke auf Gruppen deutscher Tourist*innen trafen, die einander erklärten, was «Banksy» ist – wohl die bei Google-Maps eingetragenen Streetart-Pieces des Künstlers zum Anlass nehmend, um Gespräche über das in Not geratene Rettungsschiff zu führen, das er finanziert hatte. Als Souvenir brachten wir eine Mund-Nase-Bedeckung mit dem Bild der Kirche Santa Maria della Salute mit, einst gestiftet nach dem Ende einer Pestepidemie, die 30% der Einwohner*innen Venedigs das Leben gekostet hatte. Das Essen war hervorragend. Welcome to The Cool Zone. Mit besonderer Aufmerksamkeit guckten wir Filme über Epidemien und solche, die eine Auflösung von Raum und Zeit behandelten. Dass sich die Zersetzung der Gegenwart nicht wie Christopher Nolans Tenet anfühlt kann ich nach diesem Jahr mit Gewissheit sagen. Als Katastrophenfilm unerwartet eindrücklich erwies sich dafür Der Superstau (1991) mit seinen «Wir sind der Stau!»-Sprechchören und den lakonischen Nachwende-Gags – irgendwas ist da, was noch nicht verstanden scheint. Wenn ich nicht mit Zoom-Calling oder Doom-Scrolling beschäftigt war, begegnete ich der ästhetischen Normalisierung des Undenkbaren, indem ich Podcasts hörte. Es war mein Jahr mit Jamie Loftus. «My year in Mensa» hörte ich, viele Stunden «Bechdel-Cast» und den «Lolita Podcast». Inspiriert von Loftus wählte ich das «Jane Fonda Workout» von 1982 als Indoor-Fitness-Routine. Schon nach wenigen Wochen überholte der Clip in meiner Playlist die bislang uneinholbaren Abspielzahlen des zuvor am häufigsten von mir gesehenen Videos Star Trek – First Contact (1996). Machte ich draußen Sport hörte ich Peladas Movimiento Para Cambio und vermaß meine Form-Fortschritte (und Rückschritte) am Verhältnis von Tracklist zu Streckenverlauf. Sonst hörte ich Good Sad Happy Bad – Shades; Shabjdeed & Al Nather – Sindibad El Ward; Julia Reidy – Vanish, Yves Tumor – Heaven to a Tortured Mind, Lorenzo Senni – Scatto Matto und Matti Gajek – Vitamin D. Gajek sah ich nicht nur jeden Tag zu Hause (niemand ist gependelt 2020), sondern auch im einzigen Konzert des Jahres zusammen mit Audrey Chen und Lawrence Lek in der Berliner Traumabar. Dort, zwischen zwei Lockdowns, saßen wir (unter Einhaltung aller Abstandsregeln) an einem Tisch mit drei Leuten aus drei unterschiedlichen Ländern, die unabhängig voneinander 2020 Ursula K. LeGuins The Dispossessed (1984) gelesen hatten – genau wie wir. Klingt unwahrscheinlich? Welcome to The Cool Zone. Vogel des Jahres 2020 wurde die Turteltaube, trotz der überlegenen Kampagne der Nebelkrähe mit dem schlicht korrekten Slogan «Nebelkrähe – Mehr Berlin geht nicht». Dass man zu Gunsten der Demokratie politische Kompromisse machen würde, war zu diesem Zeitpunkt schon klar. Bidens Sieg feierten wir als wäre es der Eurovision Song Contest, am Ende jener Phase der Corona-Zeitrechnung, die sich nach einer unendlichen Dehnung einer Woche im November anfühlte. Es war generell ein bisschen einsam. Man ging spazieren. Man telefonierte. Zu Stoßzeiten abonnierten wir vier unterschiedliche Streamingdienste. Das half nicht viel, aber manchmal ein bisschen. An Serien war I will destroy you wirklich fantastisch und Betty hat mir gefallen. Noch immer denke ich regelmäßig an Dan Olsons großartiges YouTube-Video In Search of a Flat Earth mit seiner eindrücklichen Aufarbeitung der Q-Anon Verschwörungstheorie und den poetischen Bildern der Erdkrümmung. Die Vergeblichkeit, mit der die Videobeweise den frei flottierenden Zeichenketten ihr empirisches Pathos entgegenstellen, ist seltsam berührend. Ich hoffe einfach, dass ich 2021 meine Freunde wieder umarmen kann. Das wäre cool.
Nollywood Naija: Blockbusterfilme und Multiplex-Kinos sind für Hollywood, was Flugzeuträger und Militärbasen rund um die Welt für die amerikanische Militärmacht: Die Grundlage ihrer globalen Dominanz. Die Pandemie hat die filmischen Flugzeuträger vorerst aufs Trockene gelegt. Profitiert davon haben Streaming-Plattformen wie Netflix, die strategisch einen Zwischenraum zwischen den globalen Wertschöpfungsketten der Hollywood-Studios und nationalen und regionalen Kinematographien besetzen. Profitiert haben davon auch Filmindustrien wie die nigerianischen, die seit den 1990er Jahren konsequent fürs Heimkino und kleine Bildschirme produzieren. Nollywood – um den ungenauen Sammelbegriff zu verwenden, der die Differenz zwischen englischsprachigen und regionalsprachlichen Filmen wie den Hausa-Produktionen des nigerianischen Nordens tendenziell verwischt – verfügt schon seit längerem über eigene digitale Produktionsplattformen wie irokotv.com. Neuerdings bemüht sich auch Netflix um Nollywood. Nollywood Naija, wie die dafür zuständig Abteilung heißt, hat ihren Geschäftssitz zwar aus steuerlichen Gründen in Amsterdam, hat sich aber rasch als sogenannter «premium»-Anbieter im Streaming-Markt etabliert. Der Streaming-Dienst kostet im Abo umgerechnet 10 Euro pro Monat; irokotv.com gibt’s, zum Vergleich, schon für 7 Euro pro Jahr. Wie in Indien richtet sich Netflix in Nigeria demnach an eine relativ kaufkräftige obere Mittelschicht. Offenbar sind es gerade auch Studierende, die Netflix intensiv nutzen und sich quer durch den Katalog schauen. Zugriff auf internationale Produktionen war in Nigeria nie ein großes Problem; Piraterie ist auch hier eine «business force», wie es Adrian Johns einmal formuliert hat. Aber Netflix hat gegenüber Raubkopien den Vorzug besserer Bild- und Tonqualität. Nigerianische Filme hat Netflix vor vier Jahren zum ersten Mal ins Programm aufgenommen und dabei bereits fertig gestellte Produktion nach der Rechterübernahme auch schon einmal als Netflix-Originale ausgewiesen. Mittlerweile ist Netflix aber auch in Nigeria direkt in die Produktion eingestiegen. Mehrere Serien sind in Produktion, und namhafter Regisseure und Stars schließen mit Netflix Verträge über mehrere Filme ab. Die Kooperation mit Netflix hat den Vorzug gesicherter Finanzierung. Nollywood-Filme sind vergleichsweise billig, aber die Budgets wachsen, und die Finanzierung läuft in der Regel über Eigenkapital oder Risikokapitalien privater Investoren (und nie über die Regierung, deren Bemühungen um Förderung die Industrie mit größter Skepsis begegnet). Die Kooperation mit Netflix hat überdies den Vorzug, dass die staatliche Zensur umgangen werden kann, ohne deren Placet ein Film in Nigeria nicht ins Kino gebracht werden kann.
Nigerianische Filme auf Netflix werden in Europa nach wie vor in erster Linie von der nigerianischen und westafrikanischen Diaspora geschaut. 2020 war aber das Jahr, in dem erstmals nigerianische Filme auf Netflix in der globalen Top-Ten der am meisten geschauten Filme auftauchten. Oloture von Kenneth Gyang erzählt von einer jungen Journalistin, die sich als Prostituierte ausgibt und in Lagos einem Ring von Menschenhändlern mit Verbindungen zur Mafia auf die Spur kommt. Citation von Kunle Afolayan handelt von einem aktuellen Problem westafrikanischer Universitäten: der sexuellen Ausbeutung von Studentinnen durch Professoren. Gyang, der die nationale Filmschule in Jos absolviert hat, orientiert sich ausdrücklich am «third cinema»; Kunle Afolayan begann seine Karriere als Schauspieler in Filmen von Tunde Kelani, dem wichtigsten auteur des Yoruba-spachigen Nollywood-Kinos (dessen Filme im Übrigen auf Kelanis youtube-Kanal zu finden sind), und er erweist mit Citation stilistisch Ousmane Sembene die Reverenz. Aber auch Komödie wie Tope Oshins Up North oder Niyi Akinmolayans Chief Daddy, der bislang größte Blockbuster des nigerianischen Kinos, sind auf Netflix zu finden. Es kann also niemand mehr behaupten nigerianische Filme seien in Europa einfach so schwer zugänglich.
Der beste Sight Gag, seit Robin Williams an Unschärfe litt: Deconstructing Harry, ein Film von Woody Allen von 1997, enthält den folgenden optischen Witz: Robin Williams spielt einen Schauspieler, den bei Dreharbeiten im Central Park in New York plötzlich an Unschärfe leidet. Er steht mitten unter den Leuten und vor der Kamera, einfach unscharf, «out of focus». Die Dreharbeiten müssen unterbrochen werden, und die größte Demütigung erfährt der Schauspieler, als er nach Hause kommt und von den eigenen Kindern verspottet wird: «Daddy’s out of focus! Daddy’s out of focus!». Donald Glover, wie Allen Autor, Schauspieler und Regisseur und darüber hinaus noch bekannt als Rapper Childish Gambino, hat nun einen Sight Gag geschaffen, der es mit dem unscharfen Robin Williams aufnehmen kann. Der Gag stammt zwar aus dem Jahr 2017 und kommt in der ersten Staffel von Atlanta vor, Glovers Sitcom über Rapper in der Hauptstadt des amerikanischen Bundesstaates Georgia, aber weil die Pandemie so viel Gelegenheit zum Nachholen von Verpasstem bot, kommt er auf diese Liste. Er geht so: Rapper und Sportstars konkurrieren miteinander um Follower und Likes auf Plattformen wie Instagram und Snapchat. Der Rapper Paper Boi verbringt gegen Bezahlung durch den Klubbesitzer mit seiner Entourage einen Abend in einem Nightclub, um das Ansehen des Klubs zu mehren. An dem Abend wird er aber durch die Anwesenheit des Basketball-Stars Marcus Miles von den Atlanta Hawks überstrahlt. Der hat nicht nur mehr Frauen in der Entourage und mehr Champagner. Er hat auch ein Gadget, mit dem sonst keiner mithalten kann: Einen unsichtbaren Sportwagen. Auf Instagram und Snapchat posiert er stolz angelehnt an den Wagen, der nicht zu sehen ist. Rapper Paper Boi reagiert auf die Bilder mit einem verächtlichen Gesichtsausdruck. Unklar bleibt, ob er neidisch ist oder den Basketballstar für einen Hochstapler hält. Denn wer hat schon einmal von einem unsichtbaren Auto gehört, geschweige denn eines gesehen? Später am Abend, man hat die Sache mit dem unsichtbaren Auto schon längst vergessen, kommt es auf dem Parkplatz vor dem Klub zu einer Schießerei. Alle gehen in Deckung, und im Hintergrund fährt mit Vollgas Marcus Miles davon. Im unsichtbaren Auto. Zu sehen als Figur, die, begleitet von dröhnenden Motorengeräuschen, über den Parkplatz fliegt. Das ist lustig, weil wir, ähnlich wie bei Robin Williams’ Unschärfe, uns plötzlich als Teil der Welt wiederfinden, in der so etwas möglich ist und keiner weiteren Diskussion bedarf. Die vierte Staffel von Atlanta ist gerade in Produktion.
Romanenden bei Penelope Fitzgerald: Mit 61 publizierte Penelope Fitzgerald ihren ersten Roman, mit Offshore gewann sie 1979 den Booker Prize. Sechs ihrer Romane auf zwei Bände verteilt sind für wenig Geld in der «Everyman Library» zu haben, darunter Human Voices, ein Roman über das Tonarchiv der BBC im zweiten Weltkrieg, und The Beginning of Spring, ein Roman über einen englischen Druckereibesitzer im vorrevolutionären Moskau, und natürlich The Blue Flower, ein historischer Roman über Novalis. Fitzgerald ist eine Meisterin der Elipse. Sie verliert in ihren meist relativ kurzen, aber sehr dichten Romanen kein Wort zu viel und erzählt genau so viel über Auslassungen wie über den geschriebenen Text. Und sie ist eine Meisterin der Enden, der letzten Seiten, letzten Absätze, und letzten Sätze. Mit einigen wenigen Worten stellt Fitzgerald am Ende ihrer Text mitunter ganze Welten auf den Kopf.
Restauratives Fernsehen: Royalisten – wie etwa die London-Korrespondentin der FAZ – fürchten um den Bestand der Monarchie, weil die Netflix-Serie The Crown mit weltweiter Resonanz ein höchst unvorteilhaftes Bild der Royals zeichnet. Dabei ist die Serie, obwohl von Netflix produziert, ein Triumph für ein andere britische Institution: Das Fernsehspiel in der «BBC Drama»-Tradition, zu deren Alumni im Kino etwa Stephen Frears zählt. Rolls Royce gehört mittlerweile BMV, und Bentley dem Volkswagen-Konzern. Nachdem die dritte Staffel von Berlin Babylon in langfädigen Filmschüler-Plots versandet ist und also in Deutschland wieder mal niemand für solche Formate die nötige Kompetenz aufweist, könnt man vielleicht im Gegenzug die showrunners von The Crown mit einer Familiensaga der Hohenzollern fürs deutsche Fernsehen betrauen. Einsparungen beim Budget für Kulissen machen das Projekt attraktiv: Das Stadtschloss steht ja wieder, und die neue Frankfurter Altstadt bietet sich auch an.
Staatsräson: Die entscheidende kulturpolitische Frage des Jahres 2020 in Deutschland war, ob ein politischer Funktionär mittlerer Reiseflughöhe von einem 2018 neu geschaffenen Amt aus die kuratorische Oberhoheit über alle in Deutschland mit Steuergeldern oder im Namen Deutschlands produzierten Kulturprogramme ausüben soll. Verblüffend viele beantworteten diese Frage ohne zu zögern mit «Ja». Dieses nicht zuzulassen, so die Begründung, würde die Existenz einer Atommacht im Mittleren Osten gefährden, die mit Deutschland aus historischen Gründen eng verbunden ist. Eindrucksvoll zeigte sich daran, wie ernst die Deutschen nach wie vor die Kultur nehmen: wie viel weltstiftende und weltverändernde Kraft sie ihr zutrauen. Die Bundeswehr zum Beispiel ist ja mit Bedacht so gebaut, dass bei ihr niemand auf solche Gedanken käme. Zugleich zeigte sich, wie dünn in einer liberalen Demokratie mit einem staatlich finanzierten Kulturbetrieb die Membran ist, die Kunst von Staatskunst trennt.
Hedwig Richter hat in ihrem Buch Demokratie – Eine deutsche Affäre. Vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (erschienen bei C.H. Beck, ein weiterer «keeper» von 2020), nicht zuletzt in medienhistorischer Perspektive gezeigt, dass Demokratie und die Gleichheitsidee in Deutschland eine längere politische und institutionelle Tradition haben als viele ihrer Kollegen – besonders prominent Heinrich August Winkler – gerne behaupten. Eine zentrale These Richters lautet, dass Demokratie immer auch ein Projekt von Eliten war. Das erklärt ihren Erfolg, aber auch ihre Misserfolge.
In Anlehnung an Karl Valentin gilt also auch und gerade für die Eliten: Demokratie, wie Kunst, und als Kunst der Freiheit, ist schön, macht aber auch viel Arbeit.
Ein nicht vorhersehbares Jahr, an das ich mich jetzt schon kaum erinnern kann und mag. Aber gibt es überhaupt vorhersehbare Jahre? Meine Kalender-App sagt: Anfang Februar bin ich noch nach Paris gereist, schon corona-sensibilisiert, denn zwei erste Erkrankte, so las man, lagen bereits isoliert in Pariser Krankenhäusern. Es lag etwas in der Luft, das spürte man, und trotzdem habe ich das volle Paris-Programm unter dauerndem Händewaschen einfach durchgezogen: Ausstellungen (El Greco im Grand Palais, Leonardo im Louvre, Boltanski im Centre Pompidou), Kinos (Roubaix, une lumière von Desplechin, A Hidden Life von Malick), Theater (Angels in America, inszeniert von Desplechin), Bummeln durch Kaufhäuser, asiatisch Essen in Belleville, Knutschen im Marais, mehrfach täglich mit Bus und Métro durch die halbe Stadt gefahren. Ein mir heute vollkommen surrealistisch erscheinendes, präpandemisches Leben. Und hier endet auch schon der Angeberteil meines Rückblicks.
Der Frühling war absurd sonnig, mir waren tatsächlich zwei Drittel meiner Jobs weggebrochen und ich hatte auf der stadtauswärtigen Seite des Kölner Militärrings eine riesige Wiese entdeckt, auf der ich mich jeden Tag alleine sonnte und dabei abwechselnd Madame Bovary als Hörbuch und den Drosten-Podcast hörte. Dass ich mich plötzlich für Natur in Form einer Wiese begeistern konnte, anstatt mich, wie üblicherweise, an mit wildem Sperrmüll vollgestellten Siffecken hinter dem McDonald’s am Barbarossaplatz zu berauschen, überraschte mich dabei selber am allermeisten. Aber städtisches Leben und Menschenansammlungen waren unter mir selbst auferlegten Dramaqueen-Aspekten zur Bedrohung geworden, die es zu vermeiden galt. Geht bestimmt wieder vorbei, dass ich Natur gut finde.
Mir war nie langweilig. Ich konnte voller Begeisterung stundenlang einfach nichts tun. Dabei hatte ich extra ein kleines Zufallsgenerator-Javascript geschrieben, das mich zu bildungsbürgerlichen Aktivitäten wie «Klavierspielen», «Kurztext schreiben», «Sachbuch Geschichte lesen» oder ähnlichem Scheiß antreiben sollte. Mein Kreativitäts-Output war und blieb aber einfach null. Ich konnte mich zu nichts aufraffen, kaum etwas lesen, keinen Sport treiben. Ich hasste die betulichen Corona-Tagebücher der anderen. Nur mittelgute Serien schauen, Radio hören, ein paar Tweets absetzen und Kochen ging. Ich muss bis heute aufpassen, dass mir das zurückgezogene Einsiedlertum nicht zu gut gefällt. Geht bestimmt wieder vorbei, dass ich mich nur ungern mit Freund:innen verabrede.
