31. Dezember 2021
Was vom Jahr bleibt 2021
Es geht weiter / es kommen immer wieder neue / immer schon sind sie unter uns / sie vermehren sich weiter
Und weil auch das Virus immer noch da ist und immer schon da gewesen sein wird und sich immer wieder in neuer Gestalt ‹zeigt› (es sei ein Fremdling, der von uns nicht so viel verstünde wie von den Fledermäusen, meinte Alexander Kluge am 18.12.2021 in einem Interview in der NZZ), habe ich beschlossen, für dieses Jahr das Andere/diese anderen in Film und Literatur zum Fokus meines kleinen Jahresberichts zu machen.
Anfang des Jahres erschien der Roman DAVE von Raphaela Edelbauer, der auch den Österreichischen Buchpreis gewinnt. Syz, der Protagonist, wird zum Vorbild und Nachahmungsobjekt für DAVE, einer transhumanistischen Superintelligenz, auserkoren. Einer Singularität, wie sie von verschiedenen Autor*innen eher halluziniert als artikuliert wird – eine Meta-Figuration (man traut sich das nach der wunderbaren Verwandlung von fb eigentlich fast nicht mehr zu schreiben). Den Konstrukteuren dieser Supermaschine ist klar geworden, dass die reine Datensammlung und -verarbeitung einer performativen Dimension bedarf, einer konnotativen Färbung sozusagen. Also konstruiert Syz seine Geschichte mit allen Dramen und Highlights, um gegen DAVE um sein Leben zu erzählen. Denn je mehr Syzs Bewusstsein (seine Intelligenz, seine Fähigkeit zu logischem und assoziativem Denken) in das Programm der Superrechenmaschine migriert, umso ‹leerer› wird dessen Körper, läuft seine humane Zeit ab. DAVE soll die durch Klima- und andere Katastrophen verkümmerten Menschen überwinden: «Ersetzen Sie jetzt Ihren Kinderwunsch durch einen DAVEwunsch.» (Eine ziemlich perverse Verkehrung von Haraways Aufruf zur Verwandtschaftung.)
Dann erschien Klara und die Sonne von Kazuo Ishiguro auf deutsch. Klara gehört zur Gruppe der künstlichen Freundinnen (ob Freund*innen ist eher unklar), die von Eltern für ihre Kinder gekauft werden. In diesem Roman hat Klara nun aber die Erzählerinnenposition inne, aus der sie ihre Annäherung an die Menschen, ihre Versuche, diese zu begreifen, nachzuvollziehen, warum sie das oder jenes tun oder nicht sagen, beobachtend erzählt. Das Mädchen, dessen künstliche Freundin sie geworden ist, leidet an einer Krankheit, das dieses immer schwächer werden lässt (sei es aufgrund fehlender oder überfürsorglicher Fürsorge der Mutter, dem fehlenden Vater) – doch im Unterschied zu Klara, die nur immer wieder an die Sonne muss, um aufzutanken, zu lange im Schatten lässt sie ‹außer Atem› geraten, gibt es diese Art von Auftankung für Menschen (noch) nicht. Und hatten andere non- oder parahumane Spezies noch nach dem ‹Wesen› von Gefühlen geforscht, so steht Klaras empathische Fähigkeit außer Frage – es wird uns Leser*innen deutlich vor Augen geführt, wie diese sich herstellt – Schritt für Schritt erfolgt die Abtastung der Außenwelt und Übersetzung in eine Alltagsorientierung.
Auf der Berlinale (im Frühsommer in diesem Jahr) wurde schließlich Ich bin Dein Mensch von Maria Schrader uraufgeführt (nominiert für den Auslands-Oscar 2022 und inzwischen auch im Hauptabendprogram der ARD zu sehen). Single Frau sucht Partner, in diesem Fall einen künstlichen – einen Roboter, wie die Protagonistin, die diesen testweise zur Verfügung gestellt bekommt, ihn immer wieder abfällig bezeichnet, um dann jedoch (was für ein altes Thema!) in immer größere Irritation angesichts ihres ambivalenten Begehrens diesem Tom gegenüber zu geraten. Er fällt dann auch (Spoiler!) im Test bei ihr durch (zu perfekt, da bleibt nichts mehr, was die Lücke fürs Verlieben aufmachen würde) – um dann jedoch, gesucht von ihr und dort gefunden zu werden – auf sie wartend (!) – wo sie früher schon ... ach, es beginnt also wieder von vorne bzw. wer nun wie oder überhaupt begehrt, lässt sich nicht (mehr) feststellen.
Mein persönlicher Premierenfilm 2021 war der Film von Sandra Wollner, den ich in einem Wiener Kino im Juni sehen konnte: The Trouble with Being Born (der ein Jahr zuvor auf der Berlinale war). Auch hier dieses Hin- und Hergleiten zwischen Wissen, Sehen, Nichtwahrnehmen-Wollen und -Können. Künstlich hergestellte Kinder (als perfekte Kopie und Ersatz für die eigenen, die gestorben sind). Tabuisierte Übergriffe zwischen Kind und Erwachsenem (der österreichische Keller!), die jetzt, da die erste Schwelle (zum selbsterschaffenem Menschen) schon überschritten ist, offenbar jede moralisch-ethische gleich mitüberschreiten lässt, lösen in einem das Unbehagen aus, das all diese unklaren Grenzverläufe begleiten – zwischen tot und lebendig.
Es geht – wie gesagt – weiter: Matrix 4 gerade noch im alten Jahr und damit die Frage nochmals gedreht: sind wir drinnen und glauben nur, draußen (was ist draußen?) zu sein (was der Film ziemlich gut in der ersten halben Stunde inszeniert), Meta-Standpunkt oder längst im Rechnerbrustkorb von DAVE? Und wie heißt es in der Matrix treffend: Realität ist Sehnsucht und Angst – Realität ist Fiktion, und die Menschen glauben an die Realität wegen ihrer Gefühle. Und was sind Gefühle ... das wissen auch die Matrix-Schöpfer*innen nicht so genau, nur, dass diese nicht binär zu knacken sind – obwohl (wieder Spoiler!) Neo Trinity findet, und Trinity ihn mit hoch in die Lüfte zu ihrer beider Rettung zieht (Augenzwinkern) – es geht weiter ...
2021 — Batiste (und Bernette)
I.
«Du hast mir einmal gesagt, dass das menschliche Auge Gottes einsamste Schöpfung ist. Wie so viel von der Welt durch die Pupille zieht und diese doch nichts davon bewahrt. Das Auge, allein in seiner Höhle, weiß nicht einmal, dass es ein anderes gibt, genau wie es selbst, nur Zentimeter entfernt, ebenso hungrig, ebenso leer.» Ocean Vuong: Auf Erden sind wir kurz grandios
II.
Zum Ende des Jahres: Treme. Jeden Abend. Länger als wir wach sind. Bevor ich einschlafe, schließe ich die Augen und höre noch eine Weile zu.
Staffel 1, Folge 8: Alles bis hierhin handelt von der Frage, ob die Katastrophe vorbei sein oder anhalten wird. Der erste Mardi Gras nach Hurrikan Katrina ist für diese Frage ein entscheidender Moment. Die Affirmation, dass das Leben weitergeht — das poetische, volle, gemeinschaftliche, zärtliche und anstrengende Leben —, wird in der karnevalesken Inszenierung performativ hervorgebracht. Sie soll den Bewohner*innen von New Orleans wie auch der Welt da draußen — dem Rest des Landes, der medialen Weltkugel, dem Imaginären, das diese Stadt eben auch ist — ein mächtiges Zeichen des Widerstands, der Hoffnung und Zuversicht sein.
In jeder einzelnen Folge erzählt Treme von diesem Widerstand, der etwas Historisches bewahren und eine Weise zu sein erhalten will, weil sich in ihnen eine Form des Existierens in die Praxis gesetzt hat, die im Verhältnis zum Rest der Welt als Alterität bezeichnet werden muss: Wann immer die Serie in Szenen der Live-Musik übergeht, wird Treme das Gegenteil von Effizienz, Zielgerichtetheit, Kontrolle, suspendiert die Erzählung und verfällt dem Exzess, der Regression, der berstenden, kreativen Kontingenz. Wie Antoine Batiste (Wendell Pierce) (und nicht nur er) am Mardi Gras (und jenseits davon) von einer Bar in die nächste gleitet, hier isst, dort trinkt, Leute umarmt, auflaufen lässt und kennenlernt, Teil der einen und später der anderen Jamsession wird; wie er seinem Leben in aller Fülle nachgeht, in engem Kontakt zu seiner Welt, sie anpustend und einschwitzend, sie drückt, rempelt, zu sich zieht und von sich drängt, erzählt von einer Art zu sein, die nicht vorsichtig tastend, strategisch durchdacht, an der Schnur geführt von hier nach da gelangt, sondern die jede Situation neu angeht und mitgestaltet, die im Moment ist und diesen aktiv und leidenschaftlich mit hervorbringt.
Das Paradoxon dieser achten Folge (vielleicht auch jenes der ganzen Serie) ist, dass wir diese Energie wieder und wieder zu spüren glauben und doch immer auch wahrnehmen, was Creighton Bernette (John Goodman), fertig kostümiert, mit seiner Familie auf dem Weg zur Parade, schließlich artikuliert: «I’m not feeling it». Es nur zu machen, reicht nicht. Es muss eine Form des Denkens, Fühlens, Existierens sein, die stärker ist als der Druck von Außen, das Trauma der Vergangenheit und die Ruine der Gegenwart. Ausgerechnet Bernette, der in der ersten Folge einem Fernsehjournalisten die Kamera entwendet hat, um sie ins Wasser zu werfen, als dieser beginnt, New Orleans klein zu reden, fühlt es nicht mehr. Er ist ent-täuscht. Er taucht ab.
Zwischen diesen beiden Polen – Batiste und Bernette – bewegte sich (und bewegt sich noch) 2021 vieles wieder oder erstmals Gesehene, Gehörte und Gelesene, aber da zur Zeit viel dem Pol Bernette zustrebt, ist es richtig, Batiste festzuhalten:
III.
In einem Jahr mit wenig Kinobesuchen: Heide Schlüpmanns Raumgeben – der Film dem Kino • 2551.01 von Norbert Pfaffenbichler & The Power of the Dog von Jane Campion & Wild Grass von Shan Wu • die Beschäftigung mit den Filmen von Sabine Herpich • High Maintenance & Small Axe & (jetzt gerade noch) Treme • Blue Collar von Paul Schrader & Harlan County USA von Barbara Kopple & Bini Adamczaks Beziehungsweise Revolution • Redupers – Die allseitig reduzierte Persönlichkeit von Helke Sander & The Canyon von Zachary Epcar • Once upon a Youth von Ivan Ramljak, Hindle Wakes von Maurice Elvey & Another Coin for the Merry-Go-Round von Hannes Starz • Sarah joue un loup-garou von Katharina Wyss & Herr Bachmann und seine Klasse von Maria Speth • I'm thinking of ending things & Ameisig (z.B. S. 202-204) von Charlie Kaufmann & Vor der Leinwand von Semih Korhan Güner & Marie Ann Doanes The Emergence of Cinematic Time • Die Sonne liegt im Erdinnern von Mareike Bernien und Alex Gerbaulet & Birdsaver Report 2 von Heehyun Choi • Flowers blooming in our throats von Eva Gialo & Lydia von Christian Becker & Das Herz durch Wüsteneyen rennt von Garegin Vanisian • Krai von Aleksey Lapin & De grands evenements et des gens ordinaires von Raoul Ruiz & The Emperor's Naked Army Marches On von Kazuo Hara • One Thousand and One Attempts to be an Ocean von Yuyan Wang & Earthearthearth von Daïchi Saïto & Die Gesellschaft des Tentakels von Matthias Wittmann & mushroom-of-the-day.blogspot.com von Heiko Sievers (tägliches Glück) • Nice Coloured Girls von Tracey Moffatt und Unfomcortably Comfortable von Maria Petschnig • die Zeit in Graz (Diagonale), Zagreb (25 FPS), Duisburg (Filmwoche), auf Dune (Dennis Villeneuve), in Seminaren (KHM, bei der Summer School des ÖFM) & 2020 von Friedl vom Gröller.
Chronologisch: The January 6, 2021 United States Capitol attack • Max Nettlau: Ganz private Mitteilung. Biographische und bibliographische Daten (1940) • Rachel Cusk: Second Place (2021) • die Corona-Schnelltest Pop-ups • Mario Monicelli: caro michele (1976) • Kazuo Hara: Extreme private eros: Love song 1974 (1974) • Michel Leiris: Die Spielregel 1: Streichungen (1948) • Dominik Graf: Fabian oder der gang vor die hunde (2021) • Mikio Naruse: yama no oto (Flowers of the Mountain; 1954) • Eckhard Henscheid: Maria Schnee. Eine Idylle (1988) • Shelly Silver: Girls/Museum (2020) • Ridley Scott: House of Gucci (2021) • Yasujiro Ozu: Higanbana (Equinox Flower; 1958)
Les films de Radu Jude
A voir de plus en plus les films de Radu Jude, une idée ne me quitte pas, qui a surgi à la vision de Bad Luck Banging or Loony Porn au dernier Festival de la Rochelle qui lui avait rendu un bel hommage : c’est le premier cinéaste qui me fasse penser de façon irrésistible à Godard. Tout simplement par la nouveauté absolue de son cinéma qui ne ressemble à rien d'autre avant lui. Les trois parties disjonctées de Bad Luck Banging or Loony Porn en témoignent, dans leurs improbables ajointements, comme la capacité du cinéaste à passer sans encombre du grand film au film court, de la fiction au documentaire. Par exemple cet essai de près de trois heures, The Exit of the Trains, composé entièrement d'archives photographiques et de documents relatifs au premier grand massacre des Juifs en Roumanie, dans la ville de Iasi en 1941. Ou aussi bien cette obstination, dès son premier long-métrage, La Fille la plus heureuse du monde, à enfoncer avec une sorte de furia le clou de la répétition pour faire du tournage d’un spot publicitaire consacré à un vulgaire soda aussi bien une autopsie du capitalisme marchand que le développement d'un drame familial entre deux générations, drame qui oppose la jeune actrice d’un jour, innocente et butée, à la cupidité petite bourgeoise de ses parents.
Le premier long-métrage de Kelly Reichardt
Grâce à la rétrospective que lui a consacré le Centre Pompidou en octobre 2021, j’ai enfin pu voir le seul film de Kelly Reichardt qui m’avait échappé : son premier long-métrage, River of Grass (1994). Ce qui frappe aussitôt dans ce road movie qui n’en est pas un, c’est un art continuel des ruptures qui déplace la logique des actions au profit d’une irruption continuelle de l’événement. Cette fugue d’un couple d’occasion devient ainsi sans cesse ponctuée de micro-événements qui lui font perdre tout son sens en le dotant du même coup de leur poésie propre, celle d'une sorte de suspense permanent tenant à l’inattendu des gestes et des actions. Et on sait gré à la cinéaste d’avoir choisi, pour son personnage féminin, avec Lisa Bowman, dans le couple déjanté qui emporte le film, plutôt qu’une femme de charme au look et au comportement trop attendu, une femme concrète, puissante, dont le caractère éruptif sert au mieux le peu de cohérence des actions au gré desquelles le film s’élabore, selon un déséquilibre permanent qui fait tout son prix.
Relire Proust
Un de mes vieux amis le relisait tous les dix ans. Je l’avais lu une première fois il y a vraiment très longtemps, et sans doute ensuite par bouts si j’en crois des notes égrenées dans les trois volumes de ma vieille Pléiade. Je l’ai récemment repris dans un certain désordre mais pour finalement tout le relire, me souvenant à cette occasion que j’avais autrefois consacré un texte au beau livre de Jean-François Chevrier, Proust et la photographie (1982). Il y soutenait, paradoxalement, et comme une fiction, qu’autant qu’une vocation d’écrivain, A la Recherche du temps perdu s’avérait le récit d'une vocation de photographe. Et cela en dépit du rejet de la photographie que Proust a maintes fois réitère mais dont il élabore aussi bien une sorte d’utopie en l’assimilant plus ou moins au processus d’écriture. J’avais eu alors la tentation de pousser un peu plus loin le paradoxe, en proposant que c’est aussi bien une vocation de cinéaste qu’engageait la recherche, là encore à rebours du rejet manifesté par Proust envers le cinéma. Ce qui me frappe aujourd’hui, le relisant, c’est de voir à quel point les innombrables évocations d’images auxquelles se livre Proust enlacent indissolublement, dans leurs lacis les plus indiscernables, tous les modes d’images qui hantent continuellement le corps-esprit humain métamorphosé par toutes les machines qu’il n’a cessé de plus en plus d’élaborer.
Es ist schon ein bisschen unheimlich, wie Algorithmen auch den Jahresrückblick und Erinnerungen mitsteuern. Sei es die automatisch generierte Jahreshitliste auf Spotify (in die sich Familienmitglieder mit einschreiben), die «most visited» sites in der eigenen Browserhistory (wenig überraschend), die Google-Zeitachse (die völlig unintuitiv ist, vmtl. weil Erinnerung räumlich funktioniert) oder die Viewing-Activity in einschlägigen Streamingplattformen (die sich als Liste des Wieder- und Nachgeholten liest). Zu diesen algorithmisch aufbereiteten Datenprofilen gesellen sich vermehrt auch QR-Codes im öffentlichen Raum und andere Zertifizierungs- und Identitätsnachweise, die Zugänge während der Pandemie regulieren. In Israel ist das alltägliche Leben ohne Greenpass praktisch unmöglich – die Uni, der Flughafen, die Bahnhöfe, überall Checkpoints. Überhaupt hat sich längst ein Unbewusstes der Pandemie eingestellt, bei dem man Dinge bereits automatisch unterlässt, weil man den öffentlichen Raum längst nach bewegten und unbewegten Luftmassen eingeteilt hatte, um der Aerosole der anderen Menschen zu entgehen, oder weil man selbst niemanden gefährden möchte. Der nächste Schritt einer Augmented-Reality-Pandemic App (für die nächste Pandemie) wird wohl sein, auch diese Atemluftmassen durch Simulation sichtbar zu machen.
Impressionen: kalifornischer Rock-Pop der 1970er Jahre am tiefst gelegenen Café der Erde am Toten Meer, WLAN in der Wüste, orthodoxe Juden, die bei Zara schwarze Hosen kaufen, Masada, und überhaupt die israelische Küche und das Hebräische. Die Kinemathek in Jerusalem als eine Art säkularer Pilgerort, und immer wieder die Altstadt. Auch Natur und Bewegung waren wichtiger als sonst in diesem Jahr. Das Spazierengehen mit Freunden und Wanderungen (den Schrittzähler immer mit dabei). Bleibende literarische Eindrücke sind wohl David Grossmanns zynisch-existenzielle Realsatire Kommt ein Pferd in die Bar, David Vogels psychologische Studie eines in sich gefangenen Künstlers in Eine Ehe in Wien, Simon Montefiores informative Jerusalem-Biografie, und das Tagebuch des vergleichsweise unbekannten, aber höchst umtriebigen und bestens informierten arabischen Christen Wasif Jawhariyyeh während der Zeit der Ottomanen und des Britischen Mandats in Israel.
Ich hoffe, dass das scheinbar nicht enden wollende Lamento der Pandemie tatsächlich einmal wieder die Tonart wechselt und dann publizierte Bücher auch wieder mit Buchpräsentationen stattfinden, Reisen über den Planungsstand hinausreichen, Disputationen und Tagungen nicht mehr verschoben und in Präsenz stattfinden können und diese teils uninspirierte Digitalhygiene nicht mehr Zwang, sondern Option ist.
Es ist natürlich eine schön ironische Pointe, dass ich das Ende des Jahres, auf das ich mich so sehr gefreut hatte, weil Bewegung und das Reisen irgendwann wieder möglich sein würde, auf einer Isolierstation in einem Hospital im Großraum Bangkok zubringe; festgesetzt mit einer Covid-19-Infektion. Nicht schlimm, hatte mich sicher gefühlt nach Impfungen und Booster. Seit Heiligabend schon und noch bis zum 2. Januar. Ten days of Christmas, Transition Zone, zwischen den Jahren. Hier der Blick aus meinem Fenster heute morgen:
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Als ich eine Zeit lang als freier Kameramann für das Fernsehen arbeitete, gab es immer wieder – oft im geeigneten Augenblick – Anrufe aus den Redaktionen, die mich, wie in der Lotterie, aus dem, womit ich sonst gerade beschäftigt war, herausgeholt und in Nischen der Gesellschaft geworfen hatten. Nischen, in die ich ohne diese Zufälle nie einen Blick hätte werfen können. Für eine Geschichte über Monteure aus einem thüringischen Dorf zum Beispiel. Oder, ein paar Tage später, für ein Porträt mit dem Vorstandsvorsitzenden von Siemens. Oder für etwas Ähnliches über einen schwarzen Fußballspieler, der es im Osten nicht mehr aushielt (mit begleitetendem Diskothekenbesuch in Chemnitz). Oder für ein Treffen Schirrmacher/Raddatz, als die beiden noch lebten … so was. Perfekte Situationen zur Erkenntnisgewinnung, weil unintentional von meiner Seite, zumindest zu Beginn.