Im Sommer, als die Infektionszahlen überall niedrig waren, bin ich zu feige und zu pleite gewesen, um zu verreisen. Rom hätte mir gefallen. Oder Athen. Und dann ging es ja auch schon wieder los. Ich war wirklich bestürzt, wie stark die Pandemie meine beiden Lieblingsstädte, Paris und Madrid, erneut getroffen hatte. Überhaupt: die Momente der Fassungslosigkeit, die sich das ganze Jahr über immer wieder einstellten.
Serien: RuPaul’s Drag Race S03, S04, S05, S06, S07, S08, S09, S10, S11, S12 (aber in anachronistischer Reihenfolge) | Pose S01, S02 | Hollywood | The Plot against America | I may destroy you | Derrick | Emily in Paris | Into the night | Messiah | The Queen's Gambit | Dix pour Cent S01, S02, S03, S04
Wäre Tenet wirklich die Apotheose des Kinos im Augenblick seines drohenden Untergangs, dann hätte jenes letzteren allemal verdient. Aber zum Glück ist das nicht so, und auch in den Intervallen zwischen den Lockdowns fand sich in den Sälen natürlich noch anderes als der dominante Überwältigungsbombast in seinen vielen Schattierungen. So etwa Kajillionaire (Miranda July), gesehen ohne Vorwissen und Vorwarnung in einem Kettenkino, eine echte Überraschung, ein filmisches soziales Experiment (ein bißchen wie Idioten): Eine Außenseiter-Familie führt ein bizarres Betrüger-Leben und übertritt mit ihren radikal materialistischen Maximen Grenzen. Teils gewollt und gefällig in der Stilisierung; teils plump in der Versuchsanordnung. Aber so stark und eigen und mutig. Bedrückend und befreiend. Nachhaltig anregend wie gutes Theater. Ein kleiner Energiestoß für meine verhärmten Synapsen, der mich über das Jahr hinaus begleiten wird. Und was lief zuletzt im «Fernsehen»? Die Anthologie Small Axe. Lovers Rock ist reine Filmkunst und frei vom Genre-Ballast der vorigen Produktionen Steve McQueens. Mangrove konventioneller, aber gleichwohl durchzogen von vielsagenden audiovisuellen Kraftpunkten, an denen sich Emotion und Historie zum Kurzschluss treffen. Und so weiter, denn ich habe noch nicht alle fünf Geschichten angeschaut und nehme die restlichen mit in das schöne neue Jahr, in dem alles nun endlich, endlich besser wird.
eine kurze, kontingenzsatte Liste:
Small Axe (R.: Steve McQueen, BBC) alle Folgen, natürlich;
Arsenal 3, wo sich zeigt, wie es gehen könnte;
Podcast-Wunder: Jill Lepores historische Epistemologie in The Last Archive und das blitzsauber kuratierte New Books Network;
Saidiya Hartman, Wayward Lives, Beautiful Experiments: Intimate Histories of Social Upheaval (2019), schon im vorangegangenen Jahr erschienen, trotzdem unbestreitbar ein Buch des Jahres;
Charles Spire und Pierre Lombardy, Précis d’organisation et de fonctionnement du service de santé en temps de guerre. Principes de tactique sanitaire, 1937, Standardwerk zur Triage;
Fantastic Women. Surreal Worlds from Meret Oppenheim to Frida Kahlo, in Frankfurt wegen Lockdown verpasst, mit unverschämtem Glück im August im Louisiana Museum in Humlebæk doch noch gesehen;
Jill Richards, The Fury Archives. Female Citizenship, Human Rights, and the International Avant-Gardes (2020), Avantgarde, Feminismus, Menschenrechte: umwerfende thematische Disposition;
Ausgezeichnet: Künstlerinnen des Inventars und Im Schatten von Venus: Lisa Reihana & Kunst aus dem Pazifik!, zwei prä-Lockdown-Ausstellungen im Hamburger MARKK als Fingerzeige ans Humboldt-Forum;
RabRab, in Helsinki von einem kosovarischen Feuerkopf betriebenes publizistisches Archäologieprojekt in Sachen kommunistischer Kultur
Und ja, CARGO: die Gespräche, die «Notizen», die stamina.
2020 sichtbar eine Spiegelgeschichte. Die Dinge kommen auf einen zu, in Sets, nicht in Serien, und verbinden das Bein im Jenseits mit dem Fuss zurück in der Tür zum Diesseits (zurück zum B-Trieb): Mädchen-Set: 1. Bruno Dumonts Jeannette, nach Charles Péguy, wörtlich, «jamais le règne du royaume de la perdition n’avait autant dominé sur la face de la terre», als Light-Metall-Oper, aufgezeichnet wie Huilllet/Straubs Moses&Aron, die Übertragung der Musik per Ohrhörer auf Körper, die dann dabei aufgenommen werden, wie sie sich dazu in der Landschaft bewegen, singen. Körper werden als Widerstand der Stimme des Herrn: Ohm Gottes, und dessen Odem; 2. Marthaler inszeniert Bergs Lulu in der Hamburger Oper und verteilt die «in der Totalität des Kontrapunkts vergleichgültigte harmonische Dimension» (Adorno) wieder unterschiedlich auf Mädchen-Körper, auf solche, die sich wehren können, und auf solche, denen ein Schrank oder sonst eine Wand im Weg steht, oder ein Spiegel; 3. Heiner Goebbels Eislermaterial in der Elbphilharmonie: Bierbichler singt wie ein Mädchen und ist der einzige, der nicht anachronistisch wirkt (Goebbels knallt hin beim Versuch, zum Applaus flott auf die Bühne zu springen); 4. Monika Gintersdorfer inszeniert «Nana kriegt keine Pocken» mit LA FLEUR in Bremen, nach Zola, Tanztheater unter unklärbaren Geschlechterverhältnisses, Spiegel-Nanas, am 23. Februar. Epidemien sind so 19. Jahrhundert, denken wir. Ab 13. März heisst es, Masken auf. Masken-Set: Im Februar ermordet ein nicht weiter verkleideter Frankfurter Bankkaufmann in Hanau 10 Leute in Shisha Bars; mit ihrem Iggy Pop-Hörspiel Holidays from Suicide, Dialoge im akustischen Spiegel, gewinnt Birgit Kempker jede Menge Preise, aber nur im Ausland (BBC); der erste Band der Schriften von Huillet/Straub erscheint: «Es ist überliefert, dass alle Ohrringe, die Aaron beim Volk sammelte, genug Edelmetall zur Herstellung des Goldenen Kalbes ergaben» (Danièle Huillet); David Graeber kriegt einen memorial service als venezianischen Maskenball, «a political space of radical democracy» heisst es in der Einladung. Snowden bedauert in seinem Permanent Record, dass das WWW die Maskierungen gegen Kreditkarten-Identitäten ausgetauscht hat. Masken hoch. Distanz-Set: allein im Nieselregen auf dem Petersplatz spricht der Papst zu Gott: «Wir haben vor Deinen Mahnrufen nicht angehalten, uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwerkranken Planeten gehört». Die Youtube überträgt Gottes Antwort nicht mit. In Hamburg wird Wybornys Am Arsch der Welt (Haben und Sein) von 1981 gezeigt, Variationen zur origine du monde, Filme über den Abstand des Wissens, die man sehen will, statt der vielen distanzlosen Literaturverfilmungen. Im September Polesch in Berlin: Melissa kriegt alles. Sie entdecken paradoxe Bewegungen, also etwa, sich jemandem anzunähern, während der räumliche Abstand (auf mindestens 1m50) vergrössert wird: Schritt zurück, «oh, Du siehst aber gut aus.» Dramaturgie ist eben klug, wenn es eine ist. Wirklichkeit, die was auf sich hält.
Spiegelgeschichten. Die Dinge kommen in Sets und nicht in Serien. Deleuze zwischen den Spiegeln war schlechte Unendlichkeit: Wiederholung. Das Universum ist doch nicht so offen wie Wyborny es wollte. Und macht Cargo serien-blind? Dagegen reicht einer der Herausgeber eine Einführung, gut! Am letzten Tag des Jahres schiebt der Buchhändler die Godard-Biographie von Herausgeber Rebhandl unter der Plastikverblendung durch: Mit dem Hinweis auf die Bedeutung von Péguys Geschichtsblick für JLG, «jamais le règne du royaume de la perdition n’avait autant dominé sur la face de la terre.» La face de la terre? Die Masken der Erde. Am Ende verschwindet ein dickes Infans von der Weltbildfläche. Mensch, sah der hässlich aus. Die Maskierten der Erde probieren die Dramaturgie der Distanz, in Ruhe. «Mensch, siehst Du gut aus».
Überlegungen zum Wetter
Dass das Wetter immer schlecht ist, wenn ich reise, hat dieses Jahr keine allzu große Rolle gespielt. Will heißen: es war erstaunlich schön. Von meinem Fenster konnte ich in sich kaum verändernder Wetterlage die Panikblüten der von der Trockenheit bedrohten Traubenkirsche in voller Pracht bewundern. Aus dem Nachbargarten schallte tagelang zur Begleitung der fußballspielenden Kinder einer der vielen unerträglichen Radiosenders Österreichs und zwischendurch kletterten Ratten aus dem nahen Bach in gefährliche Nähe der so heimelig gewordenen Terrasse, was den erfindungsreichen Vermieter zu einer an den Domino-Day erinnernden Konstruktion inspirierte, die das Ende einer ganzen nagenden Sippe in einer mit Minions beklebten Tonne bewirkte.
Im Heimkino lösten sich derweil vor allem tschechische Pixel auf: František Vláčil und Vojtěch Jasný. Holubice zum Beispiel war auch mit Ratten (jenen mit Flügeln) und dem unterbrochenen Reisen verbunden, ein Film über eine gestrandete Brieftaube und jene, deren Leben sie kreuzt. Draußen formte sich nach Tagen der Trockenheit eine Wolke, es war ein Miasma, das, wenn ich den beinahe täglichen Reden der österreichischen Regierung folgen konnte wie die Taube (und bestimmt auch die Ratten) aus dem Süden, dem Osten, dem Balkan oder sonstwo außerhalb von Österreich hergekommen war.
Třebíč
Als ich durfte, machte ich mich also auf in den Osten, der eigentlich von mir aus gesehen (und das sollte hier und da zu denken geben) ein Norden ist. Mich zog es nach Třebíč und dort insbesondere in das jüdische Viertel und den beeindruckenden jüdischen Friedhof. Ich hatte davon bei Christoph Ransmayr in seinem Atlas eines ängstlichen Mannes gelesen und obwohl mir die Lektüre nicht, wie ich hoffte, die Angst nahm, so inspirierte sie mich doch allerhand Punkte auf Landkarten zu markieren, die ich im Fall, dass sich das Miasma verzog, bereisen wollte.
Das Wetter war schlecht, es regnete den ganzen Tag in Strömen. Darum hielt ich mich länger in einer der beiden Synagogen im Viertel auf. Durch die Fenster krachte tschechische Popmusik, die ein oberkörperfrei im Regen am Balkon stehender Jugendlicher aus seinem Zimmer blies. Die meisten anderen Gebäude waren nicht zugänglich, und so blieb mir der traurige Eindruck eines verschlossenen Weltkulturerbes, dessen Erben allesamt vernichtet wurden (nur ein knappes Dutzend der jüdischen Bewohner kehrte nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Konzentrationslagern zurück). Davon las ich auch viel bei Daša Drndić, in ihrem Trieste. Vor allen Dingen ein Buch darüber, wie wichtig es ist, Namen zu kennen. Der braune Fluss, an dessen Ufer das jüdische Viertel liegt, heißt Jihlava, was auf deutsch «Igel» bedeutet. Ein seltsamer Name für einen Fluss, wie ich finde. An seinem Ufer stehend beschloss ich von nun an Flusswasser in kleinen Behältern zu sammeln und zu beschriften, sodass ich vielleicht doch zweimal in den gleichen Fluss steigen kann.
Košljun
Auch Košljun ist von Wasser umgeben, allerdings ist dieses Wasser salzig. Die kleine Insel liegt in der Bucht von Punat an der Küste von Krk, also ziemlich genau dort, wo die österreichische Regierung die Herkunft des Miasmas vermutet. Als ich die Insel betrat, begann es zu regnen. Auf der Insel haust seit vielen Jahren ein Franziskanerorden. Einer der Mönche saß am Eingang zum Konvent in einem kleinen, mit holzgeschnitztem katholischen Krimskrams vollgestellten Häuschen, um ohne sich zu bewegen, den Eintritt für die Besichtigung des Konvents und des dazugehörigen Gartens (und bemerkenswerten Friedhofs) zu kassieren. An mehreren Stellen konnte man Texte in glagolitischer Schrift finden und die Schönheit der Buchstaben wirft die Frage auf, ob man in dieser Sprache schöner schreiben würde.
Was mich am Ort begeisterte, war die gleichzeitige Nähe und Ferne zur Insel Krk. Die Mönche dort haben das gesellschaftliche Leben greifbar nahe (an manchen Stellen wirkt es fast so, als könne man durch das Wasser zur Hauptinsel waten), aber gleichzeitig sind sie weit davon entfernt, ein ganzes Meer liegt zwischen ihnen und der Welt. Mit diesem Zustand konnte man sich im vergangenen Jahr besonders identifizieren. Im Kino suche ich auch immer nach dieser ganz präsenten Entrücktheit und habe sie beispielsweise in The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin) von C.W. Winter und Anders Edström entdeckt. Wenn ich mir von einem Film verspreche, dass er mir wie eine Insel einen anderen Blick auf die Welt ermöglicht, dann wäre das ein solcher Film. Auch schön wäre es ein Olivenbaum zu sein, dann würde es nicht regnen, das Wetter wäre immer schön und ich würde wachsen.
[East 38ste und Chicago, die Kreuzung in Minneapolis, an der George Floyd ermordet wurde, ist bei mir im Viertel.] [Viertel meint: zwei Wege von zuhause:] [Zur Arbeit am Mississippi entlang.] [Fahrradfahren rumlaufen] [Zum Einkaufen E. Lake oder die 38ste hoch über Chicago bis Hennepin.] [Fahrradfahren, Autofahren rumlaufen] [Bis 2013 ging das zehn Jahre so.] [In meinem Radius war alles, das 2020 brannte:] [AutoZone, Walgreens, Minnehaha Lake Wine & Spirits, Town Talk Diner, El Nuevo Rodeo, Cub Foods, Target, Ingebretsen’s, East Lake Library, Lake St./Midtown Transit Station, U.S. Bank, MPD Third Precinct, U.S Post Office.] [Und noch hunderte von Adressen mehr.] [Zehn Jahre lang habe ich nichts verstanden.] [Deshalb ist es auch egal, ob ich da mal gewohnt habe oder nicht.] [Im Star Tribune vom 13. Juli steht in der langen, langen alphabetischen Damage-Inventur-Liste unter F: Fatal Arrest of George Floyd.] [Die Kreuzung wächst seit Memorial Day. Sie ist jetzt ein Square auf der Straße, keine Durchfahrt mehr, eine Schnittmenge ganz unterschiedlicher Praktiken und in Frankfurt wieder in meinem Viertel.] [Facebook, Instagram rumlaufen] [Fotos, Videowalks] [Vor allem Videowalks.] [Alle paar Tage schaut wer nach, was sich auf dem Kreuzungsplatz und drumherum so tut.] [Und sagt es uns.] [Angela Conley, 29. Mai, «Right now, you might be inundated with images on the news of people rioting, looting and protesting on Lake Street, but this is the corner of 38th and Chicago, which has been a sacred space in our community for the last five days since the gruesome murder of George Floyd. I am asking the Mayor, I am asking the Governor and Lieutenant Governor to keep this space sacred. I understand we are under a governor’s order for a curfew, but, please, do not bring those troops to the sacred memorial site of George Floyd. Please keep your troops away from this sacred space. This is the piece that you do not see on the news. Where George Floyd died at the hands of the state-sanctioned police. This is what is really happening in our community, not the violence that you see on television. Okay?»] [marciahoward38thstreet, vor zwei Tagen.] [«It is Christmas Eve eve and. We are by the fire. Here I am with Brandan Bell from Getty Images. He came back. He came back. He came back. Even after his photo of the fist was named one of the top one hundred photographs of the year. Ooh. Ooh. ‹It’s home.› We are going nowhere. No justice. No street. No justice. No street. Even in a Minnesota blizzard. Looka dis! Look at this right there. You see that barricade. We ain’t goin nowhere.»] [Die ehemalige Speedway Tankstelle, die jetzt ein Open Air Community Center ist, zählt.] [«George Floyd Trial in 76 Days.»]
«But home oh sweet home. It’s only a saying»
So lautet eine Zeile des Songs In Every Dream Home A Heartache von Roxy Music, die mich das liebe lange Jahr aus verschiedenen Gründen umgetrieben hat. Das Wort «Home» bekam dieses Jahr auch außerhalb musikalischer Geschmacksurteile, möchte man sagen eine «Virulenz»? (jedwede weitere Konnotation oder Äußerung zum «Viralen» lasse ich hier bewusst außen vor) – vielleicht eher Relevanz, die es zu einem Universal-Präfix hat werden lassen: Home-Office, Home-Schooling, auch Home-Bar oder Home-Cooking. Meine vermeintlich personalisierte Suchmaschineneingabe zeigte außerdem an: «Home-wine cellar, Home-profis, Home-assistant, Home-taste, Home-connect…»
Walter Benjamin nannte im Passagenwerk den bürgerlichen Wohnraum des 19. Jahrhunderts die «Loge zum Welttheater». Das Heimische und Heimelige, ja auch das Heimliche, Private war und ist, das kennt man von Benjamin oder auch von Adorno und Dolf Sternberger, immer schon ideologisch verdächtig. So erfüllte es mitunter mit Unbehagen den Blick in das Heim, das eigene oder auch das der anderen, sei es durch Fernlehre, Workshops, Zoom-Gespräche etc. zur Regel werden zu sehen. Es exponiert sich nur «das Arbeitszimmer» oder schlimmer «die Bücherwand». Oder verwischt man die Spuren mit einem «blurrigen» Hintergrund? Der nächste aus der angedeuteten Riege kommt ins Gedächtnis Bertolt Brechts Handbuch für Städtebewohner mit seinem ersten Überlebenstipp: «Verwische die Spuren!» Braucht es ein «Handbuch für das Homeoffice»? Das wird sicherlich schon in Arbeit sein.
Aber dennoch ist der Blick in die Laptoplinse, wenn auch kein «Fenster zum Hof» so doch ein Angeblickt-Werden, das nicht zu Unrecht das eine oder andere philosophische oder auch anderweitige Streitgespräch verursacht haben mag.
In eben jenem, meinem «Home-…» befand ich mich aufgrund einer zufälligen Begegnung einer Baggerschaufel und eines Internetkabels auf einer nahegelegenen Baustelle etwas mehr als zwei Wochen in analoge Zeiten zurückversetzt. Dies hat meinen «Lock-down» interimsweise zu einem erzwungenermaßen analog-grauen Orkus der Gemütlichkeit oder Zwangs-Refugium werden lassen. Meine Loge im Welttheater war geschlossen. Es brachte mich dazu eines meines Lieblingsbücher, welches ich noch letztes Jahr schwor niemals wieder anzurühren, doch nochmal zu lesen: Joris-Karl Huysmans Á rebours. Diese Bibel der Dekadenz hatte auf jeden Fall den einen oder anderen Vorschlag der Beschäftigung oder Ablenkung parat, die nicht unbedingt unter das sonst zutreffende adornitische Diktum, dass ‹Amüsement die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus sei›, subsummierbar war. Wobei, wie sich in den letzten Monaten herausstellte, die Lektüre von historischen Kochbüchern, Wein- und andere Tasting-Kurse durchaus ins Fachliche transferierbar sind. Ein Beispiel einer, vielleicht nicht ganz ernst gemeinten, neuen Forschungsfrage: Kommt Dekadenz eigentlich von dekantieren?
Als sich die Loge wieder öffnete, d.h. der Internetanbieter Bautrupps zur Rettung schickte, waren dann immerhin auch von der Lektüre inspirierte lohnenswerte Sichtungen möglich:
1. Für den kleinen Spaß ohne mal alles allzu ernst zu nehmen: Guy Ritchies The Gentlemen. Dieser Film war der wirklich einzige und überzeugendste Grund dieses Jahr einen Trainingsanzug zu kaufen (braun-kariert mit rotem Überkaro von Lonsdale, wie im Film von Colin Farrel getragen). Nebenbei: Der Soundtrack war grandios.
2. Für den kleinen Oscar Wilde in uns allen: Paolo Sorrentinos Serie The New Pope. Allein John Malkovich als blasierter englischer Aristokrat, der zum Papst ernannt wird und mit Kajalstrich geschmückt seine erste Audienz ausgerechnet Marilyn Manson gewährt, der ihn prompt für jemand anderen hält, ist ganz großes (Heim-)Kino.
3. Für die Nostalgie und dafür, dass jeder wahrscheinlich neuerdings ein Schachbrett gekauft hat: The Queen‘s Gambit. Wunderbar wie die angestaubte Männerdomäne da demontiert wurde.
4. Für einen trockenen Martini: Nichts. James Bond wurde ja wieder verschoben.
Was gibt es sonst noch zu sagen, außer das 2020 eigentlich erst 2021 stattfindet?
So lange ich, wie der Dandy im wieder liebgewonnenen Roman, vor lauter Ennui noch keine Schildkröte mit Edelsteinen beklebe, wird es schon weiter gehen. Denn Druckfahnen, Lesekarten und Essays liegen auf dem Tisch, Emails blinken stets auf und die nächsten Home-office-Blicke via zoom, bigbluebutton etc. lassen nicht auf sich warten… der Vorhang des Welttheaters ist weiterhin hochgezogen. Ist der Blick von der heimischen Loge aus vielleicht doch nicht so ideologisch verdächtigt? Und gibt es dazu einen Song von Roxy Music?
Irgendwo habe ich gelesen, dass es für Tagebuchschreiber heuer besonders schwierig war, eine eigene Position zu finden. Alle machten ähnliche Erfahrungen.
Musik war mir wichtig, als Folie für viele Spaziergänge und Wohnzimmerkonzerte. Zum Beispiel mit Makaya McCraven, von dem ich bereits das Gil-Scott-Heron-Album zuhause hatte, auf den ich jedoch erst durch eine Sumpf-Sendung von Thomas Edlinger richtig «gestoßen» wurde. Sein Album Universal Beings (schon aus 2019), das im Herbst noch um eine E- und F-Seite erweitert wurde, zieht hypnotische Runden zwischen Jazz und Hip-Hop, die Beats werden energetisch und doch en passant von großartigen Solisten wie Nubya Garcia und Shabaka Hutchings beflügelt. Jede Seite des Albums heißt nach einer anderen Stadt, das ist kein Ausdruck von Universalismus, sondern eine entspannte Sound-Pilgrimage. Als dann nach dem fürchterlichen Erstickungstod von George Floyd Black Lives Matter sogar nach Wien überschwappte und zu einer überraschend großen Demo führte, hatte ich wieder McCravens Musik im Ohr und fühlte mich unter Menschen kurz wie ein Weltbürger.
Im Sommer las ich Paul B. Preciados Apartment auf dem Uranus und war begeistert von seinem radikalem Überschwang. Ein Buch wie eine Wette gegen den Kapitalismus, die irgendwann gewonnen werden wird. Ich habe ihn dann auch mit großem Gewinn in einer fast menschenleeren Redaktion per Telefon interviewen können.
Biden gewinnt nach einer langen Woche vor dem Fernseher, während der ich das erste Mal richtig verstanden habe, warum Trump so ein Stehaufmanderl ist. Er bleibt medial unbeschadet, weil er eine eigene Immunität herausgebildet hat. Auf CNN wird noch jeder Wahnsinnssager locker wie ein Witz wegmoderiert. «Intellectually inconsistent», mein Lieblingseuphemismus.
Endlich gelesen: Invisible Man von Ralph Ellison. Ein Buch, das mich von einem Kapitel zum nächsten immer mehr begeistert hat. Die seltsame Koinzidenz, dann am Ende des Jahres, The Invisible Man von Leigh Whanell zu sehen, der nichts mit Blackness zu tun hat, dafür aber «white fury» als körperlose Intensität (durch die großartige Elisabeth Moss) erfahrbar macht.
Unsichtbarkeit war auch in anderer Hinsicht der bestimmende Zustand von 2020. Wie auf etwas reagieren, dessen Wirkung wir zu spät sehen.
Im Rückblick begann das Jahr 2020 mit einer kurzen Phase blissful ignorance, wie so im Horrorfilm, wo unbekümmerte Dödel dem unrasierten Schlächter ins Messer laufen. Natürlich hatte der Regisseur für Menetekel gesorgt. Im Februar zog ich meinen Rollkoffer durch London, hielt einen Vortrag bei einer Konferenz und traf Freunde. Sturm Dennis kam vorbei und heulte durch die Stadt. Am Flughafen Heathrow, wo sich mein Abflug dann um immer noch mehr Stunden verzögerte, liefen viele Menschen aus Ostasien mit MNS herum; aha, dachte ich, nicht mehr. Aha. Ende Februar bei einer Zugfahrt von München nach Wien saß hinter uns ein älteres Ehepaar, das mit seiner Tochter telefonierte. Man sei gerade noch aus Italien herausgekommen, sagte die ältere Dame und hustete.
Im März in Wien dann das, was man heute als ersten Lockdown bezeichnet, als man glaubte, nur für sehr begrenzte Zwecke rauszudürfen, weil einem das gesagt wurde, während rechtlich gesehen eigentlich Bewegungsfreiheit herrschte, wie man heute weiß. Als die österreichische Bundesregierung die wirklich großen Parks in Wien sperrte, die Bundesgärten sind, mit Begründungen, die viele schon damals für fadenscheinig hielten. Als man Lebensmittel auf Vorrat kaufte, über bevorstehende Nahrungsmittelknappheiten spekulierte, unter dem Eindruck furchtbarer Bilder aus italienischen Krankenhäusern ängstlich auf die Verflachung der Infektionskurven hoffte, erste Videokonferenzen führte, erst nur mit denen, mit denen man sonst täglich zusammentraf, dann aber immer mehr auch mit anderen, mit denen man sonst eigentlich nicht Kontakt gehabt hätte, was gar nicht so schlecht war und recht CO2-sparsam. Als Yogastunden auf Zoom verlegt wurden und auf Twitter über Wohl und Wehe von MNS diskutiert wurde. Als einer der Kollegen, die ich in London getroffen hatte, verstarb. Es hieß damals, an COVID; heute heißt es, man wisse es nicht so genau. Als ein befreundetes Paar, etwas über 60, an COVID erkrankte. Mit leichtem Verlauf, hieß es damals; heute erzählen sie, dass sie erst im September wieder richtig frei atmen konnten.
Im Mai schien dann Leben fast wie immer möglich zu sein, zumindest meines, das nicht besonders menschenmassenaffin ist. Ausflüge dorthin, wo es Bienenfresser zu beobachten gab, waren jedenfalls möglich, und die Bienenfresser waren von menschlichen Verwerfungen bei ihrem Balz- und Brutgeschäft gänzlich unbeeindruckt, ebenso wie Seeadler und Stechmücken in den Marchauen und exotische Höhenrotschwänzchen in Latschenkieferwäldchen am Schneeberg. Auf Balkonen mit ausgewählten Freund*innen zu sitzen und essen, ja, das ging auch, sogar sehr gut. Man konnte auch Eiskaffee zu sich nehmen, überall, wo es welchen gab, warum auch nicht. Mit dem Leben fast wie immer kam dann im Juni auch eine nicht ganz triviale Diagnose mit anschließender Operation im Krankenhaus, die gut ausging, was damals zwar ziemlich wahrscheinlich war, aber erst im November mit all der Sicherheit feststand, die es geben kann. Mit Wahrscheinlichkeiten hadernd lenkte ich mich im Krankenhauszimmer mit den Sopranos ab; aus der Zeit zu fallen half. Im Sommer dann Rekonvaleszenz, weiter aus der Zeit gefallen mit frühen Derrick-Folgen auf Youtube; Lieblingsfolge 1/11, Pfandhaus, mit Klaus-Maria Brandauer als feistem Fiesling, der zu Ride the Sky vom Mystic Moods Orchestra schmierig lasziv tanzt.
Emily St. John Mandels zwei großartige Romane über Spielarten des Zusammenbruchs gelesen: Station Eleven über eine nach einer Virusepidemie zusammengebrochene Welt schon im April begonnen, dann kam im September The Glass Hotel über ein zusammenbrechendes Ponzi-Scheme. The Glass Hotel hatte ich am E-Reader, doch als ich meinen Rollkoffer im September durch München zog, fiel mir auf, dass ich den Reader zu Hause in Wien vergessen hatte. Ich wollte das Buch unbedingt weiterlesen und verfiel auf die Idee, es einfach über den Online-Shop von Bücher Lentner in den dortigen Laden zu bestellen, warum auch nicht. Das enorme Glücksgefühl bei der Abholung überraschte mich. Ich glaube, es war die Zufälligkeit des ganzen Geschehens, der wieder hergestellte Kontakt mit einer Welt, in der mehr dem Zufall zu verdanken ist als der Zoom-Verbindung.
In München im Museum, Haus der Kunst, Spaziergang quer durch an einem sonnigen Tag. Irgendwie schienen alle erleichtert zu sein, dass das möglich war, aber vielleicht projiziere ich das rückwärts, damals dachten ja die meisten nicht an die nächste Coronawelle und konnten oder wollten nicht wissen, wie selten Museumsbesuche dieses Jahr werden würden. Es fühlte sich jedenfalls an, wie nach einem Knochenbruch wieder Bewegung zu lernen. Man erinnert sich, dass da Routinen sind, aber noch muss alles vom Hirn befohlen werden und läuft unrund. Hoffnung, dass das schon wieder rund wird. Hoffnung auf das Abgewöhnen der angewöhnten Nasenbärsondierungs- und Distanzmessungsroutinen, auf das Wiederangewöhnen der abgewöhnten Museumsbesuch-Sinnierroutine. Auch da war übrigens der Durst nach den Zufälligkeiten und Beiläufigkeiten stark, nach dem Mithören und Aufschnappen, dem Ingangsetzen von Assoziationsketten, dem Sichtreibenlassen durch eine belebte Stadt. Glückliche Kilometer durch München gelaufen, ohne wissen zu wollen, wohin und warum.
Im Herbst noch eine kleine Operation. Diesmal kürzer im Krankenhaus und dabei Stefanie Sargnagels wunderbares Buch Dicht gelesen, mit Ausblick von oben auf die Wiener Gegend, in der man sich im Buch oft herumtreibt, auf gloriöse Weise Tage stehlend. Im November wurde dann alles verdammt trüb. Der Blick verengte sich dermaßen, dass sich im Rückblick das ganze Jahr so anfühlt, als hätte es nur aus Dunkelheit, Krankheit und Tod bestanden. Am Ende des Jahres weiß ich gar nicht mehr, worüber ich zuerst wütend sein soll, über verzerrte Prioritäten im Krisenmanagement, über politische Eitelkeit zur Unzeit, über europäische Ignoranz, Arroganz und Brutalität, über bürokratische Engstirnigkeit, und da streife ich an die großen Wuterregungsbrocken Klima- und Migrationspolitik noch gar nicht an. Und gleichzeitig empfinde ich verdammt viel Dankbarkeit, für den Chirurgen, der mich operierte, für die Krankenpfleger, die die Schmerzmittel perfekt dosierten, für Epidemiologen, Infektiologen, Immunologen und Virologen (alle gendersternen, bitte), für Erklärbären und überhaupt für alle, die da waren und sind, on- und offline. Wut und Dankbarkeit, in diesen Extremen, das ist verdammt schwer zusammenzubringen, und das ist 2020.
There’s no place like my room
2020 vor allem: Home Office. Lediglich zu Jahresbeginn für ein paar Wochen eingetauscht mit einem Arbeitsplatz im Handschriftenlesesaal des Deutschen Literaturarchivs, um die Masterarbeit über den frühen Merkur, dessen Herausgeber und das Zeitschriftenmachen in der Nachkriegszeit abzuschließen. Gerne hätte ich da schon Axel Schildts posthumes Buch über Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik zur Verfügung gehabt, doch auch im Herbst las es sich noch mit Gewinn. Dank der Masterprüfungen bei Caroline Arni im Frühjahr schließlich die seltene Gelegenheit, einiges aus dem Bücherregal einmal ganz durchzugehen. Darunter: das glänzend geschriebene und auch historiographisch (Stichwort: «Aggregate History») anregende The Age of Questions von Holly Case. Von solchen ‹Arbeitslektüren› – zu nennen wäre noch Heiko Christians instruktive und für einen Beitrag zur Bildungsdebatte angenehm sachliche, weil historisch spezifizierende und kulturtechnisch systematisierende Mediengeschichte Wilhelm Meisters Erbe. Deutsche Bildungsidee und globale Digitalisierung – abgesehen wenig gelesen. Immerhin aber ein paar Zeitschriften entdeckt: die schlaue und schöne Transbordeur. Photographie, Histoire, Société sowie die erste Ausgabe der nicht weniger schicken Hybridpublikation cache.ch zum Thema «Gegenwissen». Diese traut sich, Unfertiges als solches auszustellen und versteht überhaupt Wissenschaft und ihre Kommunikation als Work-In-Progress, dessen Zwischenstände einen eigenen Wert haben und oft genug lohnen, veröffentlicht zu werden – bevor wieder etwas anderes (oder gar nichts weiter) aus ihnen wird. (Ein von der cache-Redaktion organisierter Workshop zum «Selbermachen» von Zeitschriften inkl. grundsätzlicher Debatte über Open Access und Formate des wissenschaftlichen Publizierens war für mich dann auch die bleibendste Zoom-Veranstaltung des Jahres.)
Ansonsten, Kenneth Goldsmith lässt grüßen, viel Time im Internet gewasted. Einmal mehr hatten Danilo Scholz’ Facebook-Aktivitäten, die Post für Post mein Interesse selbst noch für die allerneueste Wirtschaftsgeschichte weckten, sowie (apropos neu) Ekkehard Knörers Notizen im Cargo-Blog einen Stammplatz in den geöffneten Tabs meines Browsers. Begleitet wurde die Bildschirmzeit wie immer eigentlich, aber ganz besonders in diesem – bis auf Big Thief und Boy Pablo unmittelbar vor März-Lockdown in Berlin – konzertlosen Jahr, von allerhand Musik: über 45’000 Minuten sagt Spotify, aber was ist damit schon anzufangen? Die Plattform zeigt mir zwar jeweils zum Jahresende meine meistgestreamten Songs und generiert gleich eine Playlist mit allem, was ich verpasst (und doch bitte nachzuhören!) habe. Doch gefällt mir einmal ein Album als Album steht es schon nicht mehr in der Warteschlange zur Wiedergabe, sondern als LP zuhause. 2020 waren das unter anderem: Punisher von Phoebe Bridgers, Someone New von Helena Deland, If I Am Only My Thoughts von Loving, Candid (ein Cover-Album) von Whitney, Orca von Gus Dapperton, What We Drew von Yaeji und Super Sad Generation, die zu einem Album kompilierten, bereits 2019 erschienenen EPs von Arlo Parks. (Keine Musik zwar, aber ebenfalls konstant reingehört: Views – ein Podcast des YouTubers David Dobrik, der mal mehr mal weniger Aufschlussreiches oder Unterhaltsames über die Social-Media-Economy, Gen Z und das Influencer*innenleben in Los Angeles zu berichten wusste.)