Diesen Aspekt (diese, vielleicht, Illusion), durch das Zufällige einen dreidimensionalen Blick in die Gesellschaft geschenkt zu bekommen, vermisste ich neben der Bewegung des Reisens und dem von mir so geliebten irgendwo in der Fremde sein, am meisten. Besonders, natürlich, als die Pandemie begann, die Bewegungsfreiheit so extrem einzuschränken. Ein Freund, dem ich davon erzählte, machte mich auf eine Hamburger Firma aufmerksam, die überall in Deutschland Autos überführte. Das hörte sich perfekt an, berührte auch ein lang vorgenommenes Recherchethema. Seitdem mache ich das gelegentlich, vielleicht zwei bis drei mal im Monat, wenn es gerade passt und ich neugierig bin, und mal wieder raus muss. Und sie mich anrufen und fragen.
Auf diese Weise jedenfalls gerate ich seit einiger Zeit wieder an Orte, mit denen ich nicht gerechnet hätte. Einer davon in diesem Jahr war Gardelegen, eine kleine Stadt in der sogenannten Altmark, irgendwo zwischen Wolfsburg und Stendal. Eine alte Hansestadt sogar, eigentlich ganz hübsch. Dachte ich. Ich sollte dort am nächsten Tag von Berlin aus ein Auto in einem mittelständigen Betrieb abgeben. Eine kleine Landpartie, wie schön, und dann zurück mit dem Zug, in dem ich mich besser konzentrieren kann, zum Beispiel aufs Lesen, als irgendwo sonst. An diesem Ort, so las ich dann aber, als ich in der Nacht weiter googelte, hatte eines der schlimmsten Massaker im Rahmen der Todesmärsche in den letzten Tagen des untergehenden «Dritten Reichs» stattgefunden: über tausend halb verhungerte KZ-Häftlinge waren in eine Scheune auf dem offenen Feld vor der Stadt getrieben worden. Dann wurde die Scheune in Brand gesteckt. Volkssturmleuten und mit Granaten und MGs ausgestattete Mitgliedern der örtlichen Feuerwehr schossen auf die Fliehenden. Normale Leute, die SS-Bonzen hatten die Befehle gegeben und sich dann vor den heranziehenden Amerikanern aus dem Staub gemacht. Ich fuhr am nächsten Tag an die Gedenkstätte des Massakers, aber es war bleak, ich hatte nicht den Eindruck, begreifen zu können, was da vor Jahrzehnten, zur gleichen Jahreszeit, unter ähnlichen Wolken am blauen Himmel, passiert war. Aber keine Vorstellung davon zu haben, machte mich fertig. Es war ja nicht nur Obrigkeitshörigkeit oder willige Vollstreckung. In den nächsten Tagen besorgte ich mir dann The Death Marches. The final Phase of Nazi Genozide von Daniel Blatman, einem israelischen Historiker, der sich intensiv mit Gardelegen beschäftigt hatte und eine beinahe nüchterne, fast dokumentarisch bis in die anekdotische Impression hinein erzählende, komplex strukturierte Materialsammlung angefertigt hatte. Die vielleicht deshalb eine so immersive Wirkung auf mich hatte, weil sie sich in den Schilderungen beinahe jeder Wertung der mörderischen Ereignisse rund um das Massaker, in der Umgebung Gardelegens, schon in den Tagen davor, enthielt. Ich kann mich nicht erinnern, je in einem anderen Buch so fieberhaft geblättert zu haben, ein beinahe körperlich schmerzhaftes, hochdramatisches Lesen, warum umtreibt mich das noch immer so? ... am Ende, far away davon, meinen Frieden damit zu machen … aber jetzt glaube ich, endlich begriffen zu haben, wie das alles passieren konnte.
Ein anderes Buch in diesem Zusammenhang, das ich diesem Sommer endlich las, Gabrielle Tergits tollen Schmöker Effingers, machte – vielleicht auch deshalb, weil hier die Nazis so spät erst aus dem Hintergrund in die Handlung treten – mir noch mal deutlich, wie sehr der Judenmord eine Selbstverstümmelung dieser Gesellschaft war.
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Erstürmung des Capitol Hills in Washington DC am 6. Januar durch den Trump-Mob
Ich hatte es schon so weit in den Hintergrund geschoben, aber als ich jetzt noch einmal in die Timeline dieses Jahres schaue, kriecht dieses dystopische Ereignis immer stärker und auf eine unheimliche Weise wieder in mein Bewusstsein. Irgendwie bin ich das noch nicht los, merke ich gerade, da scheint ein Bolzen in der Verankerung meines Fundaments entfernt worden zu sein. Die am Beginn so banal und fast fiktiv (weil real unvorstellbar) erscheinenden Bilder wollen nicht wieder fiktiv werden, der QAnon-Propangandist im Bisonkostüm, die rotgesichtigen Fettsäcke, die die Scheiben zertrümmerten, die Hilflosigkeit der Polizisten, der entspannte Typ im Büro von Nancy Pelosi mit den Füßen auf dem Tisch: die Bilder sind, so banal sie im Eigentlichen sind, im Kontext nicht wirklich zu verarbeiten. Man könnte ja vielleicht mit Recht behaupten, wenn jemand sagt, er verstehe etwas nicht, dann mangele es seinem Blick eben an Komplexität – denn nichts ereignet sich schließlich ohne dass es sich aus etwas anderem herleitet. Aber hier scheint genau das den Kern der Sache zu treffen: dass das alles so wenig plausibel erscheint und so wenig Sinn ergibt. Außer Gewissheiten umzustürzen, eine destruktive, negative Kraft zu entwickeln. Rudy Giuliani, dem die Pomade das Gesicht runterläuft, Four Seasons Landscaping, wag the dog. Ist es nicht vielleicht auch irre komisch? Ja, auch. Kann sich aus dieser destruktiven Kraft vielleicht etwas Positives entwickeln? Sehe ich nicht, aber wer weiß. Phasen einer generellen gesellschaftlichen Umnachtung scheint es ja in allen Phasen der Menschheitsgeschichte gegeben zu haben. Aber das Fundament, auf dem, auch wenn es manchmal schon schwankte, ich mich bis zum Januar noch so sicher fühlte, trotz Trump, trotz Brexit … – früher hat man dafür mal den Begriff «Gottvertrauen» verwendet – dieses Fundament ist nicht mehr da. Jedenfalls nicht so, wie es einmal war. Der 6. Januar ist eine heftige Wunde, ein Trauma, fast wirkmächtiger als 9.11., das war nur Roland Emmerich, so kommt es mir gerade vor.
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Über das Lernen
Nur schwer hätte sich ein weniger günstiger Zeitpunkt finden können: Die Ausstellung Bildungsschock im HKW in Berlin, die die Filmreihe eigentlich schon am Anfang begleiten sollte, lief in ihrer letzten Woche. Die Konkurrenz in den Kinos war mächtig, denn sie hatten nach der Corona-Zwangspause erst gerade wieder geöffnet. Alles startete neu, bekam das Publikum, das schon so lange auf die Filme gewartet hatte – und die Berichterstattung über diese Kinostarts belegte die Plätze in den Feuilletons. Und die Sommerferien hatten begonnen in Berlin, das Wetter war toll, die Leute packten die Koffer, und dann fanden auch noch die Finalspiele der Fussball-Europameisterschaft genau in der Woche statt, in der die Sache im Arsenal startete… Ich konnte im Grunde – und war es auch – über jeden einzelnen Zuschauer glücklich sein, der es trotzdem in die Filmreihe geschafft hatte. Aber war gleichzeitig traurig über jeden Platz der frei blieb. Ganz normal bei sowas, sagten die erfahrenen Kuratoren um mich herum, aber trotzdem: konnte es denn sein, dass einen Film wie Passe ton bac d’abord von Maurice Pialat nur von 26 Leuten gesehen werden möchte, an diesem Sommerabend in dieser Riesenstadt Berlin? Oder Swagger von Olivier Babinet (den außer bei ein paar Festival-Auftritten fast niemand ausserhalb Frankreichs gesehen hat), der überraschenderweise gerade durch die überbordende Fiktionalisierung seiner Protagonisten aus einer Pariser Vorstadt zu einer dokumentarischen Wahrhaftigkeit zurückfindet. Ein paradoxes Wunder. Ich wollte ihn wegen seiner Hybridität ja erst gar nicht zeigen! Nur der Trailer auf YouTube gibt vielleicht einen Eindruck davon, wovon ich hier gerade schwärme. Dass wir von Grandfilm die Erlaubnis bekamen, Herr Bachmann als Abschlussfilm zu zeigen, wie aufgeräumt und glücklich Maria Speth vom Zustandekommen des Films erzählte, endlich wieder Öffentlichkeit, das Rumstehen draußen vorm Kino, in der Hitze des späten Sommerabends debattieren und Witze machen nach den Vorstellungen, das Wiedersehen mit meiner alten Lehrerin Claudia Lenssen, die in ihrem großartig lässigen Sound die Einführung zu Zadeks Elefant Madame improvisiert hatte, überhaupt: wieder im Kino sein, Menschen sehen, sprechen, anfassen. Später dann, zu Hause, nachts die verpassten Fußballspiele auf den Streaming-Plattformen der Sender.
Dieses Jahr bin ich drei sehr unterschiedlichen Formen begegnet, das postkommunistische Zeitalter als Moment zu betrachten, in dem der Engel der Geschichte sich neu gewandet, um die Trümmer uneingelöster Hoffnungen in Erscheinung zu bringen. Gerade vor dem Hintergrund des digitalen Treibsands der fortschreitenden Bilderflut waren es starke poetische Formen, die mir erneut die Bedeutung der Archive vor Augen führten.
Da war zunächst das Buch der Drehbuchautorin Cécile Vargaftig, über das wir im Juni nach einem Jahr mehr oder weniger Distanz endlich in praesentia diskutieren konnten. Als Draufgabe gab es dann noch in unserem universitären Kinosaal in Paris 8 den Film über Céciles Vater, den Schriftsteller Bernard Vargaftig, Dans le jardin de mon père (2006). Ihre essayistische Recherche En URSS avec Gide. Mon journal (2021) rekonstruiert zum einen die Umstände, die 1936 zu André Gides Reisebericht Rückkehr aus Sowjetrussland geführt hatten, der mit herausragender Hellsichtigkeit die repressiven Mechanismen des stalinistischen Regimes benennt und die Kulissen einer offiziellen Einladung enttarnt. Als Parallelgeschichte webt Vargaftig autobiographische Splitter ein, angesichts ihres kommunistisch gesinnten Vaters, dessen treue Haltung der Partei gegenüber auf die Résistance und die Verfolgung durch den Nationalsozialismus zurückgeht und dem im hohen Alter das unantastbare Terrain der Lyrik nicht mehr ausreicht, um die Widersprüche seines Lebens aufzulösen, sodass er psychisch schwer erkrankt. Das überaus gelungen gewebte «Tagebuch» führte mir einerseits vor Augen, wie jemand meiner Generation, im kommunistischen Milieu Frankreichs aufgewachsen, sich diesem schon als Halbwüchsige instinktiv entzog. Andererseits vermittelt die Lektüre durch die detektivisch genaue Rekonstruktion von Details der französischen Schriftsteller-Delegation von 1936 so etwas wie den Geschmack des Archivs; es bleibt schließlich auch im Vergleich verschiedenster Zeugnisse und Dokumente der Moskau-Reise ein nicht auflösbarer Rest, der den Auslassungen geschuldet ist, die Gides Begleiter ihren eigenen Erinnerungen einverleiben. Wie unter einem Brennglas verdichten sich hier ethische Fragen, Biopolitik, Sexualität, Gewalt und Terror des 20. Jahrhunderts betreffend, gewissermaßen als Prolegomena des heutigen Revisionismus stalinistischer Verbrechen.
Eine Retrospektive von Radu Jude in La Rochelle schließlich – endlich wieder ein Festival, Kinosäle und reale Begegnungen mit Filmemachern – überzeugt mich endgültig von der großen Bedeutung des rumänischen Regisseurs, den ich im Frühjahr, so Gott Omikron es will, nach Paris einladen werde. Radu Jude kennt nicht nur ausgefallenste Filme (bis hin zu Ein drittes Reich von Alfred Kaiser), sondern hat auch Alles gelesen (er spricht mehrere Sprachen und hat die Bildung derer, die in minoritären Kulturen zuhause sind). Mir scheint, dass er bis hin zu seinem jüngsten, in Berlin prämierten Film stets neue Formen findet, zeitgenössische Verhältnisse im Spiegel der Historie zu betrachten, oder aber die Geschichte aus dem Jetzt; ob es sich um heutige im Internet zirkulierende Verschwörungstheorien oder die langen Schatten von Rassismus und Antisemitismus handelt. Bad Luck Banging or Loony Porn (2021) hat etwas von Kluges Patriotin (1979), wobei die Figur der Geschichtslehrerin bei Radu Jude naturgemäß einer anderen Kultur von Vergangenheitsbewältigung ausgesetzt ist als die berühmte Gabi Teichert. Der rumänische Filmemacher integriert in seiner Groteske höchst einfallsreich Archivmaterial, darin den Filmen von Kluge, mehr aber noch denen von Márta Mészáros verwandt. Ich habe mich letzten Sommer intensiver mit der Grande Dame des Neuen Ungarischen Films beschäftigt, eine Entdeckung aus meiner Studienzeit. Für meinen Beitrag zur 120. (und letzten) Trafic-Nummer sah ich mehrere ihrer Filme wieder, um staunend festzustellen, wie die Filmemacherin, an der VGIK einschlägig geschult, in ihren Montagen dramatische (jedoch reale) Szenen militärischer Repression mit alltäglichen (jedoch fiktiven) Momenten verbindet, wodurch die Gestalt des Widerstand verzeitlicht und mit kleinen, unscheinbaren Gesten unterfüttert wird.
Blangy-le-Château, 28-12-2021
Zu Hause, als die Kinos in der ersten Jahreshälfte noch geschlossen waren: die Bilder der Landung des Perseverance Rovers auf dem Mars / viele Columbia Noirs. Besonders eindrücklich: The Mob (1951) & Pushover (1954) / ein Paulo Rocha Double Feature: Os Verdes Anos (1963) & Mudar de Vida (1966) / The Works and Days (of Tayoko Shiojiri in the Shiotani Basin) von C.W. Winter und Anders Edström (2020) / O Movimento das Coisas (1985), von Manuela Serra. Was für eine Entdeckung!
Im November in Mannheim: Im schönen Atlantis-Kino drei Filme, die mich sehr begeistert haben, nicht zuletzt weil es Filme sind, die den Kinoraum zwingend erfordern: Memoria (2021) & Il buco (2021) & The Tsugua Diaries (2021) / ein paar Wochen später – ebenso eindrücklich – im Kino des Gropius Baus in Berlin: Wild River (1960) / Kristen Stewart in Spencer (2021).
Den Katalog zur Ausstellung Enfin le cinéma in Paris / Samuel R. Delaneys Times Square Red, Times Square Blue / John Bergers Kunsttexte in Portraits / Ein von Schatten begrenzter Raum von Emine Sevgi Özdamar / die Comics The Seeds (Nocenti und Aja) & Far Sector (Jemisin und Campbell) & Rorschach (King, Fornés und Stewart) / A Ghost in the Throat von Doireann Ní Ghríofa.
Musik: Infinite Granite von Deafheaven / und immer wieder: David Bowie – Live BBC Radio Theatre 2000.
Die erste Impfung / Samstage an unterschiedlichsten Berliner Fussballplätzen.
Im Auf und Ab des zweiten Pandemie-Jahres: der ständige Einspruch der nun 4-jährigen A.: «Nicht nur Erwachsene dürfen bestimmen!» – und die darauf folgenden Diskussionen über Mit- und Selbstbestimmung in einer geteilten Welt und darüber, wer die größere Chatterbox ist (s.u.); als sie sieht, wie sehr ich mich aufrege über einen völlig ungehindert und aggressiv (und in bitterer Ironie auch noch mit «Sapere Aude»-Flagge) durch Mitte ziehenden «Querdenker»-Mob, ihre Frage, ob diese Menschen böse sind und wir uns verstecken müssen; die Herausforderungen einer über mehrere Grenzen hinweg verteilten Familie und das der Pandemie abgetrotzte Zusammensein in Warschau, Wien und Ayvalik.
Und zwischendurch: Derek Tsangs BETTER DAYS (2019); MARE OF EASTTOWN; unter den vielen K-Dramas dieses Jahr am ehesten BEYOND EVIL; Steve McQueens UPRISING; PEPPA PIG (Series 1-7, aber doch vor allem S03, E42: Chatterbox); Charles Yus Interior Chinatown; Richard Wrights The Man Who Lived Underground; Enzo Traversos Revolution: An Intellectual History; Jenny Whites von Ergün Gündüz illustriertes Turkish Kaleidoscope: Fractured Lives in a Time of Violence (mehr noch die dazugehörige Playlist); endlich nachgeholt: Cristina Rivera Garzas Nadie Me Vera Llorar und Dionne Brands A Map to the Door of No Return; das Archiv der Flucht im HKW, und Senthuran Varatharajahs Rede bei der Eröffnung.
Zwei autobiographische Bücher dieses Jahr gelesen, die ich nicht so schnell vergessen werde: In Familiar Stranger (2014) schreibt Stuart Hall über seine Kindheit und Jugend in Jamaica sowie die frühen Jahre in England. Und in Unter die Haut (1983) versammelt Peggy Parnass, damals eine weithin bekannte, vielfach ausgezeichnete Gerichtsreporterin, auch Schauspielerin und Ikone der Schwulenbewegung, nicht ausschließlich Autobiographisches. Doch auch dort, wo sie über Gerichtsprozesse gegen NS-Täter und -Täterinnen schreibt, thematisiert sie ihre eigene Flucht als Kind und die Ermordung ihrer Angehörigen. – Zwei Filme, die bleiben werden, sind Dokumentationen: Grenzland von Andreas Voigt und Herr Bachmann und seine Klasse von Maria Speth. Die vielleicht denkwürdigsten Szenen: die Gruppe syrischer Kurden, die vor Neonazis nicht zurückweichen möchten und den sorbischen Schulunterricht in Bautzen preisen, und die Klasse von Herrn Bachmann, die bei einer Filmsichtung lernt, dass die Migrationsgeschichte ihrer Stadt bis zur Zwangsarbeiterbeschäftigung während des Zweiten Weltkriegs zurückreicht. – Erwähnt sei schließlich noch die unfassbar lange und interessante Reportage über Phosphor bei den Riffreportern, deren Klima- und Umweltberichterstattung man nicht genug loben kann. Und Niklas Webers so mutige wie hervorragende Recherche zum neurechten Historiker Hasselhorn, die sozialmedial zu teilen vielen deutschen Professor*innen dann wohl doch zu heikel war.
2021 war das Jahr, in dem an der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus Menschen erfroren und es keinen Aufschrei der Empörung gab. Die Abwehrreflexe in Polen waren heftig, das Desinteresse in Deutschland erschreckend. Lukaschenko hat genau begriffen, mit welcher Hysterie innerhalb der Europäischen Union auf Migration reagiert wird und ist – wenig überraschend – dazu bereit, das als politisches Druckmittel einzusetzen in dem Versuch, sich aus seiner Isolation zu befreien. Derzeit sind in Belarus fast tausend Menschen als politische Gefangene anerkannt, die im Zuge der Niederschlagung der Massenproteste gegen das autoritäre Regime, die im August 2020 begannen, inhaftiert wurden. Eine der Anführerinnen der belarusischen Protestbewegung, Maria Kalesnikava, wurde im September zu elf Jahren Haft verurteilt. Den Nachrichten aus ihrer Gefängniszelle zu Folge ist ihr Wille zum Widerstand und ihr Lebensmut ungebrochen. Stimmen aus Belarus sind in dem Band von Alina Lisitzkaya (Stimmen der Hoffnung. Aufzeichnungen, Gedichte, Texte der belarussischen Freiheitsbewegung) gesammelt, der im Sommer beim Verlag Das kulturelle Gedächtnis erschienen ist und mich sehr beeindruckt hat. Das Buch dokumentiert den Aufbruch, die Euphorie, die Liebe, die Solidarität und die Hoffnung, die mit dem Aufbegehren der Belarusinnen und Belarusen gegen ihren Staat einhergingen. Einerseits handelt es sich hier um ganz spezifische Augenblicke der belarusischen Gegenwart, andrerseits sind es die universellen Erfahrungen einer Gesellschaft, die aus einer jahrelangen Lethargie erwacht und sich zu behaupten beginnt. Über die Frauen dieser Revolution haben in diesem Jahr Alice Bota (Die Frauen von Belarus) und Olga Shparaga (Die Revolution hat ein weibliches Gesicht) zentrale Bücher geschrieben.
Außerdem ist in diesem Jahr das Buch des Historikers Omar Bartov über die Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz auf Deutsch erschienen. Für mich ist es eines der besten Bücher über den Holocaust in Osteuropa. Über weite Strecken eine schwer zu ertragende Lektüre, die eindrücklich deutlich macht, in welch hohem Maße die Ermordung der Jüdinnen und Juden ein öffentliches Ereignis war, an dem auch die lokale Bevölkerung beteiligt war. Davon hat in diesem Jahr auch der polnische Regisseur Wojciech Smarzowski erzählt, der in seinem Film Die Hochzeit die Pogrome in Szene setzt, die Polen und Polinnen im Sommer 1941 an ihren jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn verübten. Selten sieht man im Kino eine so präzise Übertragung des historischen Forschungsstands auf die Leinwand wie in diesem Fall.
Der Erfolg der Initiative Deutsche Wohnen enteignen, die es bis zum erfolgreichen Berliner Volksentscheid schafft. Und auf dem nächsten Level nun auf den jetzt schon bitteren Senat unter Franziska Giffey trifft, der nichts Besseres zu tun hat, als erstmal Petra Kahlfeldt zur Senatsbaudirektorin zu machen, deren, darf man sagen, Architektur aus dem Geiste eines reaktionären Barbietums wie das Haus gewordene Weltbild von AfD-Fritzen oder dem Ziegenkäseverleger aus Schnellroda aussieht (There’s something wrong here, there can be no denyin’, liebe SPD). Der Sinn von DW enteignen wird allerdings auch da bisweilen nicht verstanden, wo für gewöhnlich Vernunft am Start ist, weil man glaubt, in politischen Auseinandersetzungen mit Messer und Gabel essen zu müssen. Oder so. Dabei geht's um Macht, und also darum, mitreden zu dürfen, wenn man keine hat, bei einer drängenden sozialen Frage. Immer wieder rührend zu sehen, wie die Leute den Kapitalismus so ernst nehmen, als sei er die Demokratie, während dem Kapital grundanständiger Immo-Besitzer, das seit Jahren Haus um Haus freibolzt für Fantasie-Quadratmeter-Preise, scheißegal ist, ob es schlecht aus dem Mund riecht.
Die Verleihung des Ehrenpreises vom Filmkritikverband, aus der wegen der Pandemie im September schließlich ein Extra-Abend mit Laudatio, kurzem Gespräch und Filmvorführung in der Berliner Akademie der Künste wird. Großer Bahnhof für Tamara Trampe, die erfreut länger bleibt, als sie dachte, dass sie könnte. Ein Abschied, aber ein sehr schöner.
Die Eifel im November. Postkartenidyllen, Flutschäden, Nazi-Bauten. Diesigkeit. Auf dem Rückweg an einem Tag, an dem die Herbstsonne «all in geht», wie man so sagt oder auch nicht, durch Arnsberg und Brilon. Stadion Große Wiese. Fiete Merz County. Ab Einbruch der Dunkelheit auf der humorlosen A 2 mit Musik.
Immer wieder die Frage, wie es zusammen gehen kann. Mit/gegen/von/einander. An allen Ecken und Enden und Filmen und Serien landet mein Tunnelblick bei Antworten auf die Frage, wie Zusammenleben (nicht) geht, wie/ob Gesellschaften (kleine, große, beginnende, endende) ein Miteinander hinkriegen, wie Individuen sich dazu verhalten.
In meinem absoluten Serien-Highlight Bir Başkadır, dieser ganz schlicht großartigen Sozialphilosophie der halbnahen Einstellung; in First Cow mit Menschen, Märkten und more-than-humans; in Dear White People, Herr Bachmann und seine Klasse, The Squid Game, Small Axe und The Chair so offensichtlich wie in Nomadland, in dem der Ausstieg aus dem, was sich so an Gesellschaft anbietet, persönlich und strukturell zugleich ist; in Bad Luck Banging or Loony Porn, von den Modi des SUV-Parkens bis zum «Kinder sind die politischen Gefangenen ihrer Eltern»-Slogan; in Katla, wo am Miteinander Verzweifelnde passenden Besuch von ihren Verblichenen oder sich selbst bekommen; in Passing, der Whiteness mit einem Gestaltungswillen bearbeitet, der als Maysville in The Harder They Fall eine Art Cameo hat; in The French Dispatch, bei dem die irre Idee, die Idee eines Magazins zu verfilmen, alle Formen des Miteinander so disparat und eigen lässt, dass Ihre Verbundenheit einzig in dem liebevoll-gestalteten Wunsch besteht, dass es irgendwie zusammengehen kann und genau darum lebendig bleibt; in No Time to Die, in dem die aufgestellte Bond-Kleinfamilie durch Digitalverseuchung pathetisch parzelliert bleibt («A stroke to their cheek ... would kill them instantly!») und beim «We Have All the Time in the World»-Schluss schon das erste Wort verlogen, weil es kein Wir gibt; in The Power of the Dog, der für Benedict Cumberbatch ähnlich wie bei Daniel Craig keine Zukunft für ein Leben zusammen mit dem «leading man» vorsieht; in Matrix Resurrections, der das ganz, ganz anders sieht und für die kommende Gesellschaft, insbesondere für das überraschend glückliche Ende von boy-meets-girl («Have we met?»), gute Chancen.
Soviel und mehr davon in 2021, dass das weder Zufall sein kann noch allein spezifisch für diese Zeit. Natürlich ging und geht es immer schon/wieder auch um dieses Thema, trotzdem hat das heute eine spezielle Wucht und ganz sicher wird damit nicht alles rund, als ob die Welt dem Master-Puzzle-Plan einer Adam-Curtis-Doku gehorchen würde. In jedem Fall musste ich 2021 (nicht nur deswegen) immer wieder an Fredric Jamesons 30 Jahre alte Ideen zur Verschwörungserzählung denken; an das konstitutive Flackern zwischen offensichtlich und ungreifbar, das zur kognitive Funktion der Verschwörung gehört und sie heute als Leitlinie so attraktiv macht.
2021 war Frecciarossa (endlich wieder Reisen im Ausland), FFP2 (mit Delta wurden wir alle zu Frau Martullo-Blocher, die wir doch im März 2020 noch belächelt hatten), Covid-19-Zertifikat (immer, wirklich immer das Handy dabei in der Tasche)
A wie Agee
Die Haftstrafen, die Julian Assange in den USA drohen, wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem War on Terror drakonisch verschärft. Vor Edward Snowden und Julian Assange war Philip Agee. Kaeten Mistry hat seine Geschichte und die Geschichte der transnationalen Solidaritätsbewegung für Agee im Kalten Krieg in einem lesenswerten Aufsatz aufgearbeitet: Kaeten Mistry, «A Transnational Protest against the National Security State: Whistle-Blowing, Philip Agee, and Networks of Dissent», in: Journal of American History, Volume 106, Issue 2, September 2019, S. 362–389.
B wie Bodensee
Die Fähre brachte mich Ende Oktober gegen Abend in knapp einer Stunde von Romanshorn nach Friedrichshafen. So viel Himmel und Fernweh gibt’s in der Schweiz mit dem GA nirgends sonst. Selbst im Herbstnebel.
C wie Cadavre Exquis
Wir haben das Jahr in den Bergen mit Cadavre Exquis begonnen. Das einfachste und vergnüglichste Spiel (Zeichnen oder Schreiben & Falten). Die Surrealisten haben’s erfunden.
E wie Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten)
Der Dokumentarfilm von Villi Hermann, Niklaus Meienberg und Hans Stürm über den Hitlerattentäter Maurice Bavaud von 1980 wurde an den Solothurnern Filmtagen gestreamt. Der Film ist gut gealtert. Das ist großes Geschichtskino und auch ein einmaliges Zeitdokument über den Zustand der BRD, der DDR und der Schweiz um 1979/1980.
E wie Eva und Franco Matthes
Die Werkschau im Fotomuseum in Winterthur zeigte u.a. Dark Content (2015), wo Schauspieler:innen die Recherchen von Eva und Franco Matthes zu Content Moderators nachgespielt und als Schmink Tutorials getarnt haben.
F wie Frauenrechte
Der summende Sound von Pipilotti Rists Ever is overall hallte durch die ganze Ausstellung zum Jubiläum der Einführung des Frauenstimmrechts im Landesmuseum. Mittendrin Berge von Aktenschränken mit Eingaben für das Stimm- und Wahlrecht für Frauen. Sie zeigten, wie wichtig es ist, Kämpfe zu bürokratisieren, damit sie auch aktenkundig werden.
G wie Grenchen
In der Gruppenausstellung Im Wald im Kunsthaus Grenchen haben ich Marianne Engel entdeckt. Mit einfachen Lichtquellen (wie Taschenlampen) arbeitend fotografiert sie den Wald. Besonders angetan hatten es mir auch die mit phosphoreszierenden Farbpigmenten angereicherten Abgüsse von Pilzen. Vom Kunsthaus Grenchen aus haben die Besucherinnen übrigens die beste Aussicht auf den Bahnhof Grenchen Süd.
I wie Il valore della donna e il suo silenzio
Il valore della donna e il suo silenzio von Getrud Pinkus aus dem Jahr 1980 wurde an den Solothurner Filmtagen gestreamt. Damit wurde eine Perle des feministischen Filmschaffens und des Kinos über Migration für neue Generationen zugänglich gemacht. Maria Tucci-Lagamba und Giuseppe Tucci und andere spielten die auf Tonbändern festgehaltene Lebensgeschichte von Maria M. nach.
K wie Kunstfreiheit
Danger Dan, feat. Igor Levit gemeinsam mit dem Rundfunk-Tanzorchester Ehrenfeld. Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt ist das Protestlied des Jahres.
M wie Murdoch
Der Aufstieg der Murdoch Dynastie von Jamie Roberts liefert eine politische Mediengeschichte von Tony Blair bis Donald Trump, und von der Sun bis Fox News. Die Statements der vor der Kamera aufgebotenen vielen Zeitzeug:innen lassen die inhaltsfreien Drohnenaufnahmen vergessen.
M wie Missionsgesellschaften, postkolonial
Das hervorragend kuratierte ethnografische Museum in Neuenburg hat zusammen mit dem Waadtländer Museum für Archäologie und Geschichte und basierend auf dem Comic Capitão von Stefano Boroni und Yann Karlen die vergessene Geschichte der Westschweizer Missionare im südlichen Afrika aufgearbeitet. Die Ausstellung setzt neue Massstäbe zur Behandlung der postkolonialen Schweiz in Museen. Und sie ist letztlich auch eine Hommage an den leider viel zu früh verstorbene Historiker Patrick Harries, der 2007 in seinem Buch Butterflies and Barbarians auf die Bedeutung der Missionsgesellschaften für die Kolonialgeschichte der Schweiz hingewiesen hat.
N wie Visions du Réel in Nyon
The First 54 Years. An Abbreviated Manual for Military Occupation von Avi Mograbi wurde am Visions du Réel gestreamt. Der Film ist streng komponiert. Die interviewten Soldaten sind als Talking Heads vor ihren Bücherregalen aufgenommen. Die weißen Haare verschwinden und weichen dichtem schwarzen Haar. So lange dauern diese militärischen Operationen schon. Dazwischen Handyaufnahmen von Soldaten von ihren Einsätzen. Ohne Angabe von Quellen, was Fragen zum Einsatz von solchen Footages für dokumentarische Filme aufwirft. Der Film ist in Zusammenarbeit mit «Breaking the Silence» entstanden, einer Organisation von Veteran:innen der Israelischen Armee, die seit Beginn der Zweiten Intifada in der Israelischen Armee gedient haben.
P wie Promising Young Woman von Emerald Fennel
Als im Frühling die Kinos endlich wieder aufgingen, wollten wir eigentlich Nomadland anschauen gehen. Zum Glück war die Vorstellung ausverkauft. So haben wir mit dem Racheengel Cassandra Thomas Bekanntschaft geschlossen. Pink und bitterböse.
R wie Rom
Dank Hannah Pilarczyks Tips wurde ich für meinen Romaufenthalt im September gleich in wunderbare Kinos gelockt: das Farnese am Campo de’ Fiori und das Nuevo Sacher von Nanni Moretti. Dabei entdeckte ich in Trastevere auch das eben wieder neu eröffnete Cinema Troisi. Im Park der Villa Medicis bin ich in Drive my Car von Ryusuke Hamaguchi unter dem Römer Sternenhimmel in Japan Auto gefahren.
S wie Sons of Kemet
Immerhin nahmen die Bands tolle neue Alben auf, wenn sie schon nicht touren konnten. Sehr erfreut war ich über Black to the Future von Sons of Kemet, die ich 2018 im Moods gesehen hatte.
T wie In Therapie
Ich schau eigentlich kaum Serien. Und plötzliche war ich drin in In Therapie, der französischen Adaption von BeTipul von Hagai Levi. Ich habe mich voll reingeworfen – und voll mit den einsamen Analytiker Phillipp Dayan identifiziert.
T wie Tschugger
Nach Omikron half nur noch eins – Tschugger, die erste Staffel der TV Serie von David Constantin auf SRF!
T wie Titane von Julia Ducournau
Ich verließ das Kino spät nachts wie damals bei Lynch, Cronenberg oder auch Tarantino mit dem Gefühl, dass ich sowas bislang im Kino noch nicht gesehen habe.
Y wie Your Computer Is on Fire
Herausgegeben von Thomas Mullaney, Benjamin Peters und Mar Hicks bei MIT Press. Endlich wieder mal ein Nerd-Buch in allerbester STS-Manier, das auch ein Publikum ausserhalb der Szene erreichen kann.
Scholz, Biden, der biedere Scholz und der scholzerne Biden geben Aussicht auf einen dritten Weg nach dem dritten Weg. Ob die Folgeerscheinungen der dritten Wege, die hier und da nach viertem Reich rochen, damit von regressiv auf progressiv sich umpolen lassen, harrt der historischen Beweisführung. Lindner jedenfalls hantiert noch nicht mit Trillion-Dollar Stimuli, aber einem Investivprogramm scheint auch der Partei der vermeintlich fiskalischen Vernunft nicht abgeneigt zu sein. Aufs europäische Gesamt gerechnet ist man mit Marcons Stimulus und dem italienischen Investitionspaket wahrscheinlich nicht weit weg vom amerikanischen Neokeynesianismus. Seltsame Renaissance der Sozialdemokratien, die aber keineswegs als Wahlgewinne, sondern eher als Glücksfälle irgendwo zwischen statistischen Kontingenzen und stoffeligen Kandiatenentscheidungen daher kommen.
Den Abstand zwischen Reich und Arm mitsamt der Erinnerung daran, dass Anerkennung diesen nicht verringert, hat derweil THE WHITE LOTUS inklusive aller Identitätspolitischen Stolpersteine ausgemessen. Umverteilt wurden derweil nur die Toten, während das Interregnum in Deutschland sich gefühlt ewig hin zog. Bei allem Sound von Aufbruch derzeit, ist es doch diese Episode, die in Deutschland am deutlichsten aus 2021 nachhallt. Denn was dabei beobachtbar wurde, ist das deprimierende Primat der Politik. Seien die Probleme noch so dringend, die täglichen Lagen noch so unstreitbar kritisch – bevor der Proporz nicht steht läuft nix. Dabei sterben Menschen und Aussichten auf noch mehr Tote häufen sich an.
Bürger sind durchaus Expendables und das nicht nur in Brasilien. Alex Hochulis Artikel «The Brazilization of the World» war eines jener kurzen, eindrücklichen Leseerlebnisse in diesem Jahr, die das Unbehagen, ob hier eine kurzfristige Dysfunktion des «Leben machens» oder eine langfristige, strukturelle Dynamik der Individualisierung desselben vorliegt, hoffnungsarm zu illustrieren wusste. Ob sich Bolsanoro einreiht in das im nachhinein als politische Avantgarde zu lesende Personal, wie das Pinochet für den Neoliberalismus tat, wird sich zeigen. Aber auf den letzten Metern von 2021 gibt ausgerechnet eine Wahl aus Chile Hoffnung, dass es doch in eine andere Richtung gehen könnte. Der gerade 35-jährige Gabriel Boric hat dort die Wahl gegen den auf gut Deutsch wohl faschistisch zu nennenden und 25 Jahre älteren Kandidaten Kast gewonnen. Ist das ein Generationswechsel und Teil größerer Verschiebungen?
Lateinamerika, dieser in Europa häufig ignorierte und postkoloniale Hinsichten verkomplizierende Kontinent, ist jedenfalls als Frage und Modell wieder näher gekommen. Laurent Binets Eroberung, in dem Columbus nie aus Lateinamerika zurückkehrt und stattdessen der Inkaherrscher Atahulpa Europa aus dem Mittelalter herauszivilisiert und nebenbei Luther abserviert, zählte zu den Leseabenteuern dieses Jahres. So ärgerlich die simple und insgeheim dynastisch konterkarierte Inversion des Eurozentrismus als Plotschema von Eroberung war, so bildungsvergnüglich ist das Gedankenspiel dieser alternative history.
Aber zurück zu den Expendables. Wir sind nie aus den achtziger Jahren herausgekommen. Mindestens nicht für die Politikdarsteller im rechten Spektrum, die niemals Beta sein wollen und den Fluch von VHS-Kassetten in ihren bei Stallone & Co abgelernten Männlichkeitsaufführungen weitertragen. Expendable sind dabei immer die Anderen, nämlich wir, und ironisch ist das im Gegensatz zu dem altersverschmitzen Testo-Sextett der einstigen achtziger Jahre VHS-Prinzbuben keineswegs.
Aus 2021 betrachtet erscheinen die achtziger Jahre mehr und mehr als eine Episode des Atemholens im langen Atem des Konservativismus, oder besser gesagt der Reaktion.
Das es in den achtziger Jahren jede Menge zu holen gibt, weiß auch der Nostalgiaextractivismus von Netflix & Amazon Prime. Ob Nicolas Cage dagegen bewusst oder unbewusst anrecyclet, bleibt wahrscheinlich dem Auge des Betrachters überlassen. Aber seine 2021er Filme WILLY’S WONDERLAND und PIG sind mindestens akzidentieller Metathrash. In WILLY’S WONDERLAND sagt Cage kein Wort, aber seine white male anxiety fashion – military gear, tactical beard und dem ganzen Testosteronsubstitutionsmüll der Warenwelten – spricht Bände. Noch deutlicher kann PIG als Metafilm über Hollywood im Allgemeinen und das männliche Publikum Hollywoods im Besonderen gelesen werden. Der Film baut Erwartungen ala JOHN WICK, FALLING DOWN und FIGHT CLUB auf: a lone man and his revenge. Geheimbünde und Männer, die sich im Untergrund treffen und blutig schlagen. Autos dürfen da nicht fehlen und FAST & FURIOS wird nicht ausgelassen, ein Camaro im Bild reicht. Aber was PIG einführt, wird nicht eingelöst. Weder schlägt Cage – der sich sonst immer schlägt – zurück, noch werden mit diesem Auto irgendwelche Models beeindruckt. Vielmehr: Mann sucht Schwein, vermisst die Distanzen zwischen Arm und Reich gründlich am eigenen Leib und besteht darauf, dass Liebe am Ende durch den Magen geht während man(n) immer wieder gern das gleiche isst.
Wer weiß wie das eighties-mining in 2022 dann weiter geht. STRANGER THINGS wird die Sentimente auch diesseits des rechten Randes zu sortieren wissen. Nicolas Cage setzt auch da noch einen drauf und hat schon die totale Rekursion angekündigt. In THE UNBERABALE WEIGHT OF MASSIVE TALENT wird er sich selbst und seine eigene Karriere nachspielen. Back to the Future.
Aber die Zukunft heißt jetzt META und Zuckerberg durfte bei der Vorstellung des virtuellen Metaverse episch Vorführen, dass das, was Steve Jobs über Microsoft sagte: «They just have no taste» vom sozialen Netzwerk aus Palo Alto beerbt worden ist.
Verhältnismäßig unauffällig hat derweil Apple einen ganz anderen Probeballon für die immersive Zukunft gelauncht: Spatial Audio. Die Virtualisierung ist auditiv. Anstatt in die beiden Kanäle der Stereophonie zu mischen, wird nun in frei im Raum positionierbare, virtuellen Audioobjekte gemischt. Auf AppleTV und mit einigen Musikstücken auf dem firmeneigenen Streamingdienst ist das bereits erfahrbar und vielleicht werden Metaversen viel weniger visuell, als das bislang bebildert wurde.
Akustisch ist aber erstmal die Gitarre zurück, weil sie jetzt auf dem Laptop läuft. Amp-Sim Plug-ins, wie die Archetypen von NeuralDSP leisten was Ableton und Reason vor gut zwanzig Jahren für Synthesizer getan habe: man braucht nur noch Kopfhörer, Laptop und ja ein saitenbespanntes Eingabeinstrument und schon hat man Sound. Achtziger ick hör dir tappen.
Ein paar Hauptsachen, wieder an die Oberfläche geschwemmt beim Durchblättern des alten Kalenders. Einige Nebensachen auch. Dazu die ein oder andere – manchmal offene, manchmal klammheimliche – Freude. Und ziemlich zum Ende von 2021 wird eine Dialogstelle aus Andreas Kleinerts unerwartet großartigem Brasch-Film das ganze Gemache und elende Getue der vergangenen zwölf Monate gut auf den Punkt bringen: «Wer heult, fliegt raus!»
Januar
Klare Entscheidung, gleich am ersten Tag des Jahres. Der Titel eines Films aus 2014 soll mich als Hauptlosung durchs Jahr geleiten: «Ich will mich nicht künstlich aufregen!» Torpediert wird der gute Vorsatz bereits wenige Tage später: Capitol Crime in Washington! Zusammenrottung der trumpistischen Horden. Sturm auf den US-Senat. Brachiale Schändung der Demokratie. Und das Schaudern darüber, wie verdammt dünn das Gewebe der Zivilisation ist und wie effektiv in den zurückliegenden vier Jahren von diesem «Führer der freien Welt» daran gezerrt wurde, um es noch fadenscheiniger werden zu lassen.