Bleibende Film- und Serienerlebnisse wie 2019 noch mit Parasite und Burning oder When They See Us, Unbelievable und Chernobyl hatte ich dieses Jahr leider keine, aber immerhin lief doch einiges, das unterhielt. Davon im Kino gesehen: Greta Gerwigs Remake LITTLE WOMEN, das sich angenehmerweise weder historistisch anbiedert noch zu zeitgemäß sein will, sondern mit Cast, Musik und Screenplay Altes und Aktuelles immer wieder neu mischt, und Christopher Nolans letztlich dann vielleicht doch ein bisschen zu fest erwartetes, aber alleine akustisch und visuell allemal und einmal mehr schlichtweg eindrückliches Zeitspektakel TENET. (Leider verpasst: Pablo Larraíns EMA.) Im, naja, ‹Heimkino› drei Mal Coming-of-Age: Natalie Dyer als katholisches Schulmädchen, das in YES, GOD, YES zu Beginn der Nullerjahre seine Sexualität in einem AOL-Chatroom entdeckt. Großartige Musik, Superbad-Vibes und Queer-Feminismus in Olivia Wildes BOOKSMART. Ein in Judd Apatows THE KING OF STATEN ISLAND sich quasi selbst spielender Pete Davidson. Außerdem: Satoshi Kons PERFECT BLUE (1998) und PAPRIKA (2006), die vielschichtig und media savvy mit allen Mitteln des Animes dem Verhältnis von Internet und Individualität, Entertainment und Träumen nachgehen. (Letzterer bekam zudem Credit als Inspirationsquelle für Nolans Inception.) In Sachen Serie bleiben vor allem die uncanny Atmosphäre (Der Quantencomputer im Vakuum! San Francisco im Nebel! Das überdimensionierte Denkmal der Tochter, frozen in time!) aus Alex Garlands bisher bestem Werk DEVS sowie Jason Bateman, Laura Linney und Julia Garner in OZARK, die wie zuvor schon Michael C. Hall in Dexter vor Augen führen, wie weit die Empathie des Publikums reichen kann. Ein Re-Watch wie es eigentlich kaum besser in die Quarantäne-Zeit passen konnte, gerade weil es sie in ihren sozialen Einschränkungen und zeitlichen Dimensionen stark relativiert, gab es dann auch noch: Die erste Staffel von RECTIFY, trotz tollen Werten auf Rotten Tomatoes gefühlt irgendwie immer noch underrated. Das Schlussmotto des nach 19 Jahren von der Death Row in die Freiheit entlassenen, sich against all odds ins Leben zurücktastenden Daniel Holden (so fein und ruhig gespielt von Aden Young) nehme ich einfach mal mit für 2021: «I’m cautiously optimistic.»
Im Sommer, als die Kinos wieder aufmachten, da dachte ich: Was für ein Wiedersehen, ein Wunder, am Montagabend im Kino der neue Clint Eastwood, am Donnerstagnachmittag der neue Claude Lelouch! Im Herbst war dann meine Top Ten schon abgerundet:
LES PLUS BELLES ANNÉES D'UNE VIE (Claude Lelouch) *
RICHARD JEWELL (Clint Eastwood) *
EIN CALLGIRL FÜR GEISTER (Klaus Lemke) *
HEISSER SAND (Bruno Sukrow)
DIE RÜDEN (Connie Walther) *
THE CLIMB (Michael Angelo Covino) *
PARIS CALLIGRAMMES (Ulrike Ottinger) *
DRIVEWAYS (Andrew Ahn)
PANTS REPAIR (David Lynch)
MALLE (Johannes Lehnen) *
* gesehen in Kinos, in Köln, München, Nürnberg
Um gelegentlich von Dauerhaftigkeit zu träumen, mache ich Listen. Zum Beispiel: Die allergrößten Entdeckungen…
POIL DE CAROTTE (1932 Julien Duvivier)
DÉSIRÉ (1937 Sacha Guitry)
GREAT DAY (1945 Lance Comfort)
COME NEXT SPRING (1956 Robert G. Springsteen)
LA RAGAZZA CHE SAPEVA TROPPO (1963 Mario Bava)
GRAŽUOLĖ (1969 Arūnas Žebriūnas)
LA MAISON DES BOIS (1971 Maurice Pialat)
COPS AND ROBBERS (1973 Aram Avakian)
11 HARROWHOUSE (1974 Aram Avakiam)
THE FRISCO KID (1979 Robert Aldrich)
Um zu spüren, dass etwas ewig und unendlich ist, höre ich Musik.
Jupp Schmitz: Im Süden, im Süden (1949)
Sister Rosetta Tharpe and Marie Knight: You Gotta Move (1950)
Sharhabil Ahmed: Kamar Dawa (1960er)
Gilbert Becaud: Gracias a Dios (1966)
Aphrodite's Child: Such A Funny Night (1969)
Lee Moses: Diana (From NYC) (1971)
Phillip Goodhand-Tait: Wolfgang (2018)
Daniel Romano: The Patience of a Kiss (2020)
Die Lore: Susanne Göttin der Liebe (2020)
David Garland: All With All (2020)
Anfang des Jahres, als natürlich noch nichts absehbar war, hatte ich die Idee, über alles zu schreiben, was mir an Film, Theater, Literatur, Kunst, Musik über den Weg laufen würde. Das tat ich und es führte dazu, dass ich mir viel mehr Film, Theater, Literatur, Kunst, Musik über den Weg laufen ließ, als ich es ohne das Schreiben getan hätte. Eine Idee, die zu Fülle geführt hat. Zu Übersicht führte sie nicht. Ich gehe das jetzt nicht noch einmal durch. Man wird sich im Lauf des Lebens sowieso schon je länger, desto unangenehmer postum.
Also erinnere ich wie gehabt. Erinnere mich daran, wie es die Nervensäge Christian Y. Schmidt als erster gewusst hat. Seine Bilder aus Peking. Erinnere mich an vertagte Begegnungen, an doch lieber nicht, an vielleicht wird es besser, an hoffentlich bald, an wir sagen es ab. 2020 war die große Vertagung, war Starren auf Zahlen, war wankendes Menschenbild, war nach der Berlinale nur noch vier Mal im Kino (Prenzlauer Berg, Schöneweide, Charlottenburg, Mitte, Känguru, Trolls, Tenet, Bitomsky), war vorläufig abgesagtes Konzert wegen Corona, war endgültig abgesagtes Konzert wegen Corona und Tod (RIP John Prine). 2020 war Fotografieren der Lösungen für die Schule, war Sachsen bei Ansbach, war dank Rainald Goetz Dorle und Werner in Hamburg, war aber kein Köln, kein Frankfurt am Main (nur: an der Oder), war Trinken bei Trier, war Picknick im Park.
War: Gelobt sei der Freund des Kinds auf der anderen Seite der Straße! War: Auftritt beim Homemoviedreh, zwei Bierflaschen in der Hand. War: Zu dritt auf der Couch, während in der Netflix-Kids-Serie die Welt wegzuglitchen beginnt. War: Übernachten in Ützdorf, immer wieder der See. War: Liegen am Strand, fast ein Wunder, war Sisis griechisches Schloss. War: das Ende von Trump (klar, dass er wie Michael Myers nie wirklich geht). War: der Anfang von eigentlich nichts, nur schiere Endlosigkeit. War: Hoffnung auf bessere Zeiten. War: Wir hatten ja noch ganz großes Glück.
Die spielerische, ohnehin symbolisch begrenzte Rhetorik des Kalenderjahres soll altes von neuem Jahr trennen. Die standardisierte, ohnehin konservativ getönte Frage zum Jahreswechsel, ‹was bleibt von...›, ist 2020 so oft gestellt worden, dass man sie zum Ende des Jahres gar nicht mehr beantworten mag, geschweige denn könnte. Auch deshalb, weil das gesammelt Üble nicht einfach verschwinden wird im vorausfliegenden Schatten der positiven Fakten, die zum Jahresende mit der amerikanischen Präsidentenwahl und der Entdeckung von Impfstoffen hoffnungsfroh stimmten, – weder der blonde Tolle noch das pandemisch begabte Virus wird um Mitternacht am 31.12.2020 im Mündungsfeuer von Raketen und Rauchschwaden verschwinden. Das transformatorische Potential eines Wechsels wurde schon durch die lange Dauer seiner Beschwörung abgenutzt. Dennoch eignet sich ein Krisenjahr, das wie alle dystopischen Zustände Hoffnungen auf ihr Ende, gar auf einen Neuanfang weckt, weit mehr dazu über das neue jahr zu spekulieren, als weiter über das vergangene zu jammern. Darüber streite ich täglich mit meinen kommunikativ noch zugänglichen Freund/Innen und Lebensmenschen, wie viele Schritte zurück, wie viele nach vorn gegangen sein werden, wenn in einem Jahr sich wieder die Frage stellt, ‹was bleibt....›.
Totgesagt für 2021wurde wieder einmal das Kino und mit Schrecken lese ich ab und zu in verschiedenen Artikeln, dass die Grabredner selbst schon vor dem Lockdown nicht gar so oft dort anzutreffen waren, wie man gedacht hätte. Ist also 2020 die ‹Liebe zum Kino› bereits eine rhetorische Figur der Nostalgie, eine Nekrophilie? Dann müsste man sagen, dass die Streamingdienste, die DVD-Kollektionen den Status von Fotoalben mit Erinnerungsfotos haben, Fetische, die das verschwundene, aber nicht aufgegebene Objekt des Begehrens immer wieder hervorbringen als Erinnerung, Souvenirs, Souvenirs.
Ist das alles so, glaube ich das? Nein. Warum: In der kurzen Zeit im Sommer, als der Lockdown aufgehoben wurde, war ich in Berlin im Kino, in verschiedenen Opern, bin nach Hamburg gereist und habe mir Castorfs Operninszenierung Molto agitato angesehen, und habe festgestellt, dass Kino in immer neuen Versionen auftaucht, expanded cinema. Kino als Dispositiv: ein dunkler Saal, ein leuchtendes bewegtes Bild. Dieses theatrale Dispositiv ist nicht am Verschwinden, sondern schwer im Kommen außerhalb des Kinosaals. Aber es werden viele einzelne Kinos eingehen und viele freie Künstler, die dieses Dispositiv am Leben erhalten, werden einem sozialen Tod ausgesetzt – das ist ein kulturpolitischer Skandal. Das Kino ist nicht tot, sein Dispositiv noch lange nicht erschöpft. Aber alles, was noch nicht tot ist und auch nicht am Sterben, kann sehr wohl tot gemacht werden. Nostalgische Beschwörung des Tods vom Kino ist verfrüht, das Verhindern seiner Ermordung sollte dagegen in Angriff genommen werden und zwar vorsätzlich fürs neue Jahr. Die Dystopie müsste durch die Utopie vom Kino zerbröseln, so wie die Utopie zeitloser Verfügbarkeit im endlosen Streaming in der derweil real zerrinnenden Lebenszeit während des Lockdowns zerbröselt ist.
Das Jahr begann mit Explosionen und Feuerbällen über dem Flughafen von Bagdad – zu sehen auf verwackelten Videos von Bewohnern der irakischen Hauptstadt –, nachdem eine Reaper-Drohne ihre Hellfire-Raketen auf den Konvoi des Kommandeurs der Al-Quds-Brigaden abgefeuert hatte. Einige Wochen später stand ich an der Côte d’Azur vor Picassos Werk La Guerre et la Paix (geschaffen 1952 während des Koreakriegs) hinter der Kamera für Peter Nestlers Film Picasso in Vallauris.
Am 25. Mai 2020 filmen mehrere Kameras, wie George Floyd auf dem Asphalt der Chicago Avenue in Minneapolis liegend von einem weißen Polizisten getötet wird. Vergeblich rief er dem Officer und den Umstehenden zu: «I can’t breathe». Ursache des Polizeieinsatzes war eine Packung Zigaretten, die der arbeitslose Türsteher bei Cup Foods mit einem 20-Dollarschein gekauft hatte, den der Kassierer für gefälscht hielt. In seinem letzten Schuljahr in Houston sprach der 17-Jährige zu seinen Freunden über seine Zukunftsträume: «I want to touch the world» – damit meinte er wohl eine Karriere in der N.B.A. oder N.F.L. Berührt hat er stattdessen 30 Jahre später die Welt mit seinem gewaltsamen Tod auf dem Asphalt.
Während ich diese Bilder des abgelaufenen Jahres hervorrufe, mehrheitlich gefilmt mit Smartphones, fällt mein Blick auf einen 5-Euro-Schein vor mir auf dem Küchentisch, illustriert auf der Vorderseite mit einem antiken Torbogen, angelehnt an den Trajansbogen in Ancona, und auf der Rückseite mit einem Aquaedukt, angelehnt an den Pont-du-Gard bei Nîmes. Bei seiner letzten Rede als US-Präsident in Europa ruft Obama dessen Bürger*innen, zwei Monate vor dem Brexit-Referendum, in Erinnerung:
«Your accomplishment – more than 500 million people speaking 24 languages in 28 countries, 19 with a common currency, in one European Union – remains one of the greatest political and economic achievements of modern times.» (Applause.)
Meine letzte Kinovorführung vor Publikum in diesem Jahr war am 9. Oktober im Centre Pompidou. Wegen einer Reisewarnung konnte ich selbst nicht dabei sein und bat stattdessen Spoon Jackson, den Autor und Protagonisten von Barstow, California, aus Solano State Prison eine Grußbotschaft an das Pariser Publikum zu sprechen:
«This is Spoon Jackson of Barstow-film, a poet, writer, and I’m happy that my film is in France because that’s where Samuel Beckett was buried. Because he loved France so much and I do too. France and Sweden are the two top countries where I wanna live, and I’m so pleased and happy that the film Barstow at least makes it there, and that you can see a part of my life, and that I can share some of my realness with the French. Because I know, that, when things got really bad over here in this country, black folks like Richard Wright, Langston Hughes, Eartha Kitt, James Baldwin were able to go to France and be themselves and be the artists they needed to be, instead of having forgo their talents in order to appease the racist society here in America.»
Ich empfinde es als widersprüchlich, dass Europa, dieser gewalttätigste Kontinent in der Geschichte, für einen Afroamerikaner, dessen Vorfahren von Angehörigen eben dieses Kontinents verschifft und an europäische Kolonisten in Amerika als Sklaven verkauft wurden, heute ein Sehnsuchtsort ist. Aber ein wenig gut tut es schon, was die beiden Amerikaner über uns sagen.
Zwei Vorsätze haben mir geholfen, durch dieses düstere Jahr zu kommen: 1. Keinen Junk mehr essen, sondern nur noch whole food plant based - eine mutwillige Veränderung meiner Körper/Welt-Achse. 2. Nur Autorinnen lesen – am Ende waren es immerhin 3/4 female authors. Transformative Lektüre, to say the least.
2020: Das war Moria, Außengrenzen, Abschiebung, der Tod von George Floyd, Trump, Klimawandel, und dann noch Corona. Man möchte sich die Ohren zuhalten und schreien. An Weihnachten steht in der FAZ, dass nun, am Ende des Jahres, ein Impfstoff uns aus dem Albtraum reißt, „jedenfalls den wohlhabenden Teil der Welt, denn der ist zuerst dran (…) die Investoren, Risikokapitalgeber und am Ende auch die Regierungen, wollen belohnt werden: Warum auch nicht?“ Was scheren uns die Anderen. So sieht das aus, im Jahr 2020.
Aus meiner Hausapotheke:
Kathryn Yusoffs A Billion Black Anthropocenes or none ist ein crash Kurs für das Überleben in einer Welt, wo die Geologie zu einem Endspiel wird und wo einem erklärt wird, was das mit black lives matter zu tun hat. Gesellschaft als geo-soziale Formation, die denen, die außen stehen, das Menschsein abspricht. Den Blick schärfen für andere geo-stories wie die Broken Earth Trilogie von N.K. Jemisin oder für die Wayward Lives, Beautiful Experiments: Intimate Histories of Rioutous Black Girls, Troublesome Women and Queer Radicals in dem Buch von Saidiya Hartmann, die alles nochmal neu erzählt und den Menschen ihre Würde zurückgibt.
Vor ein paar Jahren machte ich mal eine Liste meiner Lieblingsbücher, worauf meine Kollegin erstaunt meinte: nur eine Frau dabei. Quote hilft. Verschlungen habe ich Argonauten und Bluets von Maggie Nelson, ihre Bücher transformativ im buchstäblichen Sinne, und dann waren da noch Annie Ernaux mit Die Jahre und Die Scham, Sigrid Nunez mit Sempre Susan: Erinnerungen an Susan Sontag oder Rebecca Solnit mit Unziemliches Verhalten: Erinnerungen an feministisches Erwachen, um nur ein paar zu nennen.
Hölderlin war im Jubiläumsjahr auf Twitter dank @RichterHedwig immer präsent. Preisträgerin Elke Erb wurde Küchenmitbewohnerin, sonnenklar. Ab Mitte 70 fängt man an, Mensch zu werden, sagt Friederike Mayröcker da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete. Einen Witz habe ich auch erfunden: Kommt ein Virus in die Kneipe und fragt nach dem Wirt.
Keine Reisen zu Workshops und Vorträgen nach Bonn, Leipzig, Lissabon oder Atlanta. Ist das nun das Ende dieser Art Veranstaltungen? Ein paar Sachen fanden per Zoom statt. Menschen sehen meist unvorteilhaft und langweilig auf schlecht ausgeleuchteten Bildschirmen aus. Es gibt keine Kekse. Weihnachtsbescherung auf Zoom: bitter.
Der Tod von David Graeber hat mich berührt. Immer wieder liest man, Occupy sei gescheitert, aber der Markt werden das alles schon regeln. In einem Interview sagte Graeber dazu: „Das war natürlich nie so, auch wenn es oft behauptet wurde. Jetzt hat man aber plötzlich keine Wahl mehr. Man muss die Dinge radikal verändern, hat aber vergessen, wie das geht. Menschen mit Ideen werden gerade gebraucht.“ Er hat die Ethnologie an ihr Wissen über andere Formen zu leben erinnert.
Zu meiner Überraschung hat mir die Greta Thunberg Dokumentation gut gefallen. Eine Heiligengeschichte in einer Welt der finsteren Bösewichte wie Trump & Co. Wie sie auf dem Segelboot saß, mitten im Ozean, müde und seekrank, die Last der Welt auf ihren Schultern.
Mein Serienfavorit: Little Big Lies. Der Nachfolger Little Fires Everywhere zündete dagegen nicht so richtig, trotz der gelungenen Eva Hermann-isierung von Reese Witherspoon. Small Axe schloss am Jahresende wieder den Kreis: Alles neu erzählen, diesmal richtig.
Immer wieder zu Fuß durchs Grindelviertel, durch das Schanzenviertel, an der Alster und am Kaiser-Friedrich-Ufer entlang, im Frühjahr, im Sommer, im Herbst und im Winter. So viele Leute, die sich höflich ausweichen, so viele Wohnungen, so viele Lichter, und alles so präsent: Lockdown-experience. Mein Park des Jahres ist Planten & Blomen, mein Video zum Coronajahr ist zu Jeff Parker & The New Breed, Max Brown.