Februar
Seit jeher gewundert über diese Elch-Sentenz der «Neuen Frankfurter Schule»: Die größten Kritiker der Elche warn früher selber welche. Müsste es nicht richtiger heißen: Die größten Kritiker der Elche wärn eigentlich gern selber welche! Aber nein! Richtiger wär’s zwar und auch logischer, aber die «Neue Frankfurter Schule» ist (war) nun mal nicht logisch, was ja ihre Qualität war (ist)! In diesem Zusammenhang erneut zu Alice im Wunderland gegriffen, auch Klaus Reicharts Lewis Carrol-Monografie nochmal durchgeblättert. Und die DVD mit den kurzen Filmen der Gruppe Arnold Hau (Agthe-Eilert-Gernhard-Waechter) wieder rausgekramt. Leider unauffindbar: die VHS-Aufzeichnung von deren CASANOVA-PROJEKT (1980). Untertitel dieses Kleinods: Wie man leben könnte, wenn man leben würde oder was. Hauptrolle, natürlich: Alfred Edel.
März
Im sogenannten digitalen Raum stattfindende Geburtstagsfeier zum 80. eines ehemaligen Lehrers. An einer der ersten Reformoberschulen Hessens hieß damals noch «Gemeinschaftskunde», was kurz danach in «Politische Weltkunde» umbenannt wurde. Dabei traf die Bezeichnung «Gemeinschaftskunde» eigentlich viel besser, was der alte Lehrer seinen Schülern – # mir auch – beizubringen gedachte. Es waren Stunden, die einem vorkamen, als würde man von Philosophie, Religion, Geschichte und Ethik mehr oder weniger ‹bewässert› werden. Ich weiß noch, dass wir Enzensbergers Aufsatz über die Ideologie der Wochenschau lesen mussten/durften oder hektografierte Seiten mit Passagen aus Montaignes Essais zum Studieren bekamen. Der ehemalige Klassensprecher, beauftragt die ‹Laudatio› auf den früheren Lehrer zu halten, trug vor, dass ihm eine dieser Gemeinschaftskunden noch heute als Kompass dienen würde, nämlich die, wo es um die Ungleichheit ging, zwischen dem was Ich ist und dem was die Anderen sind und dass Gemeinschaft immer ein unsicherer Grund ist, wo man auf der Grundlage einer Übereinkunft die zwangsläufige (!) Unterschiedlichkeit miteinander verhandelt: «Rechnen Sie mit der Ungleichheit Ihrer Mitmenschen. Sie sollten davon ausgehen, dass 99,999% der Menschen ihnen ungleich sind. Machen Sie sich umgekehrt klar, dass Sie für jedes Ihrer Gegenüber zu diesen 99,999% von Anderen gehören. Aber wenn das allgemein anerkannt wäre, könnte es eine gute ‹Geschäftsgrundlage› für einen respektvollen und entwickelten Umgang miteinander sein.» Gegen das Wort ‹Geschäftsgrundlage› wollte unser alter Lehrer, wenn er das wirklich gesagt habe, aus heutiger Sicht Einspruch erheben, ansonsten freue er sich sehr über seinen späten Erfolg und unsere Treue. «Auch wenn’s ein altmodisches Wort ist.» So mäanderte der Nachmittag freundlich dahin. Es waren schöne (Wieder-)Begegnungen – trotz meiner vermutlich nie nachlassenden Technophobie im ‹digitalem Raum›.
April
In diesem Monat und in anderen auch: Gelangweilter Unmut angesichts des Furors, allumfassend Sprachgerechtigkeit walten zu lassen, umsichtige Wortwahl zu praktizieren und sich stetig in korrekten nicht-binären Bezeichnungen von diesem oder jener – ach Gott, doch wieder binär geworden – zu bewähren.
Einzige Freude in dieser sich immer weiter aufwühlenden Kampfzone, der ebenso plausible, wie wunderbar einfache (auch umwerfend lustige) spracherzieherische Forschungsansatz des Wiener Linguisten (auch Science-Slammers) Thomas Kronschläger: Entgendern nach Phettberg. Man könnte es kompliziert erklären, aber schlicht geht es so: Man konzentriert sich bei jedem Substantiv auf den Wortstamm, enthält sich jeder maskulinen oder femininen Zuschreibung per Artikel, benutzt nur noch das Neutrum «das» – worin m/w/d inkludiert ist – und fügt dem Stamm ein «y» hinzu. Auch der Plural geht ganz einfach: Man nehme den Pluralartikel «die», addiere Wortstamm plus «s»! Beispiele: «Gendern bis das Arzty kommt.» Oder: «ich habe erst beim dritten Fleischy ein heißes Bullety kaufen können.» Oder: «die Kindysgärtnys wollten es aber so…» Oder: «Liebe Zuschauys». Praktisch erprobt ist das übrigens seit langem von Hermes Phettberg – deswegen auch Entgendern nach Phettberg. Für ihn waren die Lesenden seiner Kolumnen im Wiener Falter seit jeher «Lesys». Und als ein solches Lesy sage ich: Ach Hermes, ick liebe dir!
Natürlich täte es auch ernsthafter gehen! Vielleicht so, wie es die beiden Linguistys Carolin Müller-Spitzer und Henning Lobin vom Leibniz-Institut für deutsche Sprache am 29.04. in der ZEIT vorschlugen: «Wir können viel gewinnen, wenn wir die vielen Fragen weiter erforschen und offen diskutieren. Wichtig ist auch, dass wir die sprachliche Freiheit einer jeden Person, sofern diese nicht den Regelungen einer Institution unterliegt, nicht antasten. (…) Das zu gewährleisten ist die Aufgabe von Forschung.»
Spät im April: meine erste (und bis heute genau so bleibende) Reaktion auf #allesdichtmachen. Geschrieben als (viel zu lange) whatsapp in die Familiengruppe, wo sich der Streit über die Veröffentlichung schon gründlich eingenistet hatte: «Ich kenne ja nur vier von diesen ironischen Filmchen. Dass die so ’ne Wellen schlagen können, ist für mich das eigentlich Interessante an diesem ‹Fall›! Woher und wozu dieser krankhafte Drang, die moralische Keule zu schwingen und am Ende sogar Berufsverbot für die beteiligten Schauspieler zu fordern! Was Satire (von mir aus auch schlechte) darf oder nicht, darüber sollten im Zweifelsfall Gerichte entscheiden und nicht digitale Pöbelei! Der Zweifelsfall liegt aber offensichtlich nicht vor. Was sich da gerade abspielt, ist am Ende ein Armutszeugnis für die Fähigkeit dieses/unseres Gemeinwesens, Dissonanzen auszuhalten und auszutragen. (Das hat die alte Bundesrepublik mal ausgezeichnet! Und zur Lebensqualität in diesem Land beigetragen!). Unter den wie gesagt nur vier Filmchen, die ich kenne – drei davon belanglos, der mit Zischler dagegen großartig – ist kein einziges, von dem ich glaube, dass sich irgendjemand für irgendwas entschuldigen müsste, geschweige denn sollte! Ich glaube, Ihr wisst, dass ich früher mal von meinem Vater Dresche bezogen habe, weil das angeblich anarchistische Pamphlet von Thoreau «Über die PFLICHT zum Ungehorsam gegen den Staat» aufgeschlagen in meinem Zimmer (in seinem Haus!) lag. Ich glaube immer noch, dass niemand von niemandem Dresche beziehen sollte, weil er der Thoreauschen PFLICHT nachkommt! Vielleicht wird aber inzwischen sogar dieser gute Amerikaner als Vorläufer der sogenannten Querdenker-Bewegung gehandelt.»
Mai
Zuerst: Die Tochter macht einen zum Großvater. Verrückt, wie der neue kleine Mensch einem einfach nur durch sein Da-Sein auch die schlechteste Laune vertreiben kann und ein seliges Honigkuchen-Grinsen ins Gesicht zaubert.
Später im Monat: ‹Nachsitzen› mit einer ganzen Reihe älterer Filme (per DVD oder Blu-ray). MAGNOLIA (1999) zum Beispiel, den ich, warum auch immer, bisher nie gesehen habe. ‹Nachsitzen› klingt ein bisschen rigide, zwanghaft, freudlos. But it’s pure drifting! Wie das Pensum gestrickt ist: nach Lust und Laune. Auf jeden Fall nicht zielstrebig, und nicht auf Verwertung hin gedacht. Eher so, dass es auf die lange Strecke ein sich selbst tragendes Gespinst ergibt. Wie’s zu MAGNOLIA kam? Eigentlich nur, weil wir im Gartencenter eine ziemlich teure, ziemlich schöne Pflanze erworben haben: eine gerade knospende Magnolie. Am gleichen Abend noch MAGNOLIA aus dem Regal gefischt. Anderntags, beim Frühstück ausgeschlafenes Bereden des Films. Beim gegenseitigen Erzählen kommen wir darauf, dass das Verfahren des Films fast einer Vision von Buñuel gleicht, die er in Mein letzter Seufzer darlegt: «Der Zufall ist der große Meister aller Dinge. Danach erst kommt die Notwendigkeit. Sie besitzt nicht die gleiche Reinheit. (…) Das ideale Drehbuch, über das ich immer wieder nachgesonnen habe, müsste von einem ganz unscheinbaren banalen Vorfall ausgehen. Zum Beispiel: Ein Bettler überquert die Straße. Er sieht, wie eine Hand aus dem geöffneten Fenster einer Luxuslimousine eine nur halb aufgeraucht Zigarre hinauswirft. Der Bettler bleibt stehen, um die Zigarre aufzuheben. Da fährt ein anderes Auto ihn an, und er ist tot.» Buñuel sinniert dann weiter, dass man diese einfache Verkettung von Zufällen in Richtung Vergangenheit bis zu den Urtierchen zurückverfolgen könne, dass es aber natürlich auch möglich sei, das Drehbuch in die andere Richtung fortzuspinnen. «Wie der Umstand, dass eine Zigarre aus einem Autofenster geworfen wird und diese den Tod eines Bettlers zur Folge hat, den Lauf der Geschichte total verändern und schließlich das Ende der Welt herbeiführen kann.» In MAGNOLIA drechselt Paul Thomas Anderson – das ist der große Unterschied zur feinen Spinnerei von Buñuel – auch eine Universalgeschichte des Zufalls – ausgehend vom missglückten Selbstmord des jungen Sidney Berengers, der vom achten Stock seines Elternhauses in den Tod springen wollte, beim Vorbeistürzen an der fünften Etage aber von seiner Mutter mit der Schrotflinte erlegt wird, die im Streit auf ihren Mann zielte, statt seiner aber den Sohn traf. Unten landete Sidney dann in dem Netz, das vor drei Tagen für eine Fensterputzkolonne gespannt worden war. Der unglückliche junge Mann hätte also überleben können, wäre nicht aus seinem missglückten Selbstmordversuch ein geglückter Totschlag geworden, an dem er selber als Opfer auch noch mitschuldig war, weil er sechs Tage zuvor in die ansonsten immer ungeladene Flinte des Vaters eine Schrotpatrone gesteckt hatte.
Juni
Viel zu spät: weitere Beete im Garten angelegt und zwischendurch müßig den ziehenden Wolken zugeschaut.
Juli
Wenn man den Kieferchirurgen, nach Erwachen aus der Narkose sagen hört, dass man sich in nächster Zeit mit dem Gedanken an Bananen-Carpaccio und passierte Suppen anfreunden sollte, stellt sich Gewissheit ein, dass das eine problematische Freundschaft werden wird! Einziger Trost: Es handelt sich um Leiden auf hohem Niveau. Es wird mit einer endgültigen Versorgung vergehen, nach vier, vielleicht auch erst nach sechs Monaten. Aber es wird definitiv anders sein als bei Sigmund Freud! Ein Kollege, der gerade Peter Gays Freud-Biografie gelesen hat, erzählt, wie’s darin ausführlich um das schlecht sitzende Provisorium geht, das den Mann die letzten 20 Jahre (!) seines Lebens traktiert hat. Dankbarkeit für die Fortschritte auf dem Gebiet von Health Care – in jeder Hinsicht! Also Seuchenbekämpfung ebenso wie Zahnbehandlungen!!
August
Charlie Watts gestorben. Die Schriftstellerin A.L. Kennedy nutzt ihr Obituary auf den Schlagzeuger dafür, zugleich auch mit dem Zerbröseln Großbritanniens seit den 1960er Jahren abzurechnen: «Am Ende landet man dann bei einem Premierminister, der die Staatsoberhäupter der Welt trifft und dabei so aussieht, als hätte sich ein durchgesessenes Sofa mit den Mülltonnen vor einer Notaufnahme gepaart. Ja, Charlie Watts war das Gegenteil von all dem. Er war ein Mann, der einen Anzug wirklich tragen konnte.»
In einem anderen Nachruf ist von Charlie Watts’ «Sprezzatura» die Rede. Ich glaube, das wird – vielleicht neben «Wimpernschlagfinale», «SolidAHRität» oder «geistigem Mittelstand» – eines der wenigen neuen Worte, die ich mir aus diesem Jahr behalten will. Bereits im Prozess des nebligen Verschwindens begriffen dagegen: Triell und Resilienzfazilität, woke und cringe, Wellenbrecher und Entfesselungspaket.
September
Vor der Bundestagswahl. Zwei Favoriten unter den Plakaten: (1) Von der Partei, die sich Die Partei nennt: «Lebe so, dass die AfD etwas dagegen hätte!» Und (2) Die perfide Demagogie eines vorgeblich lyrischen Sinn produzierenden AfD-Slogans: «Darf ich noch nach Kreta, Greta?»
Oktober
Mein schönstes James Bond-Erlebnis: zu früh zur Vorstellung im Kino International eingetroffen. Im Foyer zusammen mit vier britischen Expats am Tisch. Mit zwei Augen in der Zeitung, mit einem Ohr – eher unfreiwillig – mithörend. Einer erzählt, dass die Mutter von Mike Nesmith (The Monkees) die Erfinderin von Tipp-Ex ist und dass sie anscheinend vergessen hat, ihr Patent darauf zu erneuern. So hat mir der James Bond Kinobesuch unerwartet und unangestrengt das große Reservoir überflüssigen Wissens aufgefüllt. Feine Sache! Und der Film, nun ja: er war nach 163 Minuten (plus Werbung) zu Ende. James Bond war dann tot. Und um das zu bewerkstelligen ist sichtbar viel Geld ausgegeben worden. Außer dem toten Titelhelden am Ende, war also alles same same but not so very different!
November
Seit dem allerersten Teaser zu Beginn des Jahres voll Neugier auf HOUSE OF GUCCI gewartet. Sparen wir uns die Enttäuschung, die der Film als Ganzes war und weisen nur darauf hin, dass es darin eine fantastische italienische Cover-Version des Monkees-Hits I’m a Believer gibt: Sono bugiarda von Caterina Caselli.
Dezember
Dank an Erika Gregor für ihre Erzählung, dass es eine der prägenden Erinnerungen an ihre Mädchenzeit sei, wie sich ihre deutschen Nachbarn immer gegenseitig berichtet haben, wie furchtbar sie im Krieg gelitten hätten: «Mir ist dieses passiert und mir noch schlimmer jenes.» Und wie sie, Erika Gregor, sich dabei immer gedacht hat: «Wie können sie es wagen, zu jammern! Ich finde, es steht uns nicht zu, zu klagen oder uns zu beschweren. Wo bleibt das Gefühl für Verantwortung, für Anstand, für Dimensionen und Proportionen!» Ähnliches dachte ich selbst immer dann, wenn im Wartebereich eines Flughafens die Durchsage kam, dass es eine Verspätung geben würde. Die eigenen Landsleute waren immer daran zu erkennen, dass eine solche Verzögerung sie am ärgsten träfe. (siehe Romuald Karmakars MANILA). Dieses unappetitliche Gemaule, dieser peinliche Ehrgeiz, sich selber als Opfer zu stilisieren und immer verbissener in diese Rolle reinzusteigern, verdankt sich am Ende der gleichen hochtoxischen Energie, die auch die albernsten Querflöten-Aufmärsche des vergangenen Jahres befeuert hat.
Dallas, Staffel 1-10, 1978-1987
In den 1980er Jahren durfte ich die Serie Dallas, die immer am Dienstagabend um 21.45h in der ARD ausgestrahlt wurde, nur in den Ferien schauen. Die Serie war ein Straßenfeger (obwohl in den 1980ern dienstagabends kaum jemand auf der Straße war). In den Feuilletons tobten erhitzte Diskussionen über den erneuten Einfall der US-amerikanischen Populärkultur ins angeblich kulturell überlegene Europa. Man kann heute gut nachvollziehen, warum die Serie bei drei Fernsehprogrammen ein absolutes Highlight der Unterhaltung war. Anlässlich eines Seminars schaute ich mir im April 2021 die erste Staffel mit nur 5 Folgen wieder an und bin nun kurz vor Jahresende bei Staffel 10 angelangt (Dank auch an meine Partnerin, die tapfer mitzieht).
Meine Erinnerungen an die Serie waren hauptsächlich vom Konflikt zwischen J.R. und Cliff Barnes, seinem Gegenspieler, geprägt. Cliff hatte damals meine Zuneigung, weil er hilfloser und ehrlicher (auch naiver) wirkte und gerade mit diesen Eigenschaften immer wieder von J.R. ausgetrickst wurde. Die Rolle des aufrechten Losers gefiel mir. Beim Wiedersehen knapp 40 Jahre später stellt sich die Situation anders da. Tatsächlich ist Cliff ein emotional völlig verarmter Typ, der vor allem seine Frauen (die übrigens fast immer sowohl mit J.R. und Cliff schlafen) fallen ließ, nur um seiner einzigen Obsession zu folgen. Diese besteht darin, seinen Vater, Digger Barnes, der vermeintlich durch Jock Ewing, J.R.s Vater, um seinen Ölreichtum gebracht wurde, Gerechtigkeit zu verschaffen. Alles was Cliff tut, tut er für seinen Vater, so dass er auch als erwachsener Mann wie ein Achtjähriger denkt. J.R. hingegen interessiert das Familienerbe nur am Rande, auch wenn er es immer mal im Munde führt. Tatsächlich geht es ihm jedoch nur um sich selbst und darum, die Kontrolle über Ewing Oil zu bekommen.
Ich las mit den Studierenden den bekannten Text «Das Gefühl Dallas« (Watching Dallas) von Ien Ang, eine der frühen Studien zur Serienrezeption aus dem Umfeld der Cultural Studies, die auch heute noch mit Gewinn zu lesen ist. Ang schreibt, dass J.R. der eigentliche Rebell der Serie ist. Während nämlich alle anderen Protagonisten in der von ihr so genannten «tragischen Gefühlsstruktur» gefangen sind, die auch die Rezeption bestimmt, die besagt, dass man dem Schicksal nicht ausweichen kann und persönliche Entwicklungen grundsätzlich melodramatisch verlaufen, glaubt J.R. daran, dieses Schicksal selbst in die Hand nehmen zu können. Aber J.R. Ist auch eine Vorform der sich ab den frühen 1990er entwickelnden Komplexität des Bösen und der diese verkörpernden Antagonisten. Wie Samira El Ouassil und Friedemann Karig jüngst feststellten, wandeln sich die bösen Antagonisten seit den 1990er Jahren in «schillernde, tiefgründige Charaktere», die «von den Fans oft höher verehrt werden als die leichter berechenbaren Heldinnen.» (El Ouassil/Friedemann Karig, Erzählende Affen, 2020, S. 38) und damit auch zu Rebellen im Sinne Angs. J.R. ist einer dieser komplexen Antagonisten, der es mit der ganzen Gesellschaft aufnimmt und deshalb immer wieder – aber nie ganz – zu Fall gebracht wird. Dabei geht es zwar um die Vernichtung von Karrieren, aber nie um Mord. Die Vernichtung des Gegners hat angesichts sonstiger Erzählformate geradezu etwas Pazifistisches und Rührendes. Unliebsame Gegner werden von J.R.s «boys» aus Dallas rausexkortiert, aber nicht umgebracht. Und wenn sich ein Faustkampf ankündigt, versteckt sich J.R. unter dem Tisch oder steckt ein, ohne auszuteilen. Auch darin, in der Weigerung, Kämpfe «wie ein echter Mann» auszutragen, steckt etwas Rebellisches. Nun ziehen wir es übrigens durch, drei Staffeln stehen noch aus. Ob ich dann noch die Neuauflage von 2012 angehe, wird dann nächstes Jahr zu lesen sein.
Klimakatastrophe und Pandemie synchron: Ich lerne, gleichzeitig Angst vor und um die Natur zu haben. Ich sitze im Home Office, während mich die täglichen Coronadatenmeldungen in einen archaischen Tagesrhythmus pressen. Morgenmeldung, Impfdatenbericht, Nachmittagsmeldung. Balkengrafik, Säulengrafik, Hockeystick. Manchmal zeigen sich Fehler. Menschen schreiben Mails. Ich schreibe Mails. Die Fehler werden korrigiert. Die Kurven stimmen wieder. Gegen Jahresende fühle ich mich krank; es ist nichts. Wir suchen eine Wiese über der Donau auf, an deren Rand ich vor Jahren um die Weihnachtszeit einen Raubwürger beobachtet habe, einen sehr kleinen Raubvogel, der manchmal, aus Skandinavien kommend, bei uns überwintert. Wir warten, lauschen den Meisen und sind still. Bis eine kleine schwarzweißblaue Störung über der Wiese flattert. Es ist ein Raubwürger im Rüttelflug. Bald setzt er sich auf einen Ast und wartet mit uns.
Pandemiebedingt übersteigt 2021 die Bildschirmzeit die Leinwandzeit bei weitem. In den sozialen Netzwerken und bei der morgendlichen Zeitungslektüre häufen sich Hinweise auf neue Netflix- und amazon-Produktionen, die man ganz bestimmt nicht verpassen darf. Auf facebook führt eine Netflix-Serie über das Innenleben einer amerikanischen Universität im Freundeskreis zu einem kollektiven Erregungszustand von globalem Ausmaß. Ich beschließe die Serie aus Zeitgründen so zu schauen, wie ich als Kind in einem Haushalt ohne Fernsehen die Samstag-Abend-Shows zur Kenntnis genommen hatte: Indem ich mir eine Vorstellung zusammensetze aus dem, was die anderen Kinder im Pausenhof sich und mir davon erzählen. Das spart Zeit, und spannend ist die Serie auch so. Oder vielleicht so erst recht. Dieses Verfahren lässt überdies die Einsicht reifen, dass facebook der standortüberspannende Pausenhof der Universität ist.
Die knappe Bildschirmzeit verwende ich stattdessen unter anderem zum Nachsichten von Ashfal von Kim Byung-seo und Lee Hae-jun von 2019. Ein Film, der dem Konzept von «high concept» eine neue Dimension verleiht. In den ersten zehn Minuten legt ein Erdbeben Seoul in Schutt und Asche. Jihoon Kim hat anhand von Ode to My Father (2014) und The Admiral (2016) gezeigt, wie die südkoreanische Filmindustrie das Lohngefälle zu Hollywood ausnutzt, um in komplexen Postproduktionsverfahren mit einem Bruchteil der Budgets für Special Effects ein Niveau zu erreichen, das dem der amerikanischen Filme entspricht. Kim beschreibt dieses Kino als das eigentliche National-Kino Südkoreas des letzten Jahrzehnts: In der global konkurrenzfähigen Performanz visueller Technologien liegt ihre Kulturspezifik. Mit solchen Special Effects wiederholt sich im Bereich des Kinos die Wirtschaftsgeschichte Südkoreas seit dem Ende der japanischen Kolonialherrschaft 1945: Der Weg geht von einer Import- zu einer Import-Ersatzwirtschaft und schließlich zu einer Exportwirtschaft. Auf die Spektakelhöhe der Eröffnungssequenz von Ashfall muss sich Hollywood erst einmal wieder heben. Und der Kampf um das higheste High Concept ist mit Ashfall auch entschieden. Die Storyline: ein Vulkanausbruch in Nordkorea, von dem das Eröffnungserdbeben nur ein Vorgeschmack war, droht die ganze Halbinsel zu zerstören; ein Trupp von Undercover-Agenten aus Südkorea mit etwas Unterstützung eines ausgemusterten nordkoreanischen Elitesoldaten stoppt den Ausbruch mit einer von den Amerikanern geklauten Atombombe. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie diese Storyline – Nordkorea, Vulkan, Atombombe – getoppt werden könnte, außer durch eine Multiplikation der Vulkane und Atombomben. Zugleich ist der Film ein Beitrag zur kollektiven Imagination der Versöhnung und Wiedervereinigung mit Nordkorea. In den USA dienen Katastrophenfilme oft auch der Imagination einer postapokalyptischen Gesellschaft, in denen die Geburtsfehler der Vereinigten Staaten durch einen gänzlichen Neuanfang überwunden werden können. In Korea ist die Last der Trennung so groß, dass ihre Aufhebung ohne Killervulkan und Atombombe nicht mehr vorstellbar scheint.
Heinrich Besseler war der (allerdings dezidiert nicht jüdische) Zelig der deutschen Musikwissenschaft. Gleich zwei Mal machte er Uni-Karrieren, die er mit hohen kulturpolitischen Staatsämtern krönte, zuerst unter den Nazis und danach, nachdem ihn die Amerikaner seiner Heidelberger Professur entkleidet hatten, noch einmal in der DDR. Von ihm stammt der Begriff der «Umgangsmusik», den er dem der «Darbietungsmusik» entgegengestellt. Umgangsmusik solche, bei der es auf den aktiven Vollzug ankommt, Darbietungsmusik solche, die auf passives Hören und Kunstgenuss abzielt; Umgangsmusik ist eine offene Praxis, Darbietungsmusik eine, die auf Werkstrukturen, Interpretationen und deren kritische Würdigung abhebt. Es wäre zu überlegen, ob man nicht in Ergänzung zum Begriff des Gebrauchsfilms – des Auftragsfilms für bestimmte Zwecke, der einen Gegensatz zum Kunst-, Autor:innen- oder eben «Darbeitungs»-Film bildet – zusätzlich den des «Umgangsfilms» prägen sollte, unter anderem für die neuen Formen von digitalem Video, die auf youtube zu finden sind. Meine knappe Bildschirmzeit verwendete ich 2021 unter anderem auf Videos von Containerschiffen. Eine mehrminütige Führung eines Matrosen durch seine Kabine an Bord eines der großen E-Klasse-Containerschiffe von Maersk hatten vor mir schon drei Millionen andere «user» geschaut. Reizvoll kombinieren lassen sich solche Videos mit der Website marinetraffic, einem globalen Tracking-System für Schiffsverkehr, die von Dimitrios Lekkas, einem Informatik-Professor an der Universität der Ägais konstruiert wurde. Mit marinetraffic lassen sich die aktuellen Positionen praktisch aller großen Containerschiffe in Echtzeit verfolgen. Besonders interessante Muster ergaben sich dabei zu Beginn von 2021, als die Ever Given den Suezkanal blockierte. Große Anziehungskraft übten auch Drohnen-Videos von Großstädten aus, die nicht zu den naheliegenden Reisezielen gehören. Detaillierte Aufsichten von Infrastrukturen und Bausubstanz von südostnigerianischen Städten wie Onisha und Enugu sind auf youtube zu finden, oder Führungen aus Luft durch Abuja, die Hauptstadt Nigerias, eine Planstadt aus den 1990ern, von der bislang nur ein Sechstel gebaut wurde, bisweilen auch mit detaillierten Angaben über Liegenschaftspreise in Wohngebieten. Schon fast ein eigenes Genre bilden Drohnenfilme der zentralchinesischen Stadt Yanjin, die rund 400.000 Einwohner zählt und hauptsächlich aus Betonhochhäusern besteht, die sich einer engen, bewaldeten Schlucht entlang ziehen. Solche Videos sind verwandt mit den Luftaufnahmen der Liegenschaften von Stars im Großraum Los Angeles, die zur Fotostrecke jedes Starporträts in Zeitschriften wie Gala gehören. Es ist der Reiz des Blicks aus dem Flugzeugfenster auf dem letzten Stück des Landeanflugs über Stadtgebiet, der Reiz der Frage: Wer wohnt da, und wie? Rem Koolhaas erklärte zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Megalopolis des Globalen Südens zum Paradigma einer neuen Urbanität jenseits der Planbarkeitsphantasie der modernen Gartenstadt. Um sich selbst ein Bild von seiner These zu machen, ließ er sich in einem Hubschrauber über Lagos fliegen. Drohnen mit Digitalkameras demokratisieren diesen Blick und machen ihn zum Stoff des Umgangsfilms.
Die wichtigste Leinwandzeit 2021 war die erste Ausgabe von #Archival Assembly, und dort die Aufführung von Kulba na Barna (Blaiming the Innocent) von Brendan Shehu aus dem Jahr 1992. Es war wohl die erst Projektion einer 35mm-Kopie aus dem National Film Video and Sound Archive in Jos, Nigeria, in einem europäischen Kino. Der Film basiert auf einem erfolgreichen Roman von Umaru Danjuma aus dem Jahr 1983. Er erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich zur Zeit des Ölbooms der 1980er im islamischen Norden Nigerias von einem reichen älteren Mann vom Weg zur höheren Bildung abbringen lässt. Signifikant ist der Film aufgrund des Produktionsjahrs: 1992 erscheint auch Kenneth Nnebues Videofilm Living in Bondage, der gemeinhin als erster Nollywood-Film gilt. Kula na Barna ist einer der letzten 35mm-Spielfilme, die in Nigeria in den 1990ern noch gedreht wurden. Bemerkenswert ist er nicht zuletzt aufgrund der Kameraarbeit und der nuancierten Farbpalette, die auch in einer durchgängig zerkratzten Kopie noch erkennbar war. Vom visuellen Stil dieses Films führt eine direkte Linie zu der Arbeit von Yinka Edward, dem Kameramann von größeren Produktionen des neueren Nollywood wie October 1st von Kunle Afolayan oder Lionheart von Genevieve Nnaji: Jonathan Amu, der Kameramann von Kulba na Barna, lehrte in den 1990er an der damals neu gegründeten Filmschule in Jos, und Edward zählte zu seinen Studenten. Die stilistischen und personellen Kontinuitäten innerhalb des nigerianischen Kinos sind mit anderen Worten größer, als es die aktuelle Wahrnehmung von «Nollywood» annimmt, und bei der Wiederaufführung von Filmen wie Kulba na Barna wird das sichtbar.
Leinwandzeit gab es überdies vom 14.-18. Dezember bei Visible Evidence in Frankfurt. Eine der Entdeckungen: Die Zoom-Perfomance «Reading Virus» des chinesischen Videokollektivs The Folk Memory Project. Gegründet 2010 von Wu Wenguang, einem Pionier des unabhängigen Dokumentarfilms in China, besteht das Projekt aus einem Netzwerk von Künstler:innen, Aktivitst:innen, aber auch Pensionär:innen und Arbeiter:innen, die mit Videokameras die Transformation ihrer Dörfer und Städte dokumentieren und zugleich sukzessive eine Oral History der Erinnerungen an Maos Großen Sprung nach vorn und die nachfolgende Hungersnot bilden. Die 90-minütige Performance im Format eines Zoom-Webinars mit eingespielten Filmen dokumentierte den jeweiligen Stand der Arbeiten der aktuell 16 Mitglieder des Netzwerks: In jeder Hinsicht ein wegweisendes Projekt für das, was in Zukunft unter Dokumentarfilm zu verstehen sein wird. Und zugleich eine Zusammenführung Bildschirm- und eine Leinwand-Zeit: Man konnte der Performance auch im großen Theatersaal des Künstlerhauses Mousonturm in Frankfurt folgen.
Lektüre 1: Sylvie Lindepergs Nuremberg. La Bataille des Images, eine Mikrohistorie des wichtigsten politischen Prozesses des 20. Jahrhunderts aus film-, rechts- und politikgeschichtlicher Sicht (vgl. dazu meine Rezension in cargo 50).
Lektüre 2: Hwang Sok-Yong, The Prisoner. Müsste man den koreanischen Schriftsteller Hwang Sok-yong (*1943) mit Vergleichen aus der französischen Literaturgeschichte vorstellen, dann ließe er sich vielleicht als Mischung aus Alexandre Dumas und Alain Robbe-Grillet einführen, in Kombination mit dem Engagement von Sartre. Hwang Sok-Yong ist zugleich der Autor des zehnbändigen, populären Abenteuerromans Jang Gil-San (1975-1984), der die Geschichte eines Outlaws im koreanischen Mittelalter erzählt, der für eine gerechtere Gesellschaftsform kämpft und sich natürlich auch als Kritik an den Militärdikaturen von Park Chun-hee (1962-1979) und Chun Doo-hwan (1979-1987) verstehen lässt. Zugleich ist Hwang Sok-Yong Autor von Romanen zur neueren Geschichte Koreas, die mit gebrochenen Erzählgängen und multiplen Erzählperspektivene arbeiten, was sie aber nicht daran hindert, mitunter zu Bestsellern zu avancieren. Mit The Prisoner, einer sechshundertseitigen literarischen Autobiografie, die zugleich eine Geschichte Koreas seit der Dekolonisierung ist, macht sich Hwang Sok-Yong nun auch noch zum Chateaubriand Südkoreas. Der Gefangene des Titels ist er selbst: Wegen eines nicht autorisierten Besuchs in Nordkorea wird er 1992 unter einem drakonischen Sicherheitsgesetz zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt und erst 1997 nach der Wahl des langjährigen Oppositionsführers Kim Dae-Jung im Zeichen von dessen Öffnung zu Nordkorea begnadigt. Ausgehend von der Hafterfahrung erzählt Hwang Sok-Yong seine Lebensgeschichte, inklusive seiner Zeit als koreanischer Marine in Vietnam und seiner Rolle beim Aufstand von Gwangju 1980, einem Schlüsselereignis im langen Demokatisierungsprozess Südkoreas. Aufsehenerregend unter anderem seine Berichte über seine ausführliche Gespräche mit dem nordkoreanischen Partisanenführer/Staatschef Kim Il-sung (Kim, ein Fan von Jang Gil-San, hatte sich alle zehn Bände als Hörbuch einspielen lassen) und die fast beiläufige Mitteilung, dass das Massaker von My Lai gemessen an seiner Erfahrung ein Routinevorfall war.
Lektüre 3: Viele der großen Romane des 19. Jahrhunderts erschienen zunächst als Fortsetzungsromane in Zeitungen, und die Uferlosigkeit mancher Balzac- und Dostojewski-Romane entspringt weniger überbordender epischer Kraft als einem Honorarsystem, das Umfang honorierte und zur Zeilenschinderei einlud. Adelheid Duvanel (1936-1996) hat viele ihrer Erzählungen ebenso wie die männlichen Titanen des thermodynamischen Zeitalters zuerst in Zeitungen publiziert, aber ihr waren die Formvorgaben des Printmediums Anlass und Gelegenheit zu Verdichtung und Verknappung. Duvanels Erzählungen sind kurze, in sich geschlossene Einheiten, die mitunter als fast glossenhafte Aperçus daherkommen und ihre Wucht in der Nachwirkung entfalten. Abgründe einer scheinbar ereignislosen Welt eröffnen sich in Figuren wie der alleinerziehenden Mutter, die ihr Kind quält, weil ihr neuer Freund ihr eine Heirat nur ohne das Kind verspricht. Erzählt wird das aus der Sicht des Kindes, und das ganze Grauen seiner Lage erfassen wir (aber das Kind nicht) erst auf den letzten Zeilen. Man fühlt sich etwa an Raymond Carver erinnert, oder an Duvanels Schweizer Landsmann Felix Vallotton und seine Holzschnitte von Pariser Interieurs, aber Duvanels Prosastücke sind zugleich farbiger, dunkler und härter als die Arbeiten dieser Vergleichsgrößen. Der Limmat Verlag hat zum 25. Todestag von Duvanel einen fast 800 Seiten starken Band mit ihren Erzählungen herausgebracht (Fern von hier. Sämtlich Erzählungen, Zürich 2021) und nennt Duvanel eine «Meisterin der kleinen Form». Allerdings.
Meme des Jahres: Das Bild von Bernie Sanders, der mit Strickfäustlingen, Windjacke und Medizinalmaske auf der Treppe des Capitols sitzend auf Joe Bidens Amtseinfühung wartet, war der Anlass für das erste globale Meme des Jahres 2021. Selbst den Platz von ET in Eliotts Fahrradkorb nahm Bernie dank Photoshop ein. Ein Blogger aus Ägypten fand schließlich den wirklich passenden Zusammenhang für Bernie: den Platz im freien Sitz im Seitenwagen in der Gesangsnummer Ye dosti aus Sholay. Ramesh Sippys Hindi-Adaption von Sergio Leones Once Upon a Time in the West von 1975 ist nach Eintrittszahlen und (inflationsbereinigtem) Einspielergebnis nach wie vor der erfolgreichste indische Film aller Zeiten. Kaum ein sinnfälligeres Umfeld lässt sich für den demokratischen Sozialisten und Kämpfer für ökomonische Gerechtigkeit denken als die Geschichte von den beiden sympathischen Großstadt-Tagedieben Veru (Dharmendra) und Jai (Amitabh Bhachchan), die aufs Land geraten und dem sadistischen Banditen Gabbar Singh (Amjad Khan) das Handwerk legen (wobei nicht zu vergessen ist, dass das Parteienspektrum in den USA so rechtslastig ist, dass Bernie Sanders lange Zeit nur in einer Sachfrage links von Angela Merkel stand: in der Frage der Ehe für alle. Damit war es 2017 auch vorbei).
Eines meiner Hauptthemen war 2021 leider die Sorge über das Abdriften von lieben Menschen in den Verschwörungsunfug. Da paßte es wie die Faust aufs Auge, daß The Matrix Resurrections noch eine geeignete Folie für so geneigte hinterherschob, eine unangenehme popkulturelle Coda zum Jahr. «Red-Pilling» war natürlich auch schon zuvor als Metapher für die diskursive Vergiftung durch Q & Co. im Schwang. Die adoleszente Erkenntniskrise nach dem Kinobesuch von 1999 entgrenzte sich bei manchen eben zum paranoiden Weltbild mit narzisstischer Fluchtung. Es gab in Teil 4 auch direktere Bezüge, angefangen mit den teils Maske-tragenden japanischen Berufspendlern, aus denen sich ein mörderischer Bot-Schwarm rekrutiert. Oder die selbstverständliche Bezeichnung der Bevölkerung durch den Analysten als dumme, von Eliten wie ihm leicht manipulierbare «sheeple». Am schlimmsten eigentlich die Figur des «Merowingers», der Neo aus verfaultem Gebiss eine wirre Hasstirade entgegenschleudert – die perfide, widersprüchliche Parodie eines bildungsbürgerlichen Klugscheißers im Tourette-Mode, wie er Verschwörungsdurchschauern offenbar nicht lieb ist: «We had grace. We had style. We had conversation. Not this ... Art, films, books were all better. Originality mattered! You gave us Face-Zucker-suck and Cock-me-climatey-Wiki-piss-and-shit!»
Hängengeblieben aus dem Jahr ist mir The White Lotus. Die Miniserie war aber mehr Anstrengung als Freude, so unerbittlich geschliffen bösartig.
Gesehen habe ich zuletzt mit meiner großen Tochter den britischen Weihnachtsklassiker The Snowman (1982). Wir waren uns nicht ganz einig, ob es sich bei der nächtlichen Reise um eine Fantasie postkolonialer Selbstfindung handelt. Aber wir mochten sie, und die Schminkszene, und die Musik. Und alles, eigentlich.
Eine persönliche Entdeckung: die britische Ökonomin Joan Robinson (1903–1983), keynesianische Kritikerin des Spät-Keynesianismus der 1960er und 1970er Jahre. In Economic Heresies schrieb Robinson 1971, zu einem Zeitpunkt an dem sie eigentlich schon alles gesagt und geschrieben hatte, knapp und zutreffend: «Modern capitalism has no purpose except to keep the show going […] National economic success is identified with statistical GNP. No questions are asked about the content of production. [Modern capitalism] has not succeeded in helping (to say the least) to promote development in the Third World. Now we are told it is in the course of making the planet inhabitable even in peacetime.» Robinson war nicht die einzige wichtige Ökonomietheoretikerin der Nachkriegsjahrzehnte. Sie selbst berief sich etwa immer wieder auf Ester Boserup (1910–1999), die dänische Kollegin, und deren bahnbrechende Arbeiten zu Agrarökonomie, Technologie, Feminismus und Bevölkerungsentwicklung. Nicht zu vergessen: die etwas jüngere Hazel Henderson (1933– ), eine frühe Kritikerin der Wirtschaftswissenschaften und als Transformationstheoretikerin eine Art Maja Göpel der 1970er und 1980er Jahre, die von der Counter Culture inspiriert, nicht nur das Ende eines wachstumsorientierten Industrialismus fordernd prognostizierte, sondern mit verhaltenem Optimismus von «Gegenökonomie» und «Gegenmedien» sprach.
In der Grenzregion zwischen Kroatien, Slowenien und Italien herrschen Zustände, die – schon lange – denen an der polnisch-belarussischen Grenze ähneln. Die in dieser Gegend Wartenden, Hausenden, Gerade-So-Überlebenden, Gejagten nennen sie den «Wald der Finsternis» und ihre Daseinsform «The Game». Einer der Geflüchteten sagt: «Wenn die Wälder sprechen könnten, wären sie längst ausgetrocknet vor Traurigkeit.» Newsreel 65 nennt sich ein aktivistisches Kollektiv von Künstler*innen, Theoretiker*innen, Filmemacher*innen aus Llubjiana, Wien und anderen Orten, die über die Situation und gemeinsam mit den Akteuren in Videofragmenten und kurzen Essays berichten, bewusst angelehnt an die Tradition der ciné-tracts und das Cahiers-Credo der frühen 1970er, nach dem der Raum off camera mindestens so relevant wie der on cameras ein müsse, solle mit Recht von politischem Film gesprochen werden können.
A propos Kollektive: Für die Kunstwelt und anrainende Gebiete war 2021 das Jahr, in dem endgültig manifest wurde, was sich seit Jahrzehnten, mal mehr, mal weniger latent entwickelt hatte (und immer eine alternative Option modernistischer Kreativitätsorganisation gewesen ist, vor allem, wenn es etwas revolutionärer, dissidenter, klandestiner zuging): die Ablösung individualistischer Modelle von Autor*innenschaft zugunsten immer neuer Formen von gemeinschaftlich-kooperativer Produktion und Kuration. Nach den Veröffentlichungen der Shortlist des Turner Price (ausschließlich Kollektive) und der sukzessive erweiterten Liste der Teilnehmer*innen der Documenta 15 durch das «artistic team» rund um die indonesische ruangrupa (übersetzt etwa: «Kunst-Raum») (überwiegend Kollektive) bemühten sich die Kulturmedien nach Kräften, das Ganze zum «Trend» kleinzureden, zu einer weiteren woken Kunstmarktmode, an die sich nun alle anbiedern würden, bevor es wieder (Subtext: hoffentlich bald) vorbei sei. Der hier zu erkennende Mangel an Enthusiasmus mag als professionell im Sinne einer gewissen journalistischen Ethik der Distanz durchgehen, erinnert aber auch an die nervende spätneoliberale Ausnüchterungsrhetorik der in den Feuilletons so überaus hofierten Soziologie von Reckwitz, Nassehi und Co. Dabei verheißen die Namen, Programme, Wirkungsorte und Notwendigkeiten der neuen und teilweise auch schon sehr lange aktiven Gruppen, Teams, Arbeitszusammenhänge, Schulen, Projekte, Netzwerke, Ökosysteme usw., die sich ins Gespräch bringen oder oft auch einfach machen, regardless, so viel mehr: Gentle/Radical, Array Collective, Instituto de Artivismo Hannah Arendt, Britto Arts Trust, FAFSWAG, Project Art Works, Wajukuu Art Project, Ghetto Biennale, jatiwangi art factory, Baan Noorg Collaborative Arts & Culture, Komîna Fîlm a Rojava, Arts Collaboratory, La intermundial holobiente oder Strike MoMA Working Group of International Imagination of Anti-national, Anti-imperialist Feelings (IIAAF). Mehr davon, bitte, auch im Interesse einer Dezentrierung der «Singularitäten» und der Überwindung der Blasen-Form.