Meine letzten Filme
Vielleicht ist Don DeLillos Die Stille doch der passende Roman zum vergangenen Jahr. Die globale Katastrophe ist weder unterhaltsam, spannend oder abwechslungsreich: keine Explosionen, Kämpfe, nichts Existenzialistisches – stattdessen weiterhin maximal banale Unterhaltungen. (Würde ich DeLillos Büchlein eineinhalb Jahre vorverlegen, würde ich noch endlose Zoom- und Big-Blue-Button-Konferenzen hinzufügen, in denen die Selbstvergewisserung über die Fragen «Könnt ihr mich hören?» und «Seht ihr die Präsentation?» geschieht.)
2020 ging das Licht nicht während des Super Bowl oder der Berlinale aus, aber kurz danach – und es ist wie eine Vorstellung aus einer anderen Zeit: eng neben hustenden und rotzenden Fremden zu stehen und zu sitzen, um einen Film im Kino sehen zu können. (Immerhin: ich konnte Abel Ferrara noch die Hand schütteln und mich ohne Maske mit ihm unterhalten.)
Im Sommer, zwischen den beiden Schließungen, war ich dann wieder viel im Kino – war das doch einer der sichersten Orte: mehr Personal als Publikum, und falls noch jemand mit mir im Saal war, dann befanden sich zwischen uns mehr leere Sitzreihen als ich dieses Jahr Filme im Kino gesehen habe. Leider war das Programm entsprechend. Und dann ist es auch so, dass der letzte Film, den man vor der Schließung sieht, sicher nicht der ist, den man mit auf die Insel, bzw. in den Lockdown nehmen würde: Die Känguru-Chroniken am 8. März (Klamauk, der den Witz der Vorlage verpasst und durch Animation versucht wettmachen zu können. Manchen Stimmen gibt man besser kein Bild.) und Greenland am 27.10. (Weltuntergang zwar, aber eigentlich ein Film über Gerard Butler beim Autofahren. Um manche Dinge wäre es bei der Apokalypse nicht schade.) Maximal banale Unterhaltung eben.
Als die Pandemie in Deutschland Fahrt aufnimmt, bin ich im Harz, die Berlinale ist gerade vorbei, eine Woche Winterschnee. Auf der Rückreise machen wir Stop in Quedlinburg, schalten im Hotelzimmer den Fernseher an: Gesundheitssenatorin Kalayci und der Amtsarzt von Berlin-Mitte informieren über den ersten, eher zufällig entdeckten Berliner Corona-Fall. Von meiner Mutter bekomme ich besorgte Nachrichten aufs Handy und den Auftrag, aus dem Harz Desinfektionsmittel mitzubringen, in Berlin gebe es keines mehr. Mir kommt ein solcher Import übertrieben vor, aber ich frage trotzdem in ein paar Apotheken nach, ohne Erfolg. Zurück in Berlin sehe ich René Polleschs Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt im Friedrichstadt-Palast, in dem es um Kapitalismus und Vereinzelung geht, um «diese grundlegende Einsamkeit», und das ist für längere Zeit das letzte, was ich zusammen mit anderen Menschen sehe.
Sätze, die bleiben: «Mit den Jahren», so beginnt Paul B. Preciado Ein Apartment auf dem Uranus, «habe ich gelernt, Träume als integralen Bestandteil des Lebens zu betrachten.» Der Satz, im Juni dieses Jahres gelesen, hallte bei mir nach. Ich bin nicht sicher, ob ich ihm zustimme, auch nicht, ob ich ihn ganz verstehe. So eingängig es klingt, wenn Preciado schreibt, «die menschliche Psyche erschaffe und bearbeite unablässig die Wirklichkeit, manchmal im Wachen, manchmal im Traum», so unklar ist mir, was daraus folgt. Jedenfalls gewann dieser Satz in diesem Jahr, in dem sich die alltägliche Lebenswirklichkeit für mich wie für alle anderen so deutlich veränderte, an Bedeutung für mich. Denn, zunächst kaum merklich, doch mittlerweile unabweislich, haben sich in diesem Jahr auch meine Träume verändert. Sie sind nicht nur zahlreicher geworden, sondern auch versponnener und ausgreifender, und vor allem immer abgekoppelter von meiner Alltagswirklichkeit. Während Wochen und Monate vergingen, in denen sich meine Welt auf die zwei Zimmer unserer Wohnung und wenige Straßenblöcke Neuköllns zusammenzog und ich viele vertraute Menschen (und noch mehr unvertraute Studierende aus aller Welt) nur noch in Zoomfenstern sah, ersann mein Hirn Nacht für Nacht die verwirrendsten Geschichten, überreich an Gesichtern, an die ich seit vielen Jahren nicht mehr gedacht hatte, und Schauplätzen, an denen ich noch nie gewesen war. Auch bekamen die Träume einen Zug ins Genrehafte, ja, ich meine, dass mindestens ein Western dabei war. Bei aller Intensität schienen mich die Geschichten emotional kaum zu berühren. Mehr als einmal hatte ich das Gefühl, den eigenen Träumen wie auf einem Bildschirm zuzuschauen, mit einer Mischung aus Faszination und Distanz, seltsam handlungsunfähig. Und regelmäßig waren sie kurz nach dem Aufwachen wieder vergessen. Lebhafter erinnern kann ich mich nur an die wenigen, in denen die neue Normalität in die nächtlichen Imaginationen vordrang und ich etwa zum ersten Mal im Traum mit Abstandsregeln und Maskenpflicht konfrontiert war (an letzterer scheiterte ich wegen unkontrollierbaren Nasenblutens).
Letztlich sind diese Träume nicht zu einem «integralen» Bestandteil meines Lebens geworden. Das Gegenteil war vielmehr der Fall: Angesichts der Träume, so scheint mir mittlerweile, wurde mir bewusst, wie sehr dieses Leben selbst sich bereits desintegriert hat. Es ist wohl so, dass mein Hirn mit abenteuerlichen Träumen die komfortable Ereignislosigkeit meiner privilegierten bürgerlich-akademischen Existenz zu kompensieren versuchte. Zugleich zerfiel die Alltagswirklichkeit, die da allnächtlich bearbeitet werden muss, immer deutlicher in die vorhersehbaren häuslichen Rituale, mit denen sich meine Tage füllten, und den medialen Strom der Nachrichten, der immer ungefilterter in diese einbrach. Wirklichkeit, das waren der morgendliche Kaffee, die Kirschblüten am Kanal und die Sonne auf dem Balkon, ebenso wie die Bilder aus Portland, Beirut oder Moria und die täglichen Infektionszahlen im Radio. Je mehr das geschäftige Hintergrundrauschen der alten Normalität schwand, umso durchlässiger wurden die Alltagsroutinen für den katastrophischen Irrsinn jenseits der engen Grenzen meiner Welt. Und immer weniger ließen sich erlebte Idylle und medial vermittelte Katastrophe noch in irgendeinen sinnhaften Zusammenhang bringen. Wo schon die wache Wirklichkeit selbst kaum noch zu integrieren war, ragten die seltsamen Träume als weitere fremdartige Splitter in dieses Jahr – das ich trotzdem als viel glücklicher erlebt habe, als es vielleicht angemessen wäre.
Gibt’s auch was Schönes? lautet die Frage, mit der ich mich selbst verspotte, sobald ich meine, ich hätte Grund zur Klage und zum Jammern. Zurück geht sie auf einen Privatwitz, der in einer langen Beziehung als kommunikativer Trick diente, um aus verfahrenen Situationen herauszukommen. Eine Frage wie eine Straßensperre: Gehe ich weiter, gelange ich ins abschüssige Gebiet des Selbstmitleids. Halte ich inne, schaffe ich es vielleicht, mich von der misslichen Lage nicht in die Enge treiben zu lassen. Es liegt auf der Hand, dass das Jahr 2020 die lindernde Wirkung der Psychotechnik auf eine harte Probe stellte und bisweilen wie Selbstbetrug wirken ließ.
Trotzdem: Gab’s auch was Schönes?
An einem Freitagabend im Februar ist das Berliner Delphi-Kino bis auf den letzten Platz besetzt. Die Premiere von El tango del viudo y su espejo deformante von Valeria Sarmiento und Raul Ruiz steht bevor. Ich gehe auf die Bühne und genieße den Blick in den vollen Saal, die Lichter, das Schimmern der Wandbespannung, die erwartungsvolle Stimmung, bevor ich die Regisseurin Valeria Sarmiento und die Produzentin Chamila Rodríguez ankündige. Zusammen mit einigen aus dem Filmteam kommen sie auf die Bühne und sprechen über die mehr als 50 Jahre umfassende Entstehungsgeschichte dieses Films, den Raul Ruiz als junger Mann in Santiago de Chile begann und nicht fertigstellte, bevor er ins Exil ging. Als die Filmspulen viel später auftauchten, nahm Valeria Sarmiento den Faden auf. El tango del viudo... ist das Ergebnis einer Kooperation, die sich, wenn man so will, über den Tod hinwegsetzt. Und das 50. Berlinale Forum, das erste in meiner Verantwortung, ist eröffnet.
Im Frühjahr ist die Welt eine andere, und an die Stelle der vollen Kinosäle treten die Abende in der Wohnung. Gegen Ödnis hilft die Männerphantasien-Lektüregruppe. In wöchentlichen Video-Meetings arbeiten wir uns durch Klaus Theweleits Schlüsseltext. Ich habe großes Vergnügen an den Analysen präfaschistischer Männlichkeit und am offenen, mäandernden Sound des Textes. Breitbeinige Texte mochte ich schon vorher nicht und mag sie seither noch weniger, und wenn ich in aktuellen rechten oder rechtskonservativen Verlautbarungen auf Begriffe wie «Schleim» oder «Sumpf» stoße, weiß ich, in welcher Tradition sie stehen.
Ende August reise ich nach Lissabon, weil ich Jurorin beim Filmfestival IndieLisboa bin. Es gibt eine Retrospektive mit Filmen aus dem Jubiläumsprogramm des Berlinale Forums und eine, die Ousmane Sembène gewidmet ist. In den Sälen und im Open-Air-Kino der Cinemateca Portuguesa hole ich die Filme des senegalesischen Regisseurs nach, die ich bisher noch nicht gesehen habe. Zum Beispiel Camp de Thiaroye (1988). In großer Klarheit und mit viel Geduld wird die Vorgeschichte eines Massakers aufgeblättert, das am 1. Dezember 1944 stattfand. Damals töteten französische Soldaten am Rand von Dakar westafrikanische Kriegsheimkehrer. Nachdem die Männer aus den französischen Kolonien im Zweiten Weltkrieg in Europa gegen Nazi-Deutschland gekämpft hatten, warteten sie in einem staubigen Barackenlager darauf, ihren Sold zu erhalten und in ihre Heimatorte zurückzukehren. Doch ein Teil des Solds wurde ihnen vorenthalten. Sie protestierten dagegen, angetrieben von einem neuen Selbstbewusstsein, das sie durch die Kriegsteilnahme entwickelt hatten. Die Schicksalsergebenheit, mit der sie es hingenommen haben mochten, Kolonialsubjekt zu sein, lag weit hinter ihnen. Sembènes Film erzählt das ohne Schnörkel und mit komplex gezeichneten Figuren, etwa der eines Soldaten, der in einem deutschen KZ inhaftiert war, darüber den Verstand verlor und nun, vom Stacheldraht und vom Wachturm getriggert, in den Loop der Retraumatisierung gerät. An Camp de Thiaroye lässt sich avant la lettre ermessen, was man erreichen könnte, sobald man sich dem multidirektionalen Erinnern öffnete und eben auch eine westafrikanische Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg wahrzunehmen bereit wäre.
Wie war das noch mit dem Ungeteilten?
Weihnachtsgabe 2019 an den Matthes-und-Seitz-Verlag: Ein Manifest mit dem Titel «Wir sind nie Individuen gewesen» für die Reihe Fröhliche Wissenschaft.
Mit Freundinnen zum Jahresanfang im Einstein: Im Rückblick letzte legale Vermassung zu Sechst.
Antwort des Verlags Anfang 2020: der Text würde trotz seiner zugespitzten Thesen zeigen, dass es immer Individuen gegeben hat. Habe auch der Co-Lektor befunden. Nicht zu verlegen mithin.
Überprüfung möglicher Selbstwidersprüche, Vereindeutigung der Ablehnungsstruktur, erhöhte Plausibilisierung, Manifestierung des Manifests, Textform 1. Monat der individuellen Willensbildung: selbst gewählte Berlinalebesuche,
Erweiterung des Textes, ausführlichere Argumentation, Eliminierung der Fremdworte, Erläuterung des Selbstevidenten, Textform 2: postberlinalische Übersendung an Suhrkamp und Fischer Verlag.
Erster Lockdown für den Text: drei Monate. Wenn bis dann keine Antwort, positiv entsorgt.
Beginn der Coronamaßnahmen, noch schnell Zugspitze und Schnee, Zahnradbahn ischglmäßig überfüllt, der 3000er lässt die Aerosole gefrieren.
Illegale Kurve durch Österreich zur Wieskirche: menschenleer, auch der Rokoko garantiert Immunität.
Erste Abstandsregelungen, Stabischließung ohne Vorankündigung, bestellte Bücher dauer-nicht-abgeholt. Gerücht, dass die Verlage nicht mehr arbeiten. Keine Antwort, Text dauer-nicht-lektoriert.
Erste-Mai-Demo: endlich Vermummung legal, Freiheit für die Anarchisten, der Sohn lacht.
Im langen Sommer dann: Schreibquarantäne, kein Internetanschluss, Gartenarbeit, tägliches Schwimmen, kaum Menschen am Horizont. Alleinzige Dichteerfahrung: Sommerfest in der Uckermark, mitten im August, alle draußen an langen Tischen, zusammengedrängt gesprächsbewegt, keiner in der Single-Hängematte, Toskana, bester Sonnenuntergang, einziger Lichtblick des Jahres.
Im Herbst erneute Bearbeitung der Manifest-Form, Textform 3. Sachlage jetzt klar. Erkennst selbst den Freund nicht mehr. Auch in der Uckermark Abstand im Freien. Gute und bessere Masken: Wo wäre individueller Verhaltensüberschuss? Selbst Querdenker ein Gruppenansteckungsphänomen.
Der August-Verlag lehnt ab: zu wenig Kapazität. Außerdem müsse das Manifest an einen großen Verlag. Höchst aktuell, ein Text für alle.
Turia & Kant gefällt der Titel nicht, zu negativ. Österreich hält den Ansteckungsrekord.
Turia & Kant willigt ein, wenn Titel geändert: «Kritik des Individuums».
Erscheint mit dem Impfstoff im neuen Jahr.
Das Corona-Jahr hat eindeutig etwas mit unseren Familien gemacht. Wir fühlen uns den Älteren näher, weil wir uns mehr um sie sorgen, sind erstaunt, wie anstrengend doch das Schooling der Kinder ist und so weiter; all unsere familiären Konstellationen werden neujustiert, durch den Bildschirm, durch den Spaziergang, durch das Filtering Face Piece (FFP). Wir erfahren uns neu, weil wir durch andere Medien anders sprechen.
Das gilt nicht nur für die realen Familien. Ich pflege zum Beispiel seit vielen Jahren ein Beziehungsgeflecht zu anderen Personen meines Nachnamens, von dem ich noch nie jemandem erzählt habe, und auch dieses Geflecht hat jetzt teilweise eine neue Form.
Ich habe zwei private E-Mail-Adressen, eine bei einem deutschen Anbieter seit etwa Ende der Neunziger Jahre und eine bei einem amerikanischen seit Mitte der 2000er. Auf die beim deutschen Anbieter bekomme ich seit einigen Jahren Post, die für einen anderen «j.passmann» bestimmt ist. Er lebt im Rheinland und klagt sehr gern, deshalb bekomme ich alle paar Monate Mails von Anwaltskanzleien mit ziemlich sensiblem Anhang. Ich schreibe dann an die Kanzleien, dass sie den Falschen erreicht haben und mir bitte nie wieder irgend etwas schicken sollen. Häufig antworten sie dann freundlich, dass dies nun mal die Adresse sei, die mein Namensvetter mitgeteilt habe, aber gut, «ist notiert». Da dieser Herr aber offenbar nicht sehr gut darin ist, sich seine Adresse zu merken und gleichzeitig Klient so vieler verschiedener Kanzleien ist, kommt immer mal wieder eine Mail. Ich reagiere darauf nicht mehr, irgendwann wird ihm seine Rechtsschutzversicherung schon kündigen, dann hab ich Ruhe. Bis dahin läuft der Kontakt zu diesem Schein-Familienmitglied auch in Coronazeiten weiterhin so, wie es auch in vielen echten Familien üblich ist: Nur über seine Anwälte.
Ganz anders ist dies bei einem zweiten «j.passmann», der hat eine Mailadresse bei demselben amerikanischen Anbieter wie ich. Er bekommt viel Post aus einem großen Familienkreis, der offenbar über das Ruhrgebiet, die Niederlande und deren Überseeterritorien verteilt ist. Sie schicken sich über einen Mailverteiler aufmunternde Worte, mal deutsch, mal niederländisch, hin und wieder mal eine sicher sehr lieb gemeinte Powerpoint-Präsentation, die nachdenklich stimmen soll und allerlei Segensreiches. Auch hier habe ich erst lang versucht, aus dem Verteiler herauszukommen, auch mein schlechtes Niederländisch habe ich bemüht, met hartelijke groeten uit Keulen, es hat alles nichts genutzt, also ertrage ich auch diese Mails ohne Reaktion. Bis auf gestern.
Es gibt nämlich eine Sache, die die Covid-19-Pandemie in näheren und weiteren Familienkreisen geändert hat: Dissens wird nur noch toleriert, wenn es sich um eine Frage der Meinung handelt. Falsche oder irreführende Nachrichten müssen richtig gestellt werden; wer sie hört, ist verantwortlich, sie zu korrigieren. Wenn ältere Familienmitglieder etwa meinen, es mache doch keinen Unterschied, ob sie nun mit Baumwoll- oder FFP2-Maske zum Einkaufen gingen, muss man reagieren und wenn der eigentlich ganz kluge Großcousin behauptet, die Messenger-RNA des BioNTech-Impfstoffes programmiere das eigene Erbgut um, muss auch widersprochen werden. Also wieso sollte für meine per E-Mail zugelaufene Familie aus den niederländischen Antillen und dem östlichen Ruhrgebiet nicht gelten, was doch für die genetische Familie gilt?