Lauren Berlant und Jean-Luc Nancy, beide 2021 verstorben, waren Theoretiker*innen von «Singularitäten», die wenig mit dem neueren soziologischen Schlagwort gleichen Namens zu tun haben (das wegen pandemisch bedingter Vereinzelungen und Solidaritätsanforderungen ohnehin rasch an Plausibilität einbüßt). Weder Nancys ontologische, auch heideggernde Ultrasensibilität für das Singuläre, noch Berlants ständige Forderung nach «better genres» (d.h. «besser» als irgendwelche normativen Erzählformen oder Exemplarismen) für die von ihr so umsorgten, irreduzibel-vulnerablen «tender singularities» kommen jedenfalls auch nur in die Nähe des besagten Paradigmas. Dafür stellen sie für die aktuelle Lage umso vielfältiger einsetzbare Instrumente bereit.
Nachdenklich gestimmt haben mich auch die Nachrichten über die Tode von: Guy Brett, Jimmie Durham, Jon Hassell, bell hooks, Richard H. Kirk, Yaphet Kotto, Biz Markie, Lee «Scratch» Perry, Sophie, Greg Tate, Mikis Theodorakis, Charlie Watts, Lawrence Weiner, Michael K. Williams, Mary Wilson
Ausstellungen, die mich 2021 (bei arg eingeschränktem geografischen Radius) beeindruckt haben: TOYEN (Hamburger Kunsthalle), Cohabitation – Ein Manifest für Solidarität von Tieren und Menschen im Stadtraum (silent green Kulturquartier, Berlin), Der geteilte Picasso (Museum Ludwig, Köln), Illiberal Arts (HKW, Berlin), Paola Yacoub, Bey002 (DAAD Galerie, Berlin), Crip Time (MMK, Frankfurt), Kara Walker: A Black Hole is Everything a Star Longs to Be (Schirn, Frankfurt)
Kein Jahr, dass ich als besonders abgeschlossen empfinde. Weder zu Beginn noch am Ende. Könnte sein, dass das, was mir dieses Jahr widerfuhr, bereits letztes Jahr geschah. So ein Rückblick hilft da ja eigentlich, aber die Einzelteile wollen sich nicht zusammenfügen.
Texte, die hoffentlich in mir bleiben
Wassergrün (Marisa Madieri), Die Form einer Stadt (Julien Gracq), Die Träumereien des einsamen Spaziergängers (Jean-Jacques Rousseau), Entretiens avec Francis Ponge (Philippe Sollers), Le Soleil / Die Sonne (Francis Ponge), Drei Gespräche. (Wladimir Sergejewitsch Solowjow), Southern Thought and Other Essays on the Mediterranean (Franco Cassano), Perreira erklärt (Antonio Tabucchi), Der Mond und die Feuer (Cesare Pavese), Atlas eines ängstlichen Mannes (Christoph Ransmayr), Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke (Meister Eckhart), The Man Who Loved Islands (D.H. Lawrence), A Start in Life (Anita Brookner), Tagebuch der Trauer (Roland Barthes), The Wild Iris (Louise Glück), Tess of the d’Urbervilles (Thomas Hardy), Proleterka (Fleur Jaeggy), The Tillotson Banquet (Aldous Huxley), On Being Blue (William H. Gass), Italienische Märchen (Italo Calvino), A Journey to the Western Islands of Scotland & A Journal of a Tour to the Hebrides (Samuel Johnson, James Boswell), Berliner Tagebuch & Tagebuch aus dem Zweiten Weltkrieg (Felix Hartlaub), Football in Sun and Shadow (Eduardo Galeano)
Mit der Trafic 120 wurde dieses Jahr das Ende einer der wichtigsten Filmzeitschriften aller Zeiten besiegelt. Ich hoffe sehr, dass diese Texte weiter gelesen werden.
Filme, die hoffentlich in mir bleiben
Trois ponts sur la rivière (Jean-Claude Biette), As a Wife, As a Woman (Mikio Naruse), Portrait de Barbara (François Reichenbach), Domenica sera (Franco Piavoli), City Streets (Ruben Mamoulian), Nära jorden, nära skogen (Nina Hedenius), La madre (deuxième version) (Jean-Marie Straub), Uski Roti (Mani Kaul), A New Leaf (Elaine May)
Von den «neuen» Filmen haben mir Il buco (Michelangelo Frammartino) & Herr Bachmann und seine Klasse (Maria Späth) gut gefallen. Ich fand auch Friedl vom Gröllers Das Rad bemerkenswert (ihr Gesamtwerk verdient sehr viel mehr Aufmerksamkeit).
Ansonsten wars nicht viel gewesen. Sie haben jetzt Glasfaserleitungen in meinem Dorf installiert. Dafür wurden kilometerweit von Kaff zu Kaff der Boden aufgerissen und Bäume gefällt. Bezaubernd sieht er aus, der dazugehörige Empfangsturm. Leider reicht die Leitung nicht über die kleine Brücke hinter der ich lebe. Also warte ich bis die Leitungen aus der anderen Richtung ankommen.
– Ärger des Jahres: Auto auf Fähre vergessen
– politischer Mann des Jahres: LOL (lebe in Österreich)
– weitsichtigste Serie: die schönsten Straßen Südamerikas
– am meisten gehört: Wasserhahn in meiner Küche (keine Spülmaschine vorhanden)
– Taube des Jahres: Sophie, die auf dem Nussbaum schläft
– Kino des Jahres: offen
«It’s a clear morning … very still right now.»
Tägliche Wetterberichte. Vielleicht die einzigen wiederkehrenden Nachrichten, die dieses Jahr Prognosen, Weissagungen und Meditationstipps bereit hielten. Ich verfolgte mehr oder weniger regelmäßig David Lynch‘s weather reports auf seinem Youtube Kanal. Im Gegensatz zu seinen Filmen sind seine Aussagen relativ eindeutig gewesen. «It’s a Friday once again. Can you believe it?». Once again trifft auch auf vieles in diesem Jahr zu. Can you believe it? – allerdings auch.
Umzug. Kisten packen. Kisten heruntertragen. Kisten wieder hochtragen. Kisten wieder auspacken … Man kennt das. Once again auch die gesehenen Filme und Serien. Wieder mal The crown gesehen. Wieder daraufhin nach Tweed-Jacketts gegoogelt. Wieder drei gekauft, zwei verkauft und die Barbour-Jacke mit Wachs neu versiegelt.
«It’s forty-five degree Fahrenheit, about seven celcius.»
So gibt es zwar auch am Wetter viel zu deuteln, doch sind Lynchs Aufzeichnungen aus seinem Keller(loch), im Gegensatz zu seinen Filmen, schon erschreckend eindeutig gewesen. «Today we have beautiful blue skies and golden sunshine all along the way.» Zumindest in L.A., möchte man hinzufügen. Der Himmel a là Skyfall ist zwar nicht über einem eingebrochen. Es war no time to die. Mit diesem Männer-Epos-Abschluss des Daniel Craig-Bond war ich nicht zufrieden. Es langweilte mich.
«Today I was thinking about ….»
Es stellte sich eine gewisse Wetterfühligkeit ein. American Horror Stories war ganz nett. Squid Game? Habe ich nicht gesehen. Only Murders in the Building nicht der Rede wert. Halston machte große Lust auf Studio 54 Nächte, die es nicht (mehr) gibt. Gab es sie eigentlich? Glamour und Glitter allenfalls zwischendurch. Zufällig.
«Everybody, have a great day.»
Seinem nasalem, sicherlich gut gemeinten, Singsangwunsch wollte man nicht immer unbedingt glauben. Seinem «Good Morning, everyone. It’s … What fucking day is it now?», wiederum absolut.
What year is it again?
Das Gute zuerst: Es hat «Klick» gemacht – und weg war er. Und wieder «Klick», denn so ruft’s aus dem Sillicon Valley. Das Prinzip «I couldn’t care less» verliert deutlich an Reiz. Zumindest manchmal. So schlampig konnte nicht einmal Sebastian Kurz über alle hinwegregieren. Das war einer der Gedanken, als der Niedergang des türkisen Teils der ÖVP nicht mehr aufzuhalten war. Angesichts der Unverfrorenheit der Partie erschien der Rücktritt im Vaterglück dann fast zu lautlos. Und die Zustimmung zu groß. An dem Tag waren wir da drüben auf Merkels souveränen Abgang wirklich neidisch.
Ein paar Tage, Wochen später auf den Straßen – Pandemiezeit ist da nicht so genau: Ich komme an einer Anti-Corona-Maßnahmen-Demo vorbei, und eine Gruppe mit weißen, Präservativ-ähnlichen Hauben auf dem Kopf, die Fahne um den Schoß gewickelt, geht grölend am Hotel Ferdinand vorbei. Dort steht auf einem Werbeplakat: «Du glückliches Österreich».
Wieder ein paar Tage später dann ein Betrunkener in der U-Bahn, der immer nur einen Satz wiederholt: «Wir sind das Volk.» Das lässt an die Kinder der Toten von Jelinek denken, oder an Thomas Heise: Ein Zombie von jener Sorte, die die Pandemie vervielfacht hat. Identitätssplitterwerk.
Maggie Nelsons Buch On Freedom lese ich dann am Ende des Jahres mit viel Gewinn, weil einige der Verschiebungen im Begriffsspektrum und die damit einhergehenden Verhärtungen der Meinungsfront hier behutsam aufgeschlüsselt werden.
Ein Film, der mich überraschenderweise besonders berührt hat: Gaspar Noés Vortex, den ich im Gartenbaukino ohne Begleitung erlebt habe und bei dem ich bei aller Morbidität vor Vergnügen oft lachen musste. Nihilistische Aufrichtigkeit tut gut: Nichts bleibt. Face it. Noé hat ein schonungsloses Repuiem auf ein Sammelreich der Dinge inszeniert, das gleich nach den Menschen verschwindet. Ein Echo dazu gibt es in Joachim Triers The Worst Person in the World, in dem Anders Danielsen Lies Figur noch ein wenig Zeit bleibt, vor seinem Tod über die Ablöse seiner Welt zu wehklagen.
Das Kino sieht die Zeichen eines Wandels in vielen Bereichen. Selbst Leos Carax’ herrlich überkandidelter Annette kündigt eine Form von Glamour, in dem wir so gerne unsere Wünsche parken, endgültig auf. Ich denke, immer wieder, konfrontiert mit der öden Beharrlichkeit von Leuten, wie viel lohnender es ist, mit der Veränderung zu Schritt zu halten.
Musik von Charles Mingus, Julius Eastman, Fitz Gore und Angel Bat Dawid u.v.a. Patti Smith live in Paris – ein Konzert, das das Fehlen vieler anderer ziemlich lässig wettgemacht hat.
In einer Januarnacht sah ich bis morgens früh um 8 (auf CNN und CBS) die Senatoren im angegriffenen Capitol, und lauschte ihren Reden. Das war gleichermaßen wilder Westen und altes Rom. America the beautiful.
Am Anfang der Karwoche starb Hans Schifferle und es schneite im April. Sein Tod stand seit dem Sommer 2019 ständig kurz bevor, deshalb konnte ich irrtümlich glauben, darauf gefasst zu sein. Die Antwort auf die Frage, was bleibt, ist: Verlust. In jedem seiner Texte traten Gefühl und Neigung schamlos, weise, unschuldig zutage. Er war ein durch-und-durch sympathisches Idol.
Ich bin wütend auf den Tod. Einem Kind müsste es irgendwann mal (in einem Film wenigstens) gelingen, den Tod umzubringen.
Beim Impftermin ein Hochgefühl – zwischen Vertrauen und Staunen. Ein Hauch von Cape Canaveral umwehte die gigantischen Messehallen und angesichts des plötzlich so monumentalen Umsorgtseins sagte die innere Stimme: Frage nicht, was der Staat für dich tun kann; frage, wo die Apollo-Rakete steht, in die du bereitwillig einsteigen möchtest.
Reisen, Eskapaden, Expeditionen waren das, was ich im vergangenen Jahr am liebsten sah im Kino. Und es gab nie gesehenes zu sehen.
Ein gefangener Kondor in einer Stierkampfarena in Peru: L’impero del Sole (1955 Enrico Gras, Mario Craveri).
Stürze aus den Wolken herab auf den beherrschten Raum und die Malerei, auf Kanäle und Tulpen. Zivilisation im Farbenrausch! In 70mm! Sky over Holland (1967 John Fernhout).
In einer Höhle, hoch wie eine Kathedrale, wird ein nackter Gefangener geduldig auf Flugfähigkeit getestet, in: Ultimo mondo cannibale (1977 Ruggero Deodato).
Dschungelbewohner sehen auf eigenen Wunsch die Heimat ihrer europäischen Besucher, und erkennen amüsiert in den projizierten Duisburgbildern ihre Drogenträume wieder: Naua Huni (1986 Barbara Keifenheim).
All das in Kinos in Duisburg, Bologna und Karlsruhe. Die Schaulust war es, die sich da – vollkommen rechtens – selber heilig sprach.
Musik
Jimmie Dorsey: My Sister and I (1940)
Dion: Now (1965)
Fred Rogers & Johnny Costa: Neighborhood (1968)
Paul Simon: Citizen of the Planet (on Letterman, 1982)
Bill Fox: Mary of the Wild Moor (1998)
John Prine & Iris Dement: In Spite of Ourselves (1999)
Harrison Lemke: Forever Only Idaho (2021)
Caroline Bennett & Zach Phillips: Lectrc Sled (2021)
Das weiße Pferd: Oktoberfest (2021)
Michael Nesmith & Mickey Dolenz (The Monkees): Listen to the Band – live (2021)
Wo hängt der Himmel?
In Ferienorten wird das Kino wie in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu einem Ort, an dem sich Laufkundschaft zusammenfindet. Eine Auswahl an Filmen findet sich nur sehr eingeschränkt, falls es überhaupt ein Kino gibt. Umso größer die freudige Überraschung in diesem Sommer, dass das aufgegebene Kino im Ort wieder eröffnet wurde. Das traditionsreiche Cinema Rex im Graubündner Pontresina hat, anders als seine Konkurrenz im mondäneren St.Moritz, überlebt, eine Nische des Schweizer Autorenfilms. Sein Gründer und Besitzer, der Filmemacher Christian Schocher betrieb das Kino über Jahrzehnte, bis er 2013 den Betrieb abgab. Nun wird es unter neuer Leitung weitergeführt. Neben den üblichen Programmen des global vertriebenen populären Films, gab es auch Programme für Cinephile. Während das übliche Verleihprogramm den lokalen Charakter des Kinos durchstrich, sozusagen in die Welt umspannende Monokultur überführte, in der sich Gäste aus aller Herren Länder heimisch fühlen konnten, gab es immer wieder auch Schweizer Filme, die sonst außerhalb der Schweiz nur auf Festivals zu sehen waren, und natürlich Filme des Weltkinos.
Die Überraschung dieses Sommers nicht nur die Entdeckung, dass es das Rex wieder gab, es zeigte auch einen Film, der ganz auf Rätoromanisch gedreht ist, einem italienischen Dialekt, der in einigen Alpentälern Graubündens gesprochen wurde und seit einigen Jahren bereits eine modische Renaissance erfährt. Ein Dokumentarfilm mit dem vielversprechendem Titel: Suot tschêl blau. In der lingua franca des Tourismus Under Blue Skies. Ein Song des Gitarristen/Sängers/Komponisten Pascal Gamboni, der rätoromanisch textet, und die Musik des gleichnamigen Films gemacht hat. Der Dokumentarfilm von Ivo Zen besteht aus Interviews mit ehemaligen Heroinsüchtigen aus Samedan, einem Ort zwischen Chur und St. Moritz, Eisenbahnknotenpunkt des Engadins und nicht unbedingt der touristische Vorzeigeort wie Nietzsches und Adornos Sils-Maria, oder Lenins und Marcuses Pontresina oder wie das St. Moritz der Upper Class. In den 80er-Jahren versuchten die Jugendlichen Samedans den Aufstand nachzuholen, der in Zürich zehn Jahre vorher gebrannt hat und den die Kinder aus Samedan nun nur noch als Drogensucht erleben. Viele sterben, die konservativen Herkunftsmilieus sind sprach-, fassungs- und erinnerungslos, Eltern, Geschwister, Lehrer, Freunde finden keine Form mit dem Tod und Elend dieser Jugendlichen zu leben. Ivo Zen öffnet behutsam, in poetisch minimalistischen Einstellungen und mit der melancholischen Musik Gambonis die Schattenwelt dieser Vergangenheit. Die überlebenden Freunde der Kinder vom Bahnhof Samedan erzählen von den verbotenen nächtlichen Autofahrten über geschlossene Alpenpässe, um in Zürich den Stoff zu besorgen, von dem Café, in dem sie sich trafen und von dem Wunsch, aus dem tiefen Tal heraus einen heterotopischen Ort im Rausch zu finden. Nur weil er im Sommer den Eltern bei der Bewirtschaftung einer Almhütte helfen mußte, sei er dem Sterben an der Droge entkommen, sagt einer. Die Dialektik des Tals ist die rettende Überwindung der Tiefe durch das Klettern in die Höhe. Was der Schweizer kognitive Entwicklungspsychologe Jean Piaget beschrieben hatte, die Lähmung durch die Perspektivenbeschränkung des Lebens in engen Bergtälern, wird in diesen Erzählungen plastisch – die Flucht nach oben über die Pässe, in die heterotopischen Plätze des Rausches, der Rockmusik als Ausweg. Es ist selten, dass ein Film Drogensüchtige portraitiert in ihren Träumen und Phantasmen, ohne sie entweder zu verkitschen oder zu dämonisieren, ohne Vorurteil. Bilder des sternklaren Himmels, aber auch der Berge gewinnen hier die melancholische Anmut, die auf andere Weise Adalbert Stifter in seiner Erzählung Bergkristall als Wunder der Rettung zweier verlorener Kinder entwirft.
Was von diesem Jahr bleibt, ganz direkt, dass dieser Film, den ich im Cinema Rex in Pontresina im August gesehen habe, dort immer noch läuft. Unter dem blauen Himmel des Kinos, das auch dieses Jahr nicht ganz vergangen sein wird und immer wieder neue Sternschnuppen hinter unserem Rücken zündet.
In der Märzausgabe von cargo habe ich das bewegende Gespräch mit Tamara Trampe gelesen – und lese es heute noch einmal. Über ihre erste Arbeit bei der DEFA, eine Produktion in Georgien, sagt sie: «Bei diesem Aufenthalt fand ich jeden Morgen vor meiner Tür ein großes Glas mit frischem Quellwasser. Wer macht das? Da war ein kleiner Junge, der war damals 13 und Student an der Musikhochschule. Er meinte, ich könnte damit meine Sommersprossen abwaschen. Ein Jahr später habe ich zuerst den Film Kaukasische Pastorale mit Hans Eberhard Leupold gemacht, und dann Ich komme aus dem Tal (1973) nach einer Idee von mir.» Es folgen fast neunzig Filme, die sie als Dramaturgin begleitet hat, und vier in Eigenregie (zusammen mit Frido Feindt).
Anlässlich einer Werkschau im Goethe Institut Sofia (2018) sagt sie über ihre Arbeit als Regisseurin:
«Neugier ist für mich ein wichtiger Antrieb für die Arbeit. Sowohl vom Thema wie von der Ästhetik. Wie wird der Mensch? Wir werden geboren, dann gehen wir Schritt für Schritt ins Leben. Wir irren und korrigieren, wir sind frei oder unfrei und dann sterben wir. Leben wir ein erfülltes Leben oder ein durch Zwänge bestimmtes? Na so etwa.
Was ärgert Sie heute in der Gesellschaft, an Menschen? Was bringt Ihnen Freude?
Mich ärgert, dass so Vieles nie hinterfragt wird, so kann auch Protest nicht entstehen. Das Abnehmen der Kommunikationsfreudigkeit im Alltag, geistige Trägheit. Mich freuen immer Humor und ein gerader Blick ins Gesicht des anderen.»
3. Dezember, Gedenken auf dem Georgenfriedhof in Pankow. Eine Sprecherin liest aus Tamaras Lebenserinnerungen, wie die Siebenjährige, geboren auf einem russischen Acker, rothaarig und voll Sommersprossen, ins fremde Berlin kommt und sich einen deutschen Vornamen zulegt. Die Texte erzeugen – wie in der Malerei ein Bild von Repin – «the illusion of depth». Über Tamara hinaus und von ihr ausgehend wird es ein universelles Gedenken. Die Klänge von Bach, Chopin und Janis Joplin (Mercedes Benz) übertönen dabei den Verkehrslärm der Greifswalder Straße. Von der Kapelle gehen wir hoch zum Grabplatz mit den wilden Gräsern und den alten behauenen Steinen, der so gut zu Tamara passt. «Jasnaja Poljana» (deutsch: helle Lichtung), das Gut südlich von Moskau, wo Tolstoi u. a. Krieg und Frieden schrieb. Krieg und Frieden haben auch die gemeinsame Arbeit von Tamara Trampe und Frido Feindt geprägt.
Am 13. Dezember sehe ich im Kino Krokodil Andreas Kleinerts Schwarzweiß-Film Lieber Thomas, der von Fridos kraftvoller Kameraarbeit getragen wird. Thomas Brasch – kaum ein Buch habe ich in den letzten 20 Jahren mehr verschlungen als seine Tschechow-Übertragung: Tschechow – Die großen Dramen, erschienen im Insel-Verlag. Nach 150 Minuten Kino, noch ganz benommen von Brasch und seinen deutsch-deutschen Kämpfen, gehe ich über die Greifenhagener Straße (jetzt wieder in Farbe) zurück zum S-Bahnhof Schönhauser Allee – und brauche Abstand. Einige Tage danach erinnere ich mich an ein Zitat von William Friedkin:
«To me, the art of cinema is the same as the art of painting. The artist takes a 2D medium and gives you the illusion of depth. If you look at any of the great paintings, you have the illusion of depth. Which is part of the art. The same with the great movies.»
Beerenberg
Das Subjekt mehr liegend
als sitzend – überm Magnoliendach
treiben Jan Mayen-Wolken im Kármán Wind
Flug 911 steuert in die Leewellen
der Fuji-san-Abwindseite
Struktur versagt
Das Subjekt mehr fühlend
als denkend – a two-dimensional
lyrical »I« looking for the illusion of depth
Die Klimamedien Kolumne in cargo hat sich für mich als ein Glücksfall erwiesen. Es sind vier Texte im Jahr, mit einer verlässlichen Deadline, und immer ohne Plan. Inhaltlich und sprachlich ist der apokalyptische Klimadiskurs wie ein steiniger Acker, da ist nicht viel zu holen außer Schlagwörtern, auch nicht bei Fridays for Future (mit ihren Aktionen sieht das schon anders aus). Um das Feld fruchtbar zu machen, muss man wie bei einem Hügelbeet vor allem auf die Ränder achten, und immer Schicht auf Schicht legen, bis ein guter Humus entsteht, ein Kompost, aus dem was wachsen kann. Diese Kompost-Metaphorik habe ich von Bruno Latour übernommen, auch dieses Jahr wieder ein wichtiger Stichwortgeber, wegen solcher Einfälle wie «Man muss sich Gregor Samsa als glückliches Insekt vorstellen». Er ist einer der wenigen, der aus Viren, Lockdown und Klima einen Gedanken formulieren kann, außer Alexander Kluge, vielleicht. Die beste Playlist zum Klimawandel kam von Jayson Greene auf Pitchfork, inklusive einem klugen Essay. Einen Eindruck hinterlassen haben auch Ali Smith mit Sommer, dem letzten Band ihres Jahreszeitenzyklus (jedes Jahr ein Band), Helene Hegemann mit Patti Smith und, ein paar Nummern dicker, Emine Sevgi Özdamar mit Schatten, die einen Raum begrenzen. Sie alle schreiben aus critical zones, über Kunst, über tote Hasen oder Telefonzellen. Friederike Mayröcker wird nun sehr vermisst, hat aber mehr hinterlassen als ein Leben zum Lesen reicht. Ich bin nun jedenfalls gespannt auf die neue Regierung, ob die sich was trauen. Wir fangen schon mal an im Kleinen, mit dem Klimamarkt Ammerland, einer lokalen Klimainitiative, die nun schon ins dritte Jahr geht und immer besser wird.
Ich dachte ja, ich hätte nur wenige Serien gesehen dieses Jahr, aber dann waren es doch nicht nur die Verfilmung von Sally Rooneys Normal People, sondern auch noch 9 perfect strangers, Underground Railroad, White Lotus, Sex Education, Emily Dickinson, The Chair und bestimmt noch viel mehr raffinierte Übungen zur intersektionalen und postkolonialen Debatte, alle wie mit einer extra Prise micro-dosing von was auch immer gewürzt, damit auch ja niemand unterfordert ist. Auch eine Art zuhause, dieses anglo-amerikanische Haus. Als an der hiesigen Uni ein Konflikt über das N-Wort losbrach, wirkte das allerdings wie inszeniert, nur ohne die extra Prise micro-dosing, irgendwie schal.
Ein paar Dinge, die mir 2021 Spaß gemacht haben:
Alison Bechdels The Secret to Superhuman Strength (2021), Heike Behrends Menschwerdung eines Affen. Eine Ethnografie der autobiografischen Forschung (2020), Deborah Levys Real Estate (2021), Karen Tongsons Why Karen Carpenter Matters (2019). Außerdem Ausflüge ins Erpetal und nach Oberschöneweide, die Serien The Serpent (Netflix 2021) und White Lotus (HBO 2021), Naama Heimans Picnic at Hanging Rock (D 2021), Ingrid Wieners Wandteppiche und ContraPoints Youtube-Lectures. Not so bad.
Eine Szene, die bleibt (tatsächlich im Kino gesehen, das ist ja mittlerweile alles andere als selbstverständlich, leider): Die Schlusssequenz von Shahrbanoo Sadats Kabul Kinderheim. Ich wollte den Film sehr mögen, das gelang nicht ganz, dafür erschien er mir ein wenig zu sprunghaft, zu unfokussiert, erreichte trotz schöner einzelner Szenen nie die Wucht des großartigen Vorgängers Wolf and Sheep. Andere Filme haben mich wohl dieses Jahr als ganze mehr begeistert, First Cow natürlich, auch Gunda und Le Prince. Aber der Schluss von Kabul Kinderheim, der so fantastisch ist wie historisch genau verortet und zugleich so sehr mit der schrecklichen Gegenwartsrealität resoniert, der das Kino feiert und die Kraft der Imagination, dieser Schluss soll bleiben, nicht zuletzt als Einspruch zu jenen Bildern aus Afghanistan, denen man im Sommer kaum entkommen konnte und die mittlerweile ganz verschwunden scheinen. Ich will ihn hier nicht verraten.
Im Juli fahre ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Marseille. Die Stadt begeistert mich, kaum dass ich aus dem Zug gestiegen bin. Am ersten Abend besuche ich La Friche, eine ehemalige Tabakfabrik im Viertel Belle de Mai, die heute ein Kultur- und Jugendzentrum ist. Die Sonne geht gerade unter, als ich aus dem Treppenhaus auf eine weitläufige Dachterrasse trete. Der Blick auf die Stadt und das Meer in der Ferne ist so überwältigend wie das Licht. Eine halbe Stunde später sitzen wir in den Liegestühlen vor der großen Leinwand, es ist noch nicht ganz dunkel, die Vorführung von Mohamed Zinets Tahia ya didou beginnt. Der Film aus dem Jahr 1971 entstand im Auftrag der Stadt Algier und sollte für die Stadt werben. Der Regisseur unterlief dieses Begehren mit seinem halb dokumentarischen, halb fiktionalen Film. Tahia ya didou ist mit heiteren und bitteren Elementen der Parodie angereichert und widersetzt sich so dem Anspruch auf Repräsentativität und schönen Schein. Die Erinnerungsbilder, die er von der französischen Kolonialherrschaft wachruft, haben es in sich. Während der Vorführung scheint Algier ganz nah, wie eine Nachbarin, die von der anderen Seite des Mittelmeers herüberwinkt.
Im August bin ich kurz in Köln und besuche zwei Ausstellungen: Vor Ort: Fotogeschichten zur Migration im Museum Ludwig und Resist! Die Kunst des Widerstands im Rautenstrauch-Joest-Museum. Die erste Schau kombiniert private Fotos aus den Familienalben der ersten Einwanderergeneration, Tonaufnahmen mit Erfahrungsberichten und künstlerische Fotografien und gewährt damit tiefe Einblicke in ein Stück Sozialgeschichte. Besonders beeindrucken mich die Dokumentationen der sozialen Proteste, sei’s gegen schlechte Schulbildung, sei’s gegen miserable Wohnbedingungen, und auch die Arbeitskämpfe der 70er kommen vor. En passant wird dabei deutlich, wie sich rassistische und ökonomische Ausgrenzung verschränken und warum der Protest dagegen keinen der beiden Aspekte aus den Augen verlieren kann, will er wirksam sein.
Die zweite Ausstellung ist materialreich und voller interessanter künstlerischer Arbeiten; unter anderem gibt es einen fiesen Scherenschnitt-Film von Kara Walker und eine Zweikanal- Videoinstallation von Ayrson Heráclito, gedreht auf der senegalesischen Insel La Gorée, von der aus die versklavten Menschen verschifft wurden, und in der Casa da Torre im brasilianischen Bundesstaat Bahia, wo die Afrikaner*innen nach ihrer Ankunft verkauft wurden. Heráclito ist nicht nur Künstler, sondern auch Candomblé-Priester, und er filmt sich und seine Gefährten beim Vollführen eines Rituals, das die beiden Orte von den Schrecken der middle passage zu befreien sucht. Neben den künstlerischen Arbeiten und den kulturgeschichtlichen Exponaten gibt es mehrere unabhängig kuratierte Kabinette, in denen es aktivistisch-unbarmherzig zur antikolonialen Sache geht: Gleich ob geraubte und noch immer nicht zurückgegebene Benin-Bronzen oder der Völkermord an den Herero und Nama, die Kritik ist radikal und frontal. Ich frage mich, ob ein ethnografisches Museum mehr tun kann, um sich mit der eigenen, mit dem Kolonialismus und dem Extraktivismus verwobenen Geschichte auseinanderzusetzen. Vermutlich wäre der nächste, konsequente Schritt die Selbstauflösung. Oder doch nicht? Eine Ambivalenz bleibt, wenn man bedenkt, dass sich auch die widerständigste Praktik musealisieren und als Objekt der Schaulust bändigen lässt.
Im Oktober fahre ich nach Südkorea. Was ein Privileg, in diesen Zeiten eine weite Reise zu machen, was eine Freude, sie nach arbeitsamen Tagen beim Filmfestival in Busan mit guten Freunden in Seoul ausklingen zu lassen. Besonders toll ist das Wandern in der Stadt, an der Stadtmauer vorbei auf den Namsan und dann auf den Inwangsan, treppauf, treppab, über blanken Fels, und zur Stärkung gibt es Mandu-Suppe im Ausflugsrestaurant. Überhaupt, das Essen! Es ist so gut, dass ich, zurück in Deutschland, gar nicht mehr weiß, worauf ich Appetit haben könnte. Interessant ist außerdem zu sehen, wie anderswo auf Corona reagiert wird. Die Temperatur wird am Eingang zu jedem Geschäft, Kino oder Restaurant gemessen; dort muss man jeweils eine Nummer anrufen, damit man eingecheckt wird und sich die Kontakte nachverfolgen lassen. Tag für Tag fülle ich brav eine Art Gesundheitstagebuch in einer App aus, zweimal gehe ich zum PCR-Test, und die Maske ist selbstverständlicher Teil des Alltags, sogar beim Bergwandern.
… Kurzbesuche
– in Paris, um in der Ecole des Beaux Arts auf eine Installation des kongolesischen Künstlers Sammy Baloji zu stoßen, der aus Kupferfäden gefertigte Bilder und auf «afrikanische» Stoffmuster anspielende abstrakte Großpanels mit dem altehrwürdigen Speichergewölbe resonnieren lässt;
– und im Museum am Quai Branly die Ausstellung ExAfrica zu besuchen, in der dezidiert komposit-kulturelle Artefakte wie Yinka Shonibares afrofuturistische Skulpturen, die aus Waffen gebauten Sitzmöbel von Gonzalo Mabunda, hybride Kopfplastiken von Romuald Hazoumé oder Orlans schwarz-weiße Gesichtschirurgien, auch die anspielungsreichen Spiralen aus bunten Flipflops, vor allem aber die Videos von Kader Attia zum psychischen Nachleben des Kolonialismus den Africa-Europe-divide überwinden und tendenziell reparieren wollen – und doch den bekannten Eindruck von Unwohlbefinden und Ratlosigkeit produzieren;
– in Amsterdams Tropen-Museum, um zu realisieren, dass nach den üblichen selbstreflexiven Einleitungstexten die gesamte holländische Kolonialgeschichte von Ghana bis Java in ausgewählt auratischen Objekten in einem einzigen Stockwerk für den Sonntagnachmittagsbesuch zusammengefasst werden kann;
– im Afrikamuseum von Tervuren/Brüssel, um in dem ehemaligen Schloss König Leopolds am Eingang über eine Gruppe von Skulpturen zu stolpern, die ob ihrer Wiedergabe stereotyper Wilder ausgegliedert worden sind,
sodann durch die Riesensammlung afrikanischer Masken bis hin zu ausgestopften Zebras zu laufen,
imperiale Selbstdarstellungen als verhängt und durch zeitgenössische Kunstwerke ergänzt,
schließlich im Garten einen Brunnen anzutreffen, in dem oberhalb der Büste von Leopold drei afrikanische Krieger mit Speeren und Federschmuck (!) thronen und das Ganze zu beiden Seiten von Elefanten- und Löwenköpfen abgerundet ist;
– bei savvy contemporary in Berlin,
um in For Phoenix to find its form in us auf erfreulich komplexe Ausstellungsdispositive wie jenes der Nigerianerin Ndidi Dike zu treffen, das rund um Kolonialprodukte wie Vanilla, Gold und Tee mit Fotos, Vorhängen und cake tablets historische und aktuelle «Commodities of Consumption and Sites of Extraction in the Global South» thematisiert;
– bei Afrikamera im arsenal-Kino Berlin,
um nach zweijähriger Pause den Filmvorführungen entgegen zu lechzen, die mit dem Spielfilm The Gravedigger‘s Wife von Khadar Ayderus Ahmed (Finnland/Deutschland/Frankreich) anheben, der ein Drama aus Dschibouti um einen Tötengräbervater, eine todkranke Mutter samt helfendem Kind, gnadenlosen Verwandten und ausgetrockneter Erde und damit das oft beklagte Afrika-Stereotyp zum Besten gibt;
– im Hamburger Bahnhof Berlin,
um die Vergabe des Preises der Nationalgalerie 2021 an die kongolesische Künstlerin Sandra Mujinga zu studieren, die in Reworlding Remains sci-fi-artige Großskulpturen aus luftigen Stoff-Metall-Netzen präsentiert, die, zwischen Abstraktion und Figuration changierend, eine veränderte Zukunft ins Vorstellbare zu rücken wünschen;
– in Bayreuths Reichshof Kino,
um beim Intermedial Indian Ocean Festival in Dokumentarfilmen Kunde über sich wandelnde Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Mozambik und Goa und fotographische Eindrücke aus Mauritius zu erhalten, polyrhythmischer Tanzpoesie in Swahili und Klängen aus Madagaskar zu lauschen, mich nicht zuletzt über eine Leso-Stoff-Performance zu amüsieren;
mithin trotz Corona-Beschränkungen einen gewissen Gang um die Welt zu machen und das Jahr 2021 als zumindest anregend befremdendes Reisen auf der (west-europäischen) Stelle zu verbuchen, freilich mit wenig Aussicht auf mobilitätsaffine Veränderung.
Wir hatten zwei Sorten von VHS-Fernsehaufnahmen: Erstens Filme für uns vier Kinder (hauptsächliche alle Asterix-Verfilmungen) und zweitens Folgen der ARD-Sendung Super Drumming. Die Show aus den späten 80ern wurde moderiert von Pete York, er war damals als ehemaliger Schlagzeuger der Spencer Davis Group bekannt, heute eher dadurch, dass er viele Jahre in Helge Schneiders Band getrommelt hat. Die Sendung wurde größtenteils in einer Saarländer Eisenhütte aufgezeichnet, mit den besten Schlagzeugern der Welt, oder zumindest einem guten Teil davon: Von Swing-Legende Louie Bellson bis zu Ian Paice von Deep Purple, Simon Phillips von Toto oder Nicko McBrain von Iron Maiden spielte dort die Weltspitze vor – zu zweit, teils zu dritt, in «Drum Battles». Unglaublich, dass das im ARD-Hauptprogramm lief.
Da unser Fernseher auf drei Sender beschränkt war, glotzten wir Kinder die VHS-Sammlung rauf und runter, jahrelang. Super Drumming nicht ganz so häufig wie Asterix, allerdings oft genug, dass ich bis heute ein libidinöses Verhältnis zu Schlagzeugvideos unterhalte. Das liegt sicher auch daran, dass zwei Familienmitglieder fähige Drummer wurden und mir nur die Rolle des Schlagzeug-Bewunderers übrig blieb. Aber nicht unwichtig dafür war die Beobachtungspraktik, die Pete Yorks Super Drumming lehrte: Man schaut nicht nur vergleichend, wie sich Bellson von McBrain unterscheidet, sondern macht diesen Vergleich auch jenseits musikalischer Genres. Bellson spielt in der Sendung keinen Swing, McBrain kein Heavy Metal. Alle präsentieren gleichsam musikalisch nackt ihre eigenen Schlagzeugstile.
Seitdem ist viel passiert, nicht nur haben sich Drumming und Drums weiterentwickelt. Es haben sich auch neue Techniken des Drumvideo-Schauens etabliert, die aus dem Prinzip Super Drumming eine eigene Welt geschaffen haben. YouTube hat den Schlagzeugblick auf ein anderes Level gehoben, was eine bemerkenswerte Faszinationskraft entfalten kann: Mit Kanälen wie Drumeo oder Drummerworld lässt sich gern mal ein schönes Wochenende verbringen.
Für mich bleiben deshalb von jedem Jahr immer wieder Neuentdeckungen. Globale Popularität erlangte Ende 2019 etwa das Wunderkind Nandi Bushell, als sie bei Ellen DeGeneres auftrat und sich später ein Drum-Battle mit dem Schlagzeuger lieferte, dessen Spielen – ja, das lässt sich so allgemein sagen – in den vergangenen 30 Jahren das einflussreichste der Welt war: Dave Grohl (überhaupt nur noch übertroffen von Ringo Starr, was den Einfluss auf das real praktizierte Trommeln angeht). Nandi Bushell beeindruckte dabei nicht nur durch Talent und eine atemberaubende Coolness. Sie half der Branche auch, ihre Rollenbilder zu modernisieren.
Klar, Prince hatte stets Drummerinnen: Allen voran Sheila E, später auch Cora Coleman-Dunham, Nikki Glaspie und Hannah Welton. Und Lenny Kravitz’ Liveperformance hat auch immer von der Cindy Blackmans gelebt, die seinem Sound einen Offensivdruck gab wie Charlie Watts den Rolling Stones. Außerdem gehört die technisch sicher beste Schlagzeugerin der Welt, die Aschaffenburgerin Anika Nilles, schon viele Jahre zur globalen Trommelelite, zum Beispiel, weil sie Quintuplets mit einer musikalischen Leichtigkeit einbindet, wie es Led Zeppelins John Bonham mit Triplets schaffte. Wenn auch nicht notwendig wegen, aber zumindest seit Nandi Bushell wird die Frage nach den bislang unentdeckten Schlagzeugerinnen, und die nach den angeblich besten unter ihnen, mehr und mehr virulent.
Die Komplexitätsreduktionen von Bestenlisten ermöglichen ihre ganz eigenen Blickadjustierungen: Man kann die Schlagzeugerinnen auf der Liste recherchieren, so ganz eigene Vergleiche anstellen und die verschiedenen Stile noch wesentlich genauer gegeneinander anhören als noch unter den Bedingungen von Super Drumming. Dabei habe ich – und das ist für mich Was vom Jahr bleibt zu diesem Silvester – ein Drumeo-Video von Sarah Thawer entdeckt, das mich derart von den Socken gehauen hat wie zuletzt nur Larnell Lewis von Snarky Puppy.
Eine wirkliche Neuentdeckung ist Sarah Thawer nicht, das Video ist von 2018 und auch 2019 veröffentlichte sie mit Senri Kawaguchi ein ziemlich populäres Drum Battle-Video, oder genauer ein «Drum Off» von beeindruckender Präzision. Ich will nicht sagen, dass es die Battles von Super Drumming wie Altherrenfußball aussehen lässt, aber es ist schon so, als würden man ein aktuelles Premier League-Spiel mit den Finals der WM 86 vergleichen: Man sieht in den verschwommen Aufnahmen der 80er schon ein Jahrhundertgenie am Werk, aber drumherum ist im Vergleich schon auch ganz schön viel Geholze.
Das besagte Drumeo-Video Thawers ist allerdings noch einmal von anderer Qualität, weil es ihre ganz eigene Stilistik erkennen lässt. Sie erklärt, wie ihr Schlagzeugspiel an der nordindischen Tabla-Tradition mit ihren Bols orientiert ist, einer Art oraler Mnemotechnik für Rhytmen, die gleichzeitig eine eigenständige Gesangspraktik ausmacht. Daran ist grundsätzlich nichts neu für die Schlagzeugcommunity, das mit an die 10 Mio. Views populärste Video des YouTube-Kanals von Drummerworld zeigt einen Auftritt des Tabla-Spielers Zakir Hussain, bei dem er in Bols singt, was er danach trommelt. Überhaupt ist nichts am modernen Schlagzeugspiel ohne die ständige Rekontextualisierung diverser kultureller Traditionen des Trommelns denkbar; das Schlagzeug ist wohl das am stärksten nicht-westliche Instrument populärer Musik. So verstand sich auch Pete York mit Super Drumming als Proponent der World Music, unter anderem auch durch die Auftritte mit dem indonesischen Percussionisten Nippy Noya (der selbst wiederum Sohn eines japanischen Taiko-Trommlers ist). Thawer zieht in diesem Sinne auch Parallelen zwischen ihrem Stil und dem Funk James Browns, der seinen Groove erst durch die Aneignung kubanischen Mambos erlangt habe (allerdings auch durch Browns Aneignung des Werks Clyde Stubblefields, wie ergänzt werden müsste).