In der gestrigen Mail über den Verteiler schrieb eine meiner Namenscousinen nämlich, sie habe eine wichtige Information für uns, sie kenne eine Ärztin und Chemikerin, die habe ein neues Mittel gegen Covid-19 in der Slowakei ausprobiert und damit große Heilungserfolge erzielt. Bevor man sich impfen lasse, solle man sich doch damit auseinandersetzen, liebe Grüße! Darunter war eine Liste von Links, unter anderem einer auf eine Website Namens «Extrem News. Die etwas anderen Nachrichten», darin wurde über das Mittel berichtet, dessen Erfolge die Mainstream-Medien uns vorenthielten.
Also was sollte ich machen, ich musste an den Familienverteiler schreiben. Dies war immerhin auch eine große Chance, sie würden mich dann rausschmeißen, denn einen Johannes Paßmann wird sicher niemand kennen, sie werden erschrecken, dass jemand ihren Verteiler mitliest, von dem sie nie gehört haben. Da ich also gleichzeitig aufklären und rausfliegen will, haue ich in die Tasten: «Hallo Ihr Lieben, geht nicht solchen Quacksalbern auf den Leim. Lasst Euch impfen. Alles andere ist gefährlicher Unfug von Leuten, denen es nicht um Eure Gesundheit geht, sondern nur darum, Euch Geld aus der Tasche zu ziehen. Auch wenn die Impfung die üblichen Nebenwirkungen haben kann: Euch das Virus einzufangen, ist auf jeden Fall gefährlicher. Also schützt Euch und Andere! Das geht, indem Ihr Kontakte reduziert, FFP2-Masken tragt und Euch impfen lasst. Herzliche Grüße, Johannes Paßmann.»
Heute morgen dann bekomme ich zwei Mails verschiedener mir unbekannter Paßmanns: Endlich sagt es mal jemand, danke für die klaren Worte und so weiter.
Ich komm da nie wieder raus, das bleibt vom Jahr.
Die Durchkreuzung des Hegel-Jahres durch die Mbembe-Debatte hatte Aspekte einer List der Vernunft. Eine passende Pointe dazu war die Leereröffnung des Humboldt-Forums im Dezember. Zugleich erreichte in diesen Wochen mit der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit eine Ableitung der Mbembe-Debatte auch den erweiterten Freundeskreis: ein Weihnachtsritual, ein jährlicher Männerstammtisch mit (niemand weiß mehr so richtig, warum) russischem Essen, fiel nicht nur Corona zum Opfer, sondern auch einem Schisma, in dem Meinungen unversöhnlich und ad hominem persönlich wurden. Meinen Film des Jahres trage ich in diese Konstellationen ein: Zombi Child erzählt davon, wie eine Nachfahrin der Schwarzen Revolution auf Haiti in eine Elite-Institution des revolutionären Frankreich kommt. Bertrand Bonello macht Geschichtspolitik in Form eines Schauerstücks.
Das autoarme Berlin im Mai als Vorschein eines revolutionären Neuanfangs aus dem Geist der Unterbrechung: on arret tout (L’An 01).
Lesen: Kabale. Das Geheimnis des Hebräischen Humanismus im Lichte von Heideggers Denken von Michael Chighel; Die Welt anders. Politische Geschichte der Großen Erzählung von Ton Veerkamp; Salambo von Flaubert
Musik: Sault. André-Erneste-Modeste Grétry. Galcher Lustwerk
Kunst: Pawel Althamer (neugerriemschneider)
* Tiefpunkt war natürlich der Terroranschlag. Es war der letzte Tag vor einem neuerlichen Lockdown, ich soff ab frühem Nachmittag im Café Engländer und war dann um 19 Uhr rechtschaffen bedient. So fuhr ich nach Hause und legte mich gleich in die Kiste, um 22 Uhr kam plötzlich meine Tochter in mein Zimmer und hörte nicht mehr auf zu weinen. Sie hatte mitgekriegt, was ich verschlafen hatte, und hatte nun richtig Angst, dass «Er» zu uns kommen würde, obwohl, wie ich dann selbst endlich herausfand, «Er» längst tot war. Aber draußen waren stundenlang die Polizeisirenen zu hören. Ich tröstete und beruhigte die Tochter, soweit ich trösten und beruhigen konnte, und erinnerte mich dann in der Nacht an mein eigenes Horrorerlebnis aus der Kindheit: Im Juni 1973 wurde in Wien der 30jährige Ernst Dostal zu einem Mord befragt, ein Bekannter von ihm, ein gewisser Dvorak, war in die Luft gesprengt worden. Während der Vernehmung zog Dostal zwei versteckte Waffen und verletzte drei Polizisten schwer, danach war er auf der Flucht und wurde österreichweit mit Helikoptern gesucht, am Abend wurde darüber an jedem Tag, an dem man ihn nicht schnappen konnte, in der Zeit im Bild berichtet. Auf dem Bauernhof seiner Eltern hatten die Beamten eine schalldichte Folterkammer mit Streckbetten und Halsketten gefunden (Österreich halt!). An einem Sonntag erschoss er ein Ehepaar, in dessen Wochenendhaus er sich versteckt hatte. Am Montag darauf schaltete er ein Inserat in einer Zeitung, um verschlüsselt mit seinem Vater Kontakt aufzunehmen: «1919, habe Montag vergeblich beim Turm auf Dich gewartet, werde es Mittwoch und Donnerstag gegen 22 Uhr nochmals probieren. Bin momentan unter 02774/326 zu erreichen.» 1919 war das Geburstjahres seines Vaters, mit dem zusammen und mit dem Gesprengten er eine Serie von Entführungen geplant hatte (wie sich später herausstellte!). Die Schlagzeilen in den Zeitungen lauteten: «Gendarmrie: Dostal wird weiterschießen!» Oder: «Folterkammer auf seinem Bauernhof entdeckt». Alles sehr verstörend für einen Siebenjährigen! Irgendwann erschoss er sich dann, aber die Worte «Dostal» und «Hubschrauber» machen mir heute noch so viel Angst wie der Kinderfänger in Tschitti Tschitti Bäng Bäng.
* Eine Bekannte, eine deutsche Verlegerin mit Verlagssitz in Salzburg, schrieb mir, dass ihr 16jähriger Rotzlöffel sich 16 Jahre seines Lebens geweigert hatte, jemals ein Buch anzufassen. Bis er in ihrem Regal nach meinem Krimi Dürre Beweise fasste. Danach fand sie ihn zwei Tage ruhig in seinem Zimmer im Bett liegend, wo er das Buch las, und dann kam er zu ihr und fragte: «Gibt’s da mehr davon?» Die Jugend ist doch nicht verloren!
* Ein Freund von mir hatte VIP Karten für das Saisoneröffnungsspiel der Rapid gegen die Admira, 10.000 durften auf die billigen Plätze des Weststadions (wir sagen niemals A…. -Arena zu diesem Stadion!), wir saßen oben bei den «Gestopften». In solchen Fällen überkommt mich immer die Freßgier, ich ging die ganze Zeit zum Buffet – Fleisch, Nudeln, Saucen und sogar «Rapid-Knödel»! Und der Wein gehörte praktisch mir, denn Rapid wird von einem Biererzeuger gesponsert, und die Fans sind entsprechend Bieraffin. Das Spiel war obendrein ansehnlich, wie viele Tore «wir» schossen, weiß ich aber nicht mehr (der Wein!). Bleibend in Erinnerung blieb mir, dass, egal, wie teuer die Plätze im Stadion auch sein mögen und wie entsprechend «kultiviert» man das Publikum erwarten würde, auch dort über die die schwarzen Spieler gelästert wird. Und das verleidete mir das Erlebnis dann doch.
* In Punkto «Zerstreuung» nahm die ganze müde Veranstaltung «2020» dann doch noch Fahrt auf, als ich Das Tagebuch von Andy Warhol über Medimops bestellte, auf Amazon hatte ich nachgeschaut, wo es das Buch antiquarisch geben könnte, und dann hatte ich beim Anbieter direkt bestellt, weil Amazon von mir kein Geld bekommt, nie. Das Buch ist dreimal so hoch wie breit und ziemlich dick, man braucht schon Holzfällerhände, um das lesen zu können, und es zerfällt mit jeder Seite, die ich umblättere. Aber die Einträge sind es allemal wert: Es geht um den «fetten Arsch» von Bianca Jagger, und um seine Pickel, die er nie los kriegt; um den Körpergeruch von Patti Smith und um André Heller, der ihn und seine Entourage einst durch Wiens Grabkammern führte, was die Amerikaner tierisch nervte; es geht darum, dass Truman Capote John Huston einst 40 Blowjobs verpasst hat, und dass sogar Bogey ihn in die Kiste locken wollte; darum, wie Jerry Hall Schwänze lutscht, und dass Lou Reed in der Christopher Street in einer 6-Zimmer-Wohnung lebte, die mietpreisgebunden 485 Dollar kostete; überhaupt geht es viel um Immobilien und um die Häuserpreise im Manhatten der frühen 80er Jahre («Ach, hätte ich doch mehr Häuser gekauft, als sie noch billiger waren und nur 30.000 Dollar kosteten!»), und natürlich ständig um Geld: «Taxi 5 Dollar, es ist alles so teuer geworden!» Donald Trump traf er auch öfter auf Empfängen, und er bezeichnet ihn als «sehr attraktiv und sehr männlich». Aber gut, das waren die frühen 80er Jahre.
Im Winter: Martin Gross: Das letzte Jahr. Aufzeichnungen aus einem ungültigen Land + Henry James: Die Gesandten | Im Sommer: Jan Wenzel (Hg.): Das Jahr 1990 freilegen + Jean Echenoz: Ich gehe jetzt || Filme: Tipografic majuscul (Radu Jude) | Tenet (Christopher Nolan, 2020) | Martin Eden (Pietro Marcello, 2019) | Zum ersten Mal gesehen: H.M. Pulham Esquire (King Vidor, 1941) | Wiedergesehen: Step Brothers (Adam McKay, 2008) & Running on Empty (Sidney Lumet, 1988) & Meat (Frederick Wiseman, 1976) || Serien: ziemlich viele, soweit ich erinnere, aber «geblieben» sind vor allem: The Outsider (Stephen King / Richard Price, 2020) | Ramy (Ramy Youssef, 2019/2020) + Konträrfaszination: Tiger King (2020) & Bild. Macht. Deutschland (2020) («Wer wird der Paul Ronzheimer des Corona-Zeitalters?» – falls Reichelt das meinte: einen Lawrence Wright (eine Reportage wie The Plague Year) gibt es in diesem Land tatsächlich weit und breit nicht; am 12. März haben wir über einen den üblichen Medienblödsinn parodierenden Tweet von Nils Markwardt noch ausdauernd gelacht: «Glaub übrigens nächster Spiegel-Titel ‹Die Macht des Medicus – Wie der Virologe Christian Drosten die Politik vor sich hertreibt›») | Gut hingegen: Young Fauci in The Reagans (2020) und, das Forensischwerden der Medien geht weiter: «8’46» [NYT Visual Investigation] || Immerhin Ende Gelände für die Orange & Four Seasons Total Landscaping press conference (07.11.2020) || Zoom-Meeting I (beruflich, einmalig): Jan Soldat + GRK 2132 zu Wohnhaft Erdgeschoss (Duisburger Filmwoche 2020) | Zoom-Meeting II (privat, regelmäßig): VHA || Sebastian Heindl spielt Perpetuum mobile (Orgelpedal solo) von Wilhelm Middelschulte (Berliner Philharmonie, 11.Oktober 2020) | Dirigate von Bruno Kindervater (München, 05./06. November) || Kalb im Huhn nach Johann Rottenhöfer (Rosi, Zürich) | Albatross Bakery, Archipel Delivery Service || Zwei Musikvideos: London in Dua Lipa & Angèle: Fever & das Aufwärmprogramm von Diego Armando Maradona im Land der «Bau + Heimwerkermärkte» (UEFA-Cup Halbfinale, Münchner Olympiastadion, 19. April 1989) || Matthias Glaubrecht: Das Ende der Evolution | Bill McKibben in der NYRB | Der sommernächtliche Kühlschrankeffekt des Neuköllner Comenius Garten
Lange Zeit war meine Beziehung zum Film von der Leidenschaft der Cinephilie geprägt. Ich spürte, dass ich das Kino liebte, aber nicht wusste, warum. Der Kinobesuch wurde häufig wie ein Ritual vollzogen, das Selbstvergessenheit gewährte. Iris Hanika hat in Tanzen auf Beton solche Besuche einmal wie folgt beschrieben: «Am schönsten ist es, wenn das Kino schlecht besucht ist, in den Nachmittagsvorstellungen. Zehn bis zwanzig Personen in einem Raum, der fünfhundert Zuschauern Platz bietet. [...] Da ist man unter Menschen, ohne ihnen nahe zu sein, weder allein, noch bedrängt. Alle sitzen der Leinwand gerade gegenüber, auf die Projektionsfläche ausgerichtet, alle sitzen in derselben Erwartung da: gleich von etwas, das nicht sie selbst sind, von etwas anderem erfaßt zu werden; alle freuen sich darauf, für die nächsten anderthalb Stunden nicht mit sich beschäftigt zu sein.» Ungeachtet der Cinephilie konnte mit dem Kinobesuch aber auch eine soziale Verabredung getroffen werden. Diese Verabredung, die wesentlich zum Film gehört, musste in den letzten Jahren ohne die Institution «Kino» funktionieren, die in Auflösung begriffen ist: Es gab asynchrone Sichtungen in wechselnden Formaten, Treffen auf Festivals und gelegentlich sogar eine Diskussion, wann es sich eben fügte. Im Jahr 2020 änderten sich die Bedingungen der sozialen Verabredung «Film» so sehr, dass mir eine Bestandsaufnahme dessen, was bleibt, schwerfällt. Zwei Filme, die mir besonders gefallen haben, waren: Jean-Marie Straub, La France contre Les Robots. Ein Kurzfilm über die Imagination der abgewandten Seite – der auch im Streaming gut funktioniert. Gerd Kroske, Striche ziehen (2014). Ein Film über Narben, die weh tun, wenn an sie gedacht wird.
Musik: In einem Jahr (fast) ohne Konzerte war die Uraufführung von Chaya Czernowins The Fabrication of Light durch das Ensemble Musikfabrik in der Kölner Philharmonie unter der Leitung von Enno Poppe das Stück, das auf mich den stärksten Eindruck gemacht hat. Mitten im Stück sprechen die Musiker in Papiertrichter, welche die Funktion eines Megaphons pervertieren. – Kunst: Alicja Kwade, Kausalkonsequenz, Langen Foundation, Raketenstation Hombroich, Neuss. Es gibt eine Bahnhofsuhr, die zusammen mit einem Stein, der ihr vermeintlich als Gegengewicht dient, in der Halle kreist. Bei jeder Umdrehung erwartete ich erneut, dass Stein und Zeit aus ihrer Bahn herauskatapultiert würden. Terunobu Fujimori, Ein Stein Teehaus und andere Architekturen, Hombroich. Die Häuser Fujimoris demonstrieren, dass es zwischen der Erfüllung eines Wunsches und dem Bau eines Wunsches einen Unterschied gibt. Jedenfalls ist das gebaute Haus nicht der in Erfüllung gegangene Wunsch. – Literatur: Cécile Wajsbrot, Zerstörung. Roman, aus dem Französischen von Anne Weber, Göttingen: Wallstein, 2020. Ein Roman, der untersucht, wie Leute regiert werden, die vor dem Bildschirm leben.
Gerade so hinbekommen: den überstürzten Doppelumzug von New York nach Dinslaken und von Paris nach Essen.
Dem Jahr am dichtesten auf den Fersen war der Historiker Adam Tooze, über den ich nicht einmal ansatzweise unvoreingenommen berichten kann, weil er ein Freund und Kollege ist. Was Rainald Goetz in den neunziger Jahren im Mikrokosmos des deutschen Feuilletons in Abfall für alle versuchte, ist Tooze auf anderem Gebiet und im globalen Maßstab gelungen. In Essays, Interviews und Podcasts, die im eng getakteten Rhythmus auf praktisch allen relevanten Kanälen erschienen, verlieh er der unförmigen Lawine der wirtschaftlichen und politischen Ereignisse überhaupt erst eine Gestalt, die das Ganze dem Verständnis zugänglich machte. Aus dem Mosaik dieser Texte, die auf theoretische Vorannahmen jenseits der Wechselhaftigkeit des Gegebenen und der Anpassungsfähigkeit des Systems verzichteten, ergibt sich das vielleicht eindrücklichste Porträt des globalen Kapitalismus im Jahr 2020. In den Blick genommen wurde alles von der US-Notenbank über die nigerianischen Schuldenstände bis zum chinesischen CO2-Ausstoß und der japanischen Schifffahrtsindustrie. Kein Zweifel: Das war ein konkurrenzloses Unterfangen. Wer keine Lust hat, die Einzelteile zusammenzupuzzeln, kann getrost auf das kommende Jahr warten. Dann werden die Befunde in handlicher Buchform erhältlich sein.
Die unheimlichste Welt beschwor Kathryn Scanlan in ihrem Short-Story-Band The Dominant Animal (2019) herauf. Das Zusammenleben von versehrten Tieren, die zu Randerscheinungen der großen Trennung von Kultur und Natur degradiert werden, und verhärmten Menschen, die ein marginalisiertes Dasein an der Peripherie der Wohlstandsgesellschaft fristen, taucht Scanlan mit zurückhaltenden Pinselstrichen in ein unfassbar morbides Licht. Nicht nur die meisterhafte sprachliche Reduktion setzt einen Kontrapunkt gegen das begrifflich hochtourige Lob der Gefährtenschaft, das derzeit großen Zulauf feiert. Dass Scanlan an der Stelle, wo andere Allianzen über Artengrenzen hinweg bilden wollen, nur ein desaströses Ausgreifen der menschlichen Entfremdung ins Tierreich erkennt, macht das Buch zu einer niederschmetternden Lektüre.
Das schwindelerregendste Dialogfeuerwerk in diesem Jahr zündete David Finchers Film Mank. Dazu am besten West of Eden (2013) der großen Jean Stein lesen, eine oral history der mächtigen Hollywooddynastien der dreißiger und vierziger Jahre.
Die heftigste Zeitreise: Akio Jissojis Film Mandala (1971), den wir in New York mit Ann und Takashi sahen. Selten begegneten mir die Hoffnungen von ’68 – politische Revolution, sexuelle Befreiung, spirituelle Erlösung – wie hier: zu einem gleichermaßen betörenden wie abstoßenden Wahn verdichtet.
Die schönste Überraschung: Dass sich der Philosoph Raymond Geuss, der gern damit kokettiert, keine Emailadresse zu haben, im Januar in der Zeit ausgerechnet auf Sibylle Bergs ultrazeitgenössischen Roman GRM. Brainfuck berief, um einen Ausblick auf ein unwirtliches Großbritannien zu geben, das nun im Sud der eigenen Souveränität schmort.
Als produktivster Spaltpilz entpuppte sich Patricia Lockwoods LRB-Essay über Nabokov. In meinen Augen war das eine herrlich verschrobene und respektlose Hommage, für einige Freunde jedoch eine zur Masche herabgesunkene Zurschaustellung des eigenen Ungenügens.
Wie der Postkolonialismus das journalistische Schreiben verändert, ließ sich anschaulich an zwei Beispielen studieren. Auf der einen Seite Mareike Nieberdings mit dem Michael-Althen-Preis prämierter SZ-Artikel über die Schriftstellerin Alice Zeniter, der das Zeitalter der europäischen Überseeherrschaft umstandslos zur stimmungsvollen Deko entkernt und als Rahmung für die Feier individueller Achtsamkeit im Hier und Jetzt einsetzt. Auf der anderen Seite die detailversessene Reportage des Westafrika-Korrespondenten der Financial Times Neil Munshi, der den historischen Fall des belgischen Kolonialismus aufrollt und die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Verantwortlichen in Brüssel mit unangenehmen Fragen nach Schuld, Wiedergutmachung und fortwährendem Nutznießertum konfrontiert.
Aufschlussreichste Introspektion: die Magen- und Darmspiegelung, die unauffällige Ergebnisse lieferte. Bis auf Weiteres bleibt mein Leben also neurasthenisches Flackern.
Interessantester Entwicklungsroman: die Mixe, die Tim Sweeney im Laufe des Jahres für seine wöchentliche New Yorker Radiosendung Beats in Space zusammenstellte. Spürbar geschockt vom Vordringen der Pandemie zog sich Sweeney auch musikalisch in die eigenen vier Wände zurück und experimentierte dem Anschein nach ausgiebig mit Ketamin. Die Umstände machten den Bruch mit der Clubkultur notwendig, der Tanzmusik hielt er dennoch die Stange. Sie fand nun im intimeren Rahmen statt, gab sich melancholischer, kaschierte ihre Orientierungslosigkeit nicht, erkundete Irrwege und fand letzten Endes glücklicherweise noch in den verspultesten Rhythmen Halt.
Zur abstrusen Münchhausiade verkam gegen Ende die vierteilige Rohwedder-Doku auf Netflix. Munkeln, Raunen, Hörensagen sind hier die bevorzugten Modi der Analyse. In den Mittelpunkt drängen sich zusehends Selbstdarsteller aus dem Milieu der west-, dann gesamt-, aber personell weiterhin westdeutschen Aufklärungsbehörden, die ganz erpicht darauf sind, ihre zu fadenscheinigen Meisterzählungen aufgeblasenen Gedankenexperimente zum Besten zu geben. In Rohwedder kapituliert der historische Sinn über weite Strecken vor einem Zeitgeist, der geschichtliche Zusammenhänge für umso besser ergründet hält, je mehr in sie hineingeheimnist wird.
Ein schmerzlicher Verlust: der Tod des Musikproduzenten und DJs Andrew Weatherall, dem Birthe und ich ein denkwürdiges und in jeder Hinsicht über die Ufer des Statthaften tretendes Festival in Carcassonne zu verdanken haben. Sein Credo? «Anything that affects people, I like. On whatever level. But it’s got to inspire some emotion. Even if it’s hate: when people say, ‹That’s shit, anyone could do that›. It’s like with modern art and people say, ‹I could have done that›. Well why didn’t you? You fucking didn’t, did you?».
Nicht aus dem Kopf ging mir John Nathans bereits 2018 veröffentlichte Biographie Sōseki: Modern Japan‘s Greatest Novelist. Soweit ich das überblicke, liegt keine deutsche Werkausgabe von Natsume Sōseki (1867-1916) vor, obwohl er die Romanform in Japan revolutionierte und in zuvor ungekannte Höhen katapultierte. Wer betulichen Geniekult erwartet, sollte besser Abstand halten. Zwar wird ausführlich geschildert, wie Sōseki als Überflieger durch Schule und Universität segelte, aber weitaus mehr Raum nimmt der Künstler als Scheusal und Ekelpaket gegenüber Frau und Familie ein. Körperliche und psychische Krankheiten überschatten diese Existenz: Paranoide Wahnvorstellungen und ein aggressiv blutendes Magengeschwür nehmen Sōseki bis ans Ende seines kurzen Lebens in die Zange. Trotzdem wird unablässig produziert, Nathans Textdeutungen sind knapp und brillant.
In diese Biographie ließe sich zudem noch eine autobiographische Ebene einziehen. Bereits 2006 hatte der Japanologe und Übersetzer Nathan sein Memoir Living Carelessly in Tokyo and Elsewhere vorgelegt. Es ist das Dokument eines Mannes, der mit überbordendem Selbstbewusstsein auftritt, sich breitbeinig Respekt verschafft und dabei kaum Rücksicht auf sein privates Umfeld nimmt. Inzwischen ist Nathan 80 und die Zeit hat auch die Sicherheiten in seinem Leben Stück für Stück abgetragen. Da kommen Zweifel auf, der Ton der Texte wird zarter, unsicherer, zerbrechlicher. Als unbelehrbarer Poppsychologe wurde ich den Eindruck nicht los, dass er durch die Arbeit an Sōseki Distanz zu sich gewinnen wollte, um herauszufinden, wie eine Form der Männlichkeit ins 20. Jahrhundert stolperte, nie wirklich zu Fall kam und noch der eigenen Lebensführung ihren Stempel aufdrückte.
Ballett am Rhein, A First Date, Episode 1, 11. September 2020 – 19. Oktober 2020, Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf.
«Treffen an einem sicheren Ort. Brezeln Sie sich nicht zu sehr auf. Genießen Sie den ersten Liveauftritt Ihres Dating-Partners mit allen Sinneseindrücken und lauschen Sie vertrauensvoll auf Ihre innere Stimme.» So lauten die Tipps einer deutschen Wochenzeitung für das erste Date. So ging ich auch in die Oper, im September, als man für kurze Zeit wieder konnte. First Date hieß auch der Titel des Stücks, das ich mir ansah, First Date auch deshalb, weil Demis Volpi, ein neuer Choreograph, seinen Einstand gab: der erste nach so vielen Jahren mit Martin Schläpfer. Aber was kann man nach einer Trennung schon machen? Man trauert, angemessen, rappelt sich wieder auf und hört auf die Freunde, die dir raten, wieder mit dem Daten anzufangen.
A First Date. Ein selbstironischer Titel, der deutlich macht, dass Demis Volpi um das Erbe weiß, das er zu schultern hat. Selbstironisch, ein wenig spöttisch, aber durchaus beschreibend für das, was ich auf der Bühne sah: Dates sah ich, zaghafte Annäherungen, oft coronakonform Abstand haltend, sich nur berührend, wenn man sich aufgerappelt hat und wieder auf unsicheren Beinen steht. Die minimalistischen Skizzen kannten oft nur einen Musiker auf der Bühne, oft nur zwei Tänzer*innen und dennoch zeigten die Stücke, warum ich an diesem Abend mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren war, um in einem geschlossenen Raum zu sitzen: Bereits die ersten Klänge, die den Instrumenten entnommen werden konnten, demütigten meine integrierten Laptoplautsprecher zutiefst und die Körper, die sich bewegten, nahmen meinen Körper in Besitz. Irgendwann dachte ich: Je unsicherer die Lage, desto mehr Zeichen werden benötigt. Denn die Reichweite der Zeichen lässt in schwierigen Zeiten nach.
Es war schnell zu Ende, es soll noch ein zweites und ein drittes Date geben, ich weiß nicht, wann, sie müssen sich bei mir melden. Ich hoffe bald.
Anfragen. Man kann auch Nein sagen, aber dann entgeht einem was. Neun Tage vor Jahresende ist die Liste abgearbeitet, und ich will ganz schnell noch das Neue, das Eigene, das Eigentliche beginnen, damit es im nächsten Jahr steht. Folie dafür ist Jörn J. Burmesters Beitrag zu David Sebastians Cyber Bodies Performance Art Festival – im Netz, coronabedingt. An evening at our home, a family party, a ZOOM performance about biological, chosen and virtual families, about belonging and family trees vs. mycelium ... and whatever you bring will be in it, too … Wenn das kein Versprechen ist. Und ja, ich drohe. Da spannt sich was auf zwischen dieser virtuellen Veranstaltung Anfang Oktober und der Vorführung vor Live-Publikum von DAS FREIWILLIGE JAHR im Wolf-Kino Mitte Februar. Väter-Figuren, Vater-Tochter-Konstellationen, der Unterschied, ob man mit Mitte dreißig oder Mitte fünfzig dem Wunder der Geburt beiwohnt und wer man überhaupt ist in dem Ganzen. Darin hängt dann auch – lustig von einem Brandenburger Augusthimmel baumelnd – die Erste Gerswalder Sommerakademie mit dem Arbeitstitel Neue Narrative, bei der ich auf Grundlage des DFFB-Hygienekonzepts gewaltloses, barrierefreies, wiederverwertbares und gemeinschaffendes Erzählen unterrichtet habe. Natürlich ohne es selbst zu beherrschen. Aber Jürg Schubiger war dabei mit seiner Erzählung Wie man eine Hilfe findet und Peter Liechti, der im Lauftext vorsichtshalber nur von sich selbst erzählt. Und selbstredend Lola Randl mit allem, was vor Ort angesiedelt ist und sich abspielt. Das Alte hat sich aufgelöst, das Neue ist noch nicht erfunden, ich hatte folgerichtig unterschiedliche Adressen und suche immer noch. Die verlorene Zeit wäre vielleicht sicherer als die gegenwärtige und zukünftige, so als Stoff und/oder Verfahren, aber das stimmt auch nicht. N.s Eltern beispielsweise sagen, sie müssten wegziehen und das Haus verkaufen, wenn N. den Roman veröffentlicht, der von ihrer Herkunft erzählt. Weil die Nachbarn dann denken, dass sie’s immer schon gewusst haben, und das würden die Eltern nicht ertragen. Dass die Nachbarn plötzlich was in der Hand hätten. Ein Buch! Für mich gab es, endlich übersetzt, Die langen Abende von Elizabeth Strout. Wer könnte je genug von Olive Kitteridge bekommen? Und Serpentinen von Bov Bjerg. Wer könnte je genug von Höppner Hühnerknecht haben? «Such dir Hilfe, bitte», sagt M. zu Höppner, und Höppner versucht’s, doch es klappt nicht, und es ist ja auch kein Text über die Ehe. Die Unvollkommenheit der Liebe von Elizabeth Strout ist auch kein Text über die Ehe von Lucy Barton, das betont sie als Ich-Erzählerin mehrfach, und auch die Ich-Erzählerin in Deborah Levys Was das Leben kostet sagt über ihre Ehe lediglich: «Ich stellte mir das Gespräch vor, das ich mit dem Vater meiner Kinder nie geführt hatte, wenn eines Tages die bei der Havarie des Boots über Bord geschleuderte und auf den Meeresgrund gesunkene Black Box gefunden würde, die es aufgezeichnet hatte. An einem verregneten Dienstag in ferner Zukunft würde die Black Box von künstlichen Lebewesen entdeckt, die sich ringsum zusammendrängten, um den traurigen, starken Stimmen schmerzerfüllter Menschen zu lauschen», und da frage ich mich schon, warum die besten Romane alle so ausdrücklich keine Eheromane sind oder sein wollen oder können. Wann ein Text eine Drohung ist und wann ein Versprechen, bleibt damit vorerst noch offen, oh, da fällt mir ein, HOLLYWOOD gab’s noch mitsamt der Frage, ob fiktive Happyendings mit realen Missständen aufräumen dürfen, also: Geschichten die Geschichte umschreiben. Ich hätte immer Ja gesagt, ja, natürlich dürfen sie das – plötzlich bin ich mir nicht mehr sicher. Wie hätte wohl Hattie McDaniel diese Serie gefallen? Ich weiß, sie ist längst tot, und pragmatisch-ironisch war sie zu Lebzeiten angeblich auch. Mir aber gefällt STAR WARS immer noch nicht, ich hab einen neuen Versuch gemacht mit DIE RACHE DER SITH, und das könnte vielleicht der dritte Pfeiler werden für das Eigene und Eigentliche kurz vor Schluss: Was letztendlich doch unangetastet bleiben muss – und auch bleibt.
auf das kino. immer wieder und gerade heuer.
auf das kino und auf filme wie schwitzkasten.1978, farbe,16mm. gedreht in wien vom kanadier, stotterer und photographen john cook, der elfie semotan das photographieren lehrte. gesehen im metro kino, viennale 2020. alles und darüberhinaus wissenswerte zu diesem film ist dem buch john cook, viennese by choice, filmemacher von beruf und in dem dvd heft (hoch lebe das filmmuseum wien 2006/2008) zu entnehmen. hier nur 2 bis 3 ephemera: daß mir beim hören der filmdialoge in den kopf schossen faulkners mississippi short stories, angesiedelt im fiktionalen yoknapatawpha county. das idiom der schwarzen dort, vergleichbar dem wienerischen idiom in schwitzkasten. ohne untertitel, bisweilen gar mir eine fremdsprache. wie wohl lautete nachgerade schmäh’ auf kantonesisch? und erst recht ‹schwitzkasten›, auf englisch ‹clinch›. wo bleibt da das schwitzen? und, daß die damaligen profanen pantinen mit den roten lederriemen, die der fürwahr new hollywoodeske handsame, melancholische hermann (juranek, die erde möge ihm leicht sein) trägt, den heutigen trendigen 3 streifigen adiletten entsprechen.
also, auf das kino in den worten elfriede jelineks.: ‹ja, also film ist ein geschenk, eine gabe gegen eine kleine abgabe, die jederzeit leistbar war. so habe ich das damals wahrgenommen. und natürlich alles für wahr genommen.› fürwahr wahr
Nachdem im Frühjahr der erste Lockdown in Deutschland ausgerufen wurde, zog die sogenannte «Corona-Kunst» zurecht viel Spott auf sich. Allerdings entstanden zu dieser Zeit auch sehenswerte kurze filmische Arbeiten wie der wunderbare Stadtparkfilm DIE BEWOHNTE INSEL von Franz Müller. Für die auf e-flux veröffentlichte Filmreihe «From My Window / From Your Window» gab der großartige Z MOJEGO OKNA (FROM MY WINDOW) den Impuls. Zwischen 1978 und 1999 nahm Józef Robakowski von seinem Wohnzimmerfenster eines Hochhauses in Łódź aus Passanten und Begebenheiten auf. Es folgte DIRTY PICTURES von John Smith, der eine gescheiterte Recherchereise nach Jerusalem dokumentiert. Auf Anfrage der Kurzfilmtage Oberhausen steuerte auch ich einen kurzen Fensterfilm bei. Mit VIER WÄNDE versuchte ich meine eigene privilegierte Situation – in Zeiten des Lockdowns einen Rückzugsort zu haben – zu reflektieren. Von meinem Schreibtisch aus «verfilmte» ich meinen Blogeintrag für Cargos «Was vom Jahr bleibt, 2018», in dem ich eine übergriffige Begegnung beschrieb, die mir im öffentlichen Raum widerfahren war.
Im Februar hatte sich die Berlinale auf kluge und entschiedene Weise gehäutet. Anlässlich des 50. Jubiläums hatte das Forum seiner diesjährigen Filmauswahl den ersten kompletten Jahrgang von 1971 gegenübergestellt und somit neue Interpretationsräume erschlossen. Im Internet treffen alte und neue Filme fast in der gleichen Timeline aufeinander und ermöglichen so jedem selbst kuratorisch tätig zu werden. Zu den unterschiedlich langen Folgen von Steve McQueens SMALL AXE (124 min, 68 min., 80 min, 60 min, 60 min) gesellen sich weitere erstaunlich dichte, komplexe 9 Minuten von JUKE AND OPAL (1973) mit Lily Tomlin und Richard Pryor. Die nervig-clever montierte Siegesserie THE LAST DANCE muss sich vom Spielfeldrand aus die wehmütigen Blicke von LENNY COOKE (2013) gefallen lassen. Lenny war in seiner Jugend ein äußerst vielversprechender, hoch gehandelter Highschool-Basketballspieler. In den USA rangierte er über zukünftigen Größen wie LeBron James, hatte aber am Ende seiner Laufbahn nie eine Minute in der NBA gespielt. In einer Langzeitbeobachtung folgen die Filmemacher Josh und Benny Safdie Schritt für Schritt dem bitteren Abstieg eines Ausnahmespielers, für den der Superstardom nur knapp außer Reichweite war. Die Safdie-Brüder zeichnen nach, was für Entscheidungen auf dem Weg zum Profisport in den USA anstehen, und welche davon Lenny falsch getroffen hatte. Kurz bevor der Dokumentarfilm Gefahr läuft, ins Ausbeuterische abzurutschen und seinem gealterten untersetzten Protagonisten die Würde abzusprechen, wird mit einem Sprung in die Vergangenheit eine überraschende fiktionale Volte gewagt. Als der junge, überhebliche Lenny sich dem militärischen Drill eines Trainingscamp erneut verweigert, taucht im Bild der alte Lenny auf und liest seinem jungen Selbst eindringlich die Leviten. Tatsächlich fand Lenny Cooke mit dieser Rolle seinen inneren Frieden. Seitdem hält er Vorträge bei Basketball-Camps, wodurch ihm eine zweite Karriere als «Mentor» gelang. Großmütig stellt Lenny sich selbst als warnendes Beispiel zur Verfügung und lässt angehende Basketballspieler an seiner eigenen Geschichte teilhaben.