Und dennoch zeigt sich in dem Video etwas Neues: Thawer breitet aus, wie sie downbeatlastige Kherwa-Rhytmen mit den für Funk und R&B typischen Ghost Notes kombiniert. Sie demonstriert diese Struktur, indem sie den Rhytmus in Bols vorspricht. Solche Rekontextualisierung des Kherwa unter den Bedingungen des modernen Drumsets schafft sie auch – so erklärt sie es zumindest – durch Nachahmung: Mit Beckenkuppenschlägen imitiert sie die Glocken indischer Percussion-Instrumente, durch Schläge auf die Trommelränder den Sound von Fingerringschlägen beim klassischen Tabla-Spiel und durch synkopierte Splashbeckenschläge das traditionelle Mitklatschen des Publikums. In dieser Dekomposition mag ihr Spielen konstruiert anmuten, hier darf aber nicht das Erklären des Spielens mit dem Spielen verwechselt werden. Das Ergebnis ist nämlich keine ‹Kombination› populärer Musik mit ‹exotischen› Stilen, wie es in der World Music häufig der Fall war. Es ist dichtes, komplexes, treibendes und kraftvolles Drumming eigener Form. Gäbe es die ARD-Sendung Super Drumming noch, Pete York würde Sarah Thawer sicher einladen.
Das letzte Jahr bestand eigentlich aus zwei Jahren, jedenfalls bin ich nicht in der Lage, 2020 und 2021 auseinanderzuhalten. Ebenso wenig gelingt es mir, aus dem Kontinuum meiner Online-Medienrezeption etwas herauszulösen, obwohl doch so viel Interessantes und Wichtiges auf-, aber eben auch wieder abgetaucht ist. Umso mehr ragen ein paar Ausstellungen heraus, die alle mit Architektur zu tun haben. Im letzten Sommer die Werner-Düttmann-Ausstellung, vor allem, weil sie die Gebäude Düttmanns im Berliner Stadtraum vor Ort mit Informationen, historischen Bildern und Plänen markierte – die Akademie der Künste, klar, und die wunderbare Hansabücherei, aber auch den Mehringplatz oder die Mensa der TU und das Brücke-Museum, wo die Ausstellung stattfand. Die Gebäude Düttmanns scheinen sich immer ein wenig wegzuducken, selbst die hohen, daher war es so gut, sie und ihre Bedeutung für das kulturelle Selbstverständnis West-Berlins in den Blick gerückt zu haben.
Dann Bildungsschock im HKW, eine Ausstellung zum Zusammenhang von Bildungsreform und Architektur, in der sich unter vielem anderem eine WDR-Fernsehdiskussion über Gesamtschulen fand, in der 1975 wirklich gute Vorschläge gemacht wurden zur Durchlässigkeit von Bildungsinstitutionen – architektonisch und sozial, weil sich das eben nicht trennen lässt. Im Nachhinein scheint es geradezu so, als ob sich die Abwehr sozialdurchlässiger Bildungskonzepte hinter der Ablehnung spätmodernistischer, brutalistischer Architektur verstecken konnte und umgekehrt.
Schließlich, schon 2020, die Ausstellung Die Neue Heimat im Architekturmuseum Frankfurt/Main, eine beeindruckend gründliche Aufarbeitung der Geschichte des Wohnungsbaukonzerns. Das Ende dieser Geschichte wurde durch den Finanzskandal in den frühen 1980er Jahre eingeläutet, was nicht die Frage verdecken sollte, mit der die Neue Heimat begonnen hatte, nämlich die, warum nicht alle eine gute Wohnung bekommen sollten. Oder sogar, warum eine Gewerkschaft kein Ferienheim an der Côte d’Azur betreiben könnte. Ja, warum nicht? Berlin hat jetzt jedenfalls ein weißes Schloss mit einer goldenen Kuppel. Wieder.
2021 war für mich ein Jahr, in dem ich nahezu permanent bei Filmfestivals war. In aller Regel online, von Kreuzberg aus. Saarbrücken, Rotterdam, Berlin, Nyon, München, Sheffield, Graz, Toronto, Lissabon, Wien, Cottbus, Mannheim-Heidelberg, Duisburg. Nur bei der Diagonale, der Viennale, beim IFFMH und bei DocLisboa war ich auch vor Ort, das waren Wohltaten in jeder Hinsicht. Ich habe mich aber auch gern von dem Strom der Filme mitnehmen lassen, der mir ins Haus geliefert wurde, vor allem zahlreiche Dokumentarfilme. Die russische Serie CHICKS, die ich «in» Cottbus gesehen habe, war mein persönlicher Höhepunkt, aus vielfachen Gründen, die auch viel mit meinem Blick auf die Geopolitik zu tun haben, und mit einer tiefen Sympathie für die tapferen Zivilgesellschaften in Russland, der Ukraine und in Belarus (und im Sudan, in Chile, in Bulgarien, in Algerien, eine vollständige Liste der Staaten und struggles ist leider sehr lang und führt bis nach Österreich und in das Deutschland von Jens Spahn und Cum-Ex-Raushauer Olaf Scholz und in den globalen Räuberkapitalismus). Mein Arbeitszimmer ähnelt zunehmend ein bisschen der «Brücke» auf der Enterprise: vor mir der Weltraum, als Bildschirm. Die Träume von Zugänglichkeit, die ich als Student in den Lesesälen der Universität Wien angesichts von meterweise Werkausgaben schon kaum ermessen konnte, haben sich exzessiv erfüllt. Die Assoziationen, die sich in meinen eklektischen (heimlich bzw. hier würde ich natürlich trotzdem behaupten: äußerst systematischen, nur halt auf ein paar hundert Lebenszeiten ausgelegten) Beschäftigungen und Arbeiten einstellen, sind priceless (auch das so ein Gegenwartszeichen, oft scheinen mir englische Wörter schon passender als ein entsprechendes deutsches): Ich lese Witiko von Stifter, und schaue Succession, und staune über Kontinuität von Motiven in so unterschiedlichen Kontexten (der Roman ist übrigens nicht im geringsten langweilig, sondern ein Höhepunkt des 19. Jahrhunderts, wenn auch vom Sound her eher Levitikus als Tolkien). Zugleich macht mir diese Position einer Made im Speck der allseits verfügbaren Informationen (dtv-Dünndruck, Perlego, Sky Go, die akademischen Tauschnetzwerke, in denen PDFs zirkulieren, MUBI, Festivalscope, Spotify, und unsere fabelhafte Filmquelle) auch ein wenig zu schaffen. Ich erlebe sie als historisches Privileg, das ich mit Rezeptionsdisziplin ausbade. Solche Sorgen hätten die meisten Menschen gern. Im Sommer stand ich dann, mir eine bescheidene (Reise-)Freiheit herausnehmend, auf Aegina vor dem Aphaia-Tempel, schaute über das Meer nach Athen hinüber, hatte eine kleine Ahnung davon, was so viele Epochen in Griechenland suchten, und war von meiner Weltempfangshöhle in Kreuzberg sehr weit entfernt. Die Sonne tauchte alles in ein unglaubliches Licht. Sie war aber auch bedrohlich.
02.12.21 um 11.30 Uhr: Eine der größten Witzfiguren in der Geschichte der Politik – und gleichzeitig einer der gefährlichsten Politiker der letzten Jahre in Europa – tritt zurück. Ein häßlicher Typ aus Wien-Meidling mit schiefen Zähnen, roten Wangen und Elefantenohren, der geht, als hätte er einen Besenstiel im Arsch, weil er der Vollklemmi ist. Innerhalb weniger Jahre treibt den ÖVPler eine zunächst gut geölte PR-Maschine vom «Geilomobil»-Fahrer zum Bundeskanzler eines der EU angehörenden Landes in Mitteleuropa hinauf. Die Bäuerinnen am Land werden nass, wenn sie ihn sehen, die Reichen des Landes kriegen einen Ständer, wie man heute weiß: in sichergestellten Chats sollte sich in seinem Umfeld der Satz finden: «du arbeitest für die ÖVP, du bist eine Hure der Reichen.» Irgendwo las ich, dass ihn einmal ein Lobbyist mit einem US-Untenehmer zusammenbrachte, der fragte nach dem Meeting, ob man ihn für die Versteckte Kamera verarscht hätte, denn so einen Windbeutel, so eine Witzfigur hätte er noch nie gesehen. Mir ging einer in die Hose, als die Witzfigur mit einer abermaligen Lüge seinen Rückzug bekannt gab: Er würde es wegen seines neu geborenen Sohnes tun. Und die Erde ist doch eine Scheibe!
Ich weiß nicht, warum ich den Film bis dahin nie gesehen hatte, aber plötzlich tauchte die Hasenschartenbande auf Netflix bei mir auf, und – so oft, wie Mads Mikkelsens Elias in dem Film scheißen geht, darf man das sagen – ich schiss mich an vor Lachen, und zwar durchgehend. Höhepunkt natürlich die Bibelstunden mit Josef. Erst beim Abspann sah ich, dass der Film 2015 gedreht wurde. Gerade noch rechtzeitig! Dann kam ja diese Woke-Wave auf uns zu und hat uns jeden Spaß genommen. «Hasenschartenträger dürfen nur von Hasenschartenträgern gespielt werden!», und so weiter. Da waren diese fünf «socially challenged» Simples, wie sie Amazon nennt, diese neue Art Leben im Spiel der Evolution, eine echte Wohltat. Und der Film eine «Art», die es heute nicht mehr gibt. Selbst als Weihnachtsfilm besser als Ist das Leben nicht schön?!
Tod auf Raten von Louis Ferdiand Céline in einer Neuübersetzung. Auch in der alten Übersetzung hatte ich das Buch bis dahin nicht gelesen, nach zehn Seiten war klar: bestes Buch, das jemals geschrieben wurde, und – siehe oben – eines, das heute keiner mehr schreiben dürfte. So viel gewichst und geschissen wie in diesem Buch wird nicht mal in meinen Büchern, die Gerüche eines Paris zu Beginn des vorigen Jahrhunderts strömen einem buchstäblich in die Nasen, die Prügel, die der heranwachsende Ferdinand einsteckt, brechen die Knochen des Lesers, die Mösen sind so saftig, dass man Wüsten damit begrünen könnte – ein Fest des Lebens! Und ein Zeitdokument. Alleine, wie er über viele Seiten die Weltausstellung in Paris 1900 beschreibt – ich weinte vor Freude.
Drei Tage war schreckliches Wetter, als ich zu Weihnachten meine Mutter in den oberösterreichischen Bergen besuchte, dann «riss es auf», wie unser Vater immer sagte. Ich ging hinein in die Gegend, wo er geboren worden war, wollte zum Forsthaus, bog dann aber nach links ab hinauf zum «R.», Schilder warnten: Privat. Ich ging weiter, wirklich weit hinauf, seit 45 Jahren war ich da nicht mehr. Ein «Hatscher», wie unser Vater immer sagte. Dann oben am Berg das Haus, davor eine Kapelle unter einer Linde. Noch eine Kurve nach rechts, dann hinein in den Hof, Stallgebäude, Scheune, ein Wohnhaus aus Stein, klein, niedrig, ich schätze: feucht. Ich ging nach vorne zur abfallenden Wiese und blickte auf Warscheneck und Totes Gebirge, machte Fotos. Nie eine schönere Aussicht gehabt! Dann hörte ich ihn hinter mir: «Wos fotografierst?» Ich drehte mich um, und er stand in einem Spalt seiner Scheune, mit den grün-braunen Tönen seiner Kleidung von der Scheune beinahe gefressen. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er einen Flobert auf mich gerichtet hätte, Fargo-style. Ich rettete mich, indem ich mich als ehemaligen Schulkollegen zu erkennen gab, und tatsächlich erinnerte er sich an mich. Plötzlich strahlte er und begrüßte mich herzlich. G. lebt hier seit 57 Jahren, seit September, als die Mutter starb, alleine mit seinem Vater, der ab kommendem Jahr ins betreute Wohnen geht, dann ist er hier ganz alleine. Der Bruder hat sich erhängt, dessen Sohn ist in der «Geschlossenen». Im Winter wird es hier um 3 Uhr finster, wenn der Nebel im Tal hängt, ist der Tod im Vergleich wie ein Urlaub. G. steht jeden Tag um halb 5 Uhr auf und geht um 9 schlafen, dazwischen Stall, Weide, Wald, Jagd. Die Beine «im Holz» acht Mal gebrochen, «die Hände weiß ich war nicht wie oft». Einmal nahm ihn ein Mäher die steile Wiese mit hinunter, nach drei Tagen im Haus, während derer er weder stehen, sitzen noch liegen konnte, wollte er sterben. Es wurden acht Wochen Rollstuhl daraus. Von «kultureller Aneignung» hat er noch nie gehört, «Hafermilch» sagt ihm nichts. In zweieinhalb Jahren wird er in Pension gehen. Durchhalten!
Öfters, insbesondere beim Bahnfahren, wenn Mitreisende das bemitleidenswerte Zugpersonal mit ‹staats-, institutions-, wissenschaftskritischen› Hinweisen besserwisserischen Bautyps meinten versorgen zu müssen, an Latours Why Has Critique Run out of Steam aus dem Jahr 2004 gedacht («Remember the good old days when revisionism arrived very late, after the facts had been thoroughly established, decades after bodies of evidence had accumulated? Now we have the benefit of what can be called instant revisionism. The smoke of the event has not yet finished settling before dozens of conspiracy theories begin revising the official account, adding even more ruins to the ruins, adding even more smoke to the smoke. What has become of critique when my neighbor in the little Bourbonnais village where I live looks down on me as someone hopelessly naive because I believe that the United States had been attacked by terrorists?»). Dort bereits auch schon die Rede von der Asozialität eines Virus («it mutates now, gnawing everything up, even the vessels in which it is contained»), das kritische Ressourcen diffundiert, aufbraucht, erschöpft und sich in beliebig skalierbare Rhetoriken des debunking überträgt (was Latour an einer Stelle interessanterweise mit computertechnischer «Miniaturisierung» assoziiert: «I have always fancied that what took great effort, occupied huge rooms, cost a lot of sweat and money, for people like Nietzsche and Benjamin, can be had for nothing, much like the supercomputers of the 1950s, which used to fill large halls and expend a vast amount of electricity and heat, but now are accessible for a dime and no bigger than a fingernail. As the recent advertisement of a Hollywood film proclaimed, ‹Everything is suspect … Everyone is for sale … And nothing is what it seems›.»).
Was ich allerdings, Fortschrittsberichtsdetail, 2020 in Reise- und Pendlersituationen dieses Zuschnitts noch nicht hatte (und kannte): 3M Aura 9320+ («these are our weapons nonetheless», heißt es bei Latour) + täglich drei, vier pictures of the end von @neighbours_wifi im Feed. Was auch noch bleibt: der völlig plausibel dokumentierte Autohass in Radu Judes BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN | Sergei Loznitsas BABI YAR. CONTEXT (allein die dokumentarischen Aufnahmen des Kiewer Kriegsverbrecherprozesses im Januar 1946) | Lady Gaga vs. Al Pacino vs. Jeremy Irons vs. Jared Leto in HOUSE OF GUCCI || HOW TO WITH JOHN WILSON S02E02 (der Paläofoodie, hinter dem sich offenbar eine ganze Community verbirgt; die Festivitäten in der lächerlichen Villa des BANG Energy CEO und Miamimateschitz Jack Owoc; die Wiederbegegnung mit NXIM-Volleyballlaberguru Keith Ranieri im maximal absurden Kontext eines A capella-Schülerwettbewerbs usf.) || Dylan Mulvin: Proxies. The Cultural Work of Standing In (MIT Press) | David Graeber & David Wengrow: The Dawn of Everything: A New History of Humanity (Farrar, Straus and Giroux) | Andreas Malm and the Zetkin Collective: White Skin, Black Fuel. On the Danger of Fossil Facism (Verso) + zwei weiterdenkende Rezensionen von James Butler (A Coal Mine for Every Wildfire) und Adam Tooze (Ecological Leninism) in der LRB, 22, 18.11.2021 | Nicole Mayer-Ahuja, Oliver Nachtwey (Hg.): Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft (Suhrkamp) | Philippe Sands: The Ratline (W&S) || Merkel-Jahre (Feature-Serie von Stephan Detjen & Tom Schimmeck, Deutschlandfunk 2021) || Zwei Reportagen (Luke Mogelson – Among the Insurrectionists | Steve Coll & Adam Entous – The Secret History of the U.S. Diplomatic Failure in Afghanistan) und ein Profile (Michael Schulman – On Succession, Jeremy Strong doesn’t get the Joke) im New Yorker || sowie: die RUB (bleibt auch) + Urs Jaeggi: Brandeis (Luchterhand 1978)
Drinnen und Draußen
Träumen heißt, dass die Zeit außer Kraft gesetzt ist. Das Material der Träume, die von 2021 bleiben, weil sie den Moment des Erwachens überdauerten, stammte vor allem aus Büchern, Konzerten und Filmen. Ich erinnere mich an Apichatpong Weerasethakuls Film Cemetery of Splendour (2015), der auf einer Krankenstation spielt, auf der Soldaten liegen, die an einer rätselhaften Krankheit leiden, welche sie in einen tiefen und langen Schlaf fallen lässt. Die Ärzte setzen auf der Station eine Lampe ein, die von den Amerikanern erfolgreich im Krieg in Afghanistan erprobt worden sei, um Schläfern zu besseren Träumen verhelfen. Allerdings bleibt rätselhaft, wie Empfindungen in Traumbilder umgesetzt werden. Denn der Traum ist dem, was er ausdrückt, nicht ähnlich, aber er ist dem Ausgedrückten auch nicht äußerlich. Die Ursachen und Quasi-Ursachen, die Umstände und Situationen sind irgendwie in ihm anwesend: Ich bin nur mehr das Relais eines Geschehens, das durch mich hindurch läuft. Musik: Das Abschlusskonzert der Ruhrtriennale 2021 in der Jahrhunderthalle hieß NACHTRAUM, gespielt vom Klangforum Wien. Es versetzte mich in jenen eigentümlichen Zustand, den Kafka einmal wie folgt beschreibt: «Niemals ist es möglich», notiert er im Tagebuch, «alle Umstände zu bemerken und zu beurteilen, die auf die Stimmung eines Augenblicks einwirken und sogar in ihr wirken und endlich in der Beurteilung wirken, darum ist es falsch zu sagen, gestern fühlte ich mich gefestigt, heute verzweifelt.» In einem weiteren Konzert der Ruhrtriennale mit zehn Stücken für jeweils ein eigens umgestimmtes Klavier des Schweizer Komponisten Edu Haubensak im Salzlager, Kokerei Zollverein, war zu hören, wie solche Stimmungen gemacht werden, wie sie Vorstellungen anreizen und schließlich in Träumen herumgeistern. Ausstellungen: Die Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin über ausgewählte nationalsozialistische Künstler, die auf der sogenannten «Gottbegnadeten-Liste» standen, war mir ein Augenöffner für Ges(ch)ichtskontinuitäten. Und die Ausstellung zur Geschichte der Documenta, ebenfalls im DHM, nicht minder. Im Folkwang Museum Essen war eine Ausstellung mit den Fotografien von Timm Rautert, die wie die Grammatik zu einer Sprache sind, die niemals von mir erlernt wurde und in der ich allenfalls radebrechen kann. Und im Quadrat in Bottrop die Fotografien von Patrick Faigenbaum. Noch bis zum Frühjahr 2022 läuft in Bochum die Ausstellung mit Arbeiten von Ingeborg Lüscher im Kunstmuseum und in der Situation Kunst. Lüscher gibt unter anderem Folgendes zu lesen: «Sie lesen anders als ich. Sie lesen zur Erregung des Gefühls und des Geistes. Ich lese wegen der Ordnung.» Buch: Wegen der Übersetzung zu lesen ist Cécile Wajsbrots Roman Nevermore, aus dem Französischen übersetzt von Anne Weber. Das Buch führt am Beispiel des Übersetzens von Virigina Woolfs To the Lighthouse vor, dass selbst einfache Regeln, sofern sie erneut auf ihr Produkt angewendet werden, bereits nach wenigen Durchläufen unvorhersehbare Ergebnisse zeitigen. Und Filme: Philippe Parreno schlägt eine Unterscheidung zwischen «the audience» und «the public» vor: «The audience is typically a problem. When you go to the movies and you want to cut off the head of the guy in front of you because you cannot read the subtitles, then that would be the audience. The public is the person you need in order to see or to experience something.» Die meisten Filme müssen, ungeachtet der Pandemie, ihr Publikum formen, ohne die Leute als Zuschauer:innen zu versammeln. Die 18 Filme von Abbas Kiarostami, die auf den DVDs Les Années Kanoon herausgekommen sind, handeln von einem Publikum, das im iranischen Kinderfernsehen geformt werden sollte