Gesehen hatte ich LENNY COOKE als Stream von The Criterion Channel. Da die Kinos fast das ganze Jahr über schließen mussten, wich auch ich auf Online-Content aus. Viele Streaminganbieter (Netflix, Amazon, Mubi, Apple TV +) buhlten um Aufmerksamkeit. Während des Lockdowns zeigte der Filmemacher Abbas Fahdel eine solidarische Geste und bot sein Meisterwerk HOMELAND: IRAQ YEAR ZERO zur kostenlosen Sichtung an. Die Unausweichlichkeit der US-amerikanischen Invasion von 2003 durchdringt den ersten Teil des fünfstündigen Films und hängt wie eine dunkle Wolke über dem Alltag von Fahdels Familie. Die Vorbereitungen auf den Krieg – das Graben eines hauseigenen Brunnens, das Verkleben der Fenster mit Schutzfolie, das Einlagern von Nahrungsmitteln wie getrocknetem Brot – scheint nicht nur den Erwachsenen, sondern auch den Kindern wohl vertraut zu sein. Das Aufschlussreiche, Beglückende an diesem ersten Teil sind die zarten Einblicke in das Leben einer irakischen Großfamilie, die in einem Haus mit Garten lebt. Der zweite Teil zeigt, wie das Land nach dem Sturz von Saddams baathistischem Regime im Chaos versinkt. Plündernde Banden ziehen umher, die Sicherheitslage ist so angespannt, dass selbst in Wohngegenden nachts Schüsse zu hören sind. Der Film findet ein abruptes, tragisches Ende. Während Großproduktionen mit elaborierten Massenchoreographien die Schrecken des Krieges erfahrbar machen wollen, werden hier jegliche Kampfhandlungen ausgespart. Der Film interessiert sich stattdessen für die Menschen, die den Preis für eine verheerende, zynische und verantwortungslose Politik zahlen müssen. Es wundert nicht, dass mehr als ein Jahrzehnt vergehen musste, bis Abbas Fahdel die 120 Stunden Filmmaterial, die er im Lauf von 17 Monaten gesammelt hatte, sichten und montieren konnte. HOMELAND IRAQ: YEAR ZERO nahm sich vor, das audiovisuelle Gedächtnis des Irak wiederaufzubauen und ist einer der entscheidenden Filme der letzten Dekade.
In diesem Jahr der Kontakt- und Bewegungsbeschränkungen verflechten sich meine Filmerinnerungen noch intensiver als sonst miteinander. Nachdem der Diener die Kerzen auf dem Esstisch in MALMKROG (Cristi Puiu) löscht, wirft Ida Lupino einen letzten Blick auf ihren ewig unentschlossenen Liebhaber, bevor sie den Gerichtssaal verlässt und das Feld für seine Ehefrau räumt (THE BIGAMIST, 1953). In KUNST KOMMT AUS DEM SCHNABEL WIE ER GEWACHSEN IST (Sabine Herpich) werden einzelne Striche geduldig auf das Papier gebracht, während in einem Bordell der Formationstanz la marche ausgerufen wird und Vincent van Gogh gemeinsam mit der Boheme seine letzte Nacht feiert (VAN GOGH, Maurice Pialat 1991). Gleicher Tanz, jetzt mit Soldaten der Kavallerie und ihren Ehefrauen. Vor dem Festsaal steht John Wayne und sucht den Blick von Henry Fonda (FORT APACHE, John Ford 1948). Cookie fängt unvermittelt an, den Boden der Hütte seines Freundes zu kehren und sie mit einem hübschen Zweig zu schmücken (FIRST COW, Kelly Reichardt). Beim Mittagessen stimmt Youngsoon ihrer Freundin Gamhee zu, dass Kühe die schönsten Augen der Welt haben. Im Garten grillt Lee Eunmi für die beiden weitere Rindfleischstreifen. (THE WOMAN WHO RAN, Hong Sang Soo). In Minervinis WHAT YOU GONNA DO WHEN THE WORLD’S ON FIRE? organisiert die Black Community Louisianas ihren Protest gegen omnipräsente Gewalt und institutionalisierten Rassismus, der Mord an Georg Floyd kann durch eine Videoaufzeichnung von niemandem verleugnet werden und löst in den USA eine große Protestwelle aus. Ein Mann setzt seinem Sexroboter die soeben gereinigte künstliche Vagina wieder ein (THE TROUBLE WITH BEING BORN, Sandra Wollner) und ein einbeiniger Hahn stolziert irritiert, aber nicht weniger elegant als einer mit zwei Füßen, an einem Zaun entlang, der seinen Bewegungsraum begrenzt (GUNDA, Viktor Kossakovsky).
Der Himmel in meinem Zimmer verdunkelt sich. Ungeahnte Montagen spuken in meinem Kopf herum. Zeit für ein wenig frische Luft. Auf dem Nachtspaziergang durch den Mauerpark huscht wieder der Fuchs aus dem Gebüsch und läuft quer über die weite Wiese. Eine Frau in Daunenjacke zückt ihr Smart Phone und filmt ihn.
Wiederholungszwang: Seit Mitte Januar habe ich mich mit Epidemien, Wechselfieber, therapeutischem Nihilismus, Vaccination und Variolation beschäftigt, während in meiner Ambulanz Desinfektionsspender und Masken für Therapeut*innen und Patient*innen vorgeschrieben wurden. Eine private Recherche machte ein seit 140 Jahren zugedecktes Rabbit Hole in der Familiengeschichte wieder auf, das weiter zur 1. Wiener medizinischen Schule, nach Florenz und zurück in die biedermeierliche Restauration unter Kaiser Franz II./I. führte. Im Lock-Down habe ich mir dazu eine private Filmographie aus den Videovorlesungen von Giovanni Cipriani, PDF-Kino und den Albernheiten von THE GREAT gebastelt. Anachronismen aus dem aufgeklärten Absolutismus.
Widerstand: Ich hatte mir für die erste Berlinale-Woche in der Institutsambulanz frei genommen. Keine Stunden am Donnerstag, stattdessen morgens die Vorführung von Kazuhiro Sodas Doku-Porträt ZERO im Arsenal: Der 82jährige Psychiater Dr. Yamamoto wickelt seine Praxis ab und übergibt seine Patient*innen an Nachfolger. Abschiede auf vielen Ebenen. Ich war so in Gedanken nach dem Film und zugleich schon auf dem Weg zum nächsten Termin mit Abel Ferraras Siberia, dass ich beim Weg aus der Drehtür in der unterirdischen Bahnhofs-Passerelle mir selbst einen Slapstick-Schritt voraus war. Die Glaswand, gegen die ich mit voller Wucht prallte, hinterließ eine mächtige Beule und ein zartes Cut über der Augenbraue. Ich nahm es als Zeichen. Und ging mit Eisbeutel nach Hause, in eine zweite Berlinale-Pause, für eineinhalb Tage. Ich habe am Sofa über Entschleunigung nachgedacht und weiter recherchiert. Siberia will ich noch nachholen.
Todestrieb: Im Herbst starb meine Großmutter im 103. Lebensjahr, wovon das letzte kein Vergnügen für sie war, aber selbst da gab es noch eine beschwipste Nachmittagsstunde in der Wiener Wohnung. Sie wurde noch in die K.&K.-Monarchie hineingeboren, mit einem Begriff von kulturalistischer Bürgerlichkeit, für die ich im Sommer, über die Recherche, ein neues, historisches Verständnis fand. Später, im Nachhall der Beerdigung, sah ich an den Abenden mit K. ihre Plattensammlung durch und bedauerte, dass wir nicht mehr davon vorgespielt hatten. Im Nachhinein erscheint mir die Glaswand vom Februar samt der Medizingeschichtsrecherche auch wie ein Umkreisen dieses angekündigten Abschieds und zugleich der Pandemie. Meinen längsten Text in diesem Jahr schrieb ich nicht übers Kino, sondern über den Todestrieb, das merkwürdig lebensbejahende Konzept von Freud, der die mächtigen Kräfte beschreibt, die sich (uns) entgegenstellen, wenn in einem laufenden System etwas zu sehr beschleunigt oder verlangsamt werden soll. Alexander Kluges und Khavn De La Cruz’ Trans-Punk-Oper ORPHEA, mit der unerschrocken dies- und jenseitigen Lilith Stangenberg, ist mein Erinnerungsfilm für 2020, er illustriert das Funkenschlagen unserer Konflikte energetisch und, wie mir scheint, mit der schönsten Humanität: Nicht einen Menschen retten, sondern alle.
Tsai Ming Liangs RIZI bei der Berlinale als Vorschau auf die kommenden Monate: allmähliche Entleerung der Massenveranstaltungsvenue Friedrichstadt-Palast unter gut zu vernehmendem Schnauben und Maulen. Die ferngefühlte Grundstimmung unter den Gehenden – retrospektiv natürlich vollkommen anders konnotiert – ist so etwas wie Empörung über das Ausbleiben von erwartbaren Rhythmen, als ob es den Zusammenbruch der eigenen Ordnung bedeute. THE WORKS AND DAYS (OF TAYOKO SHIOJIRI IN THE SHIOTANI BASIN) von Anders Edström und C.W. Winter ist ein Film, den man über einen halben Tag bewohnen lernt. Rückblickend wirkt auch er wie ein Vorgeschmack: auf das bevorstehende stay at home und als langer Abschied vom Kino. Im noch längeren Restjahr nur äußerst sporadische Projektionen. Rainer Komers. Der mir bislang unbekannte Dietrich Schubert. Einige Vorstellungen im temporären Sinema Transtopia. Am Rechner, aus und mit Interesse (wieder)gesehen: Ghassan Salhab, Jocelyne Saab, Mati Diop, Black Audio Film Collective, Trinh T. Minh Ha, Wu Wenguang, John Smith, Ahmed Badrakhan und Fritz Kramp. Mit wenigen Ausnahmen nicht am Rechner: Festivals. Die dürfen in Zukunft gerne alle dezentral und multilokal werden, solange sie im Kino stattfinden können.
Das utopische Flair der wenigen Wochen im März und April, in denen es scheint, als gehöre die Stadt den Radfahrenden, verfliegt schnell. Zum Glück fast ebensoschnell dahin ist der Eindruck, Zugfahren habe nun etwas Abenteuerliches an sich. Tsai hat in diesen Wochen ein comeback im Heimkino. Gezunhait! Achoo Cha Cha von Grace Chang wird aus naheliegenden Gründen zur Einleitung eines Mixtapes für Radio Karantina. Projekte werden eingefroren und nicht wieder aufgetaut. Dokumente, deren Rückgabe eigentlich mit einem Treffen verbunden werden sollte, bleiben monatelang liegen, weil es doch schade wäre den gemeinsamen Kaffee durch eine Postsendung zu ersetzen. Aufschieberei macht ohne externen Grund wesentlich mehr Freude. Unglaublich schnell vergehen die Tage am Schreibtisch. Zuhause Stapel von Verso-Taschenbüchern aus dem Pandemie-Dauersale, von denen die meisten ungelesen bleiben. In der Küche: alle Einmachexperimente glücken. Vielleicht stellt sich heraus, dass dieses Jahr wenn schon für wenig anderes, doch immerhin für das Anlegen von Vorräten gut gewesen ist.
Fassungslos über die Explosionen in Beirut am 4. August stellen N. und ich kurzerhand ein Filmprogramm zusammen, mit dem in den nächsten Monaten Spenden für lokale Initiativen gesammelt werden. N. in Beirut, ich in Berlin, das Programm zwischen Montréal, Rotterdam und Bangkok. Herausfinden zu dürfen, dass unser nur lose geknüpftes internationales Netzwerk unter erschwerten Bedingungen die Projektionen organisiert und damit ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit in vielfache solidarische Gesten und finanzielle Unterstützung transformiert, ist fantastisch.
(c) Ovid 2020
Das Jahr der Katalyse und der Hypernormalisierung. Das Jahr, an dessen Ende ich mich von einer Überdosis Normalität und Immobilität erholen muss. Alles, was der Fall ist, wurde nur noch normaler, banaler, sichtbarer. Ungerechter sowieso. Aber davon können Andere bessere Lieder singen. Doch wo eigentlich? Die meisten von uns wurden zu Hausschweinen, auf schwankem Kahne der digitalen See, zwischen Wellentälern- und bergen, in Kameras – frontal wie in einem Seidl-Film – hilflos Begriffe delirierend, investierend. Noch nie hab ich mir so große Sorgen um Popkultur gemacht. Die Kombination «Popkultur, Kleinfamilie und Home Office»… das geht, funktioniert, kooperiert eigentlich gar nicht. Zum Glück müssen das Prince und Bowie nicht mehr erleben, zum Glück müssen sie keine halblustigen Corona-Songs aus dem Wohnzimmer in die Kamera performen und unsere Eigenheime damit parfümieren. Auch das, was einmal Geisteswissenschaft hiess, erschien mir einigermassen obsolet, sich selbst obsolet machend. Ich habe dem Virologen und Infektiologen Wenisch gerne zugehört, der als Einziger – und mit weniger heiligem Ernst als der deutsche Chefarzt der Serie in der wir nun einmal leben – betonte, dass es nicht «Triage» sondern «Bettenallokation» hieße, denn wir «leben nicht im Krieg». Worte kreieren Realitäten, an das muss uns ein Virologe erinnern. Die Rede vom Krieg (gegen den Islam, gegen den Virus etc.) ist unklug und macht die Menschen nervös und ein wenig zu streng.
Ich glaube erstmal und nur bis hierher, dass uns diese planetarische Pandemie schrecklich normal gemacht hat. Alles wie immer, nur mehr davon. Ein Exzess der Katalyse:
Die Strengen werden strenger.
Die Zynischen zynischer.
Die Ängstlichen ängstlicher.
Die Häuslichen häuslicher.
Die Spiesser spiessiger.
Die Verantwortungslosen verantwortungsloser.
Die Idioten idiotischer.
Die Digitalen digitaler.
Die Stubenhocker stubenhockender.
Die Familiären familiärer.
Die Einsamen einsamer.
Die Polizeilichen polizeilicher.
Die Rücksichtslosen rücksichtsloser.
Die Technophilen technophiler.
(Hier hat die Erderhitzung dann doch noch ein Wörtchen mitzureden.)
Die Technophoben technopober.
(Hier hat die Erderhitzung dann doch noch ein Wörtchen mitzureden.)
Die Vitalisten vitalistischer.
Die Anarchisten eher rechts- als linksanarchistischer.
Immerhin: Die Solidarischen wurden solidarischer.
All das spielt sich entlang einer wild durchdrehenden, den politischen Raum neukonfigurierenden Achse zwischen Sicherheit und Freiheit ab. Foucault vs. Marx. Noch nie wurde das so deutlich. Die Staatlichen werden staatlicher. Die Dispositivkritiker dispositivkritischer. «Eine Diktatur der Gleichheit gegen eine Diktatur der Freiheit.» (Pjotr Pawlenski, Das Gefängnis des Alltäglichen, wobei sich Pawlenskis Punk- Attitüde aus der Perspektive von 2020 sehr problematisch liest). Wo wird sich die Imagination der Linken in Zukunft verorten, von welchem Ort wird sie neu aufatmen können, den Diskurs der Notwendigkeit – aber bitte nicht das verantwortungsvolle, solidarische Handeln (!) – sprengen können.
Und ich? Ich wurde ein klein wenig misanthropischer. Das muss sich ändern. Vielleicht habe ich auch zu viel Vögel am Rhein beobachtet und Ovid gelesen. (c) Ovid 2020. Die Metamorphosen blieben 2020 noch aus. Mal weitersehn. Schau ma mal! Da müssen wir noch viel tun.
Anfang 2020 wollte ich zu neuen Ufern aufbrechen, mobiler werden, mit einem Künstlerstipendium nach Paris gehen, über den Kraken und seine Verwandlungen schreiben, mit Freund*innen im Parc des Buttes-Chaumont liegen, für mich, vielleicht, der schönste Ort der Welt, an dem Menschen zu Zootieren, Eisbären auf künstlichen Felsen werden, während sie von echten Tieren beobachtet werden. Daraus wurde aus naheliegenden Gründen nichts. Das Buch schrieb ich dann in Basel, am Rheinufer, über den Parc des Buttes-Chaumont las ich in Virginie Despentes’ Vernon Subutex, ein Buch, drei Bücher, mittlerweile ein Comic, das mir wie kein anderes Buch half, über all das wegzukommen, durch all das durch zu tauchen. Nebst dem Schreiben, Berichten für CARGO über die Viennale, dem letzten Festival vor dem zweiten (endgültigen?) Kinoshutdown, dem ausserordentliche Genuss dessen, was einmal normal war; in den ich auch mit einem guten Freund, den ich gerne «Rammler» nenne, kam, als wir beim Chinesen, in Wien, am Naschmarkt, eine Pekingente und viel Extras verspeisten, als wäre es das letzte Abendmahl. Vielleicht gaben mir die wenigen Begegnungen mit Freund_innen «on the ground» dann doch mehr als die digitalen Vergemeinschaftungen, die mich (eingeschlossen) an einen endlosen Ulrich Seidl-Film über hilflos begriffskreierende Hausschweine erinnerten, die versuchen, der kontingenten Lage Sinn abzugewinnen.
Was half mir noch, nebst Viennale, Pekingentenverspeisen, Ornithologie am Rhein und viel guten Wein? (Übrigens brauchen Vögel die Ornithologie genauso wenig wie Kunst die Ästhetik… auch daran hat mich ein guter Freund erinnert, nach einem Fondueessen, als wir den Spatzen vor meinem Fenster zusahen und über vergangene Iranreisen redeten): Fondueessen mit E, Boule-Spiel mit G, eiskalte Praterspaziergänge mit E und N, ein Sylvesterspaziergang mit A und J und Crémant in der Hand, das Wandern in Guarda (Unterengadin), all die begleitenden Gespräche mit JS hinauf, der Blick hinunter, von einem 3000er in das Zoom-umnebelte Tal, das Hören eines Songs, beim Abstieg, aus dem Smartphone, den ich das letzte Mal ich glaub mit 29/30 oder so hörte (Eddie Vedders «Society» aus Into the Wild). Das gemeinsame Merken, vielleicht auch Erschrecken darüber, immer noch mitsingen zu können. So viele Songs gibt es nicht, wo ich mitsingen könnte, vielleicht bin ich auch deshalb erschrocken.
Was half mir noch ganz besonders?
Ladj Ly’s Les Misérables, Safdie’s Uncut Gem… und S. 187 von Vernon Subutex, Band 2: «[…] um seinen Platz zu finden, muss er die violette Krake auf einem Pfeiler [im Parc des Buttes-Chaumont] suchen, da ist er geschützt.» Ich hab die violette Krake also doch gefunden. Und anschließend «Purple Rain» von Prince gehört. Ein Lied, das aus dem Jahr stammt, in dem Wonder Woman 1984 spielt. Ich bin nun doch gespannt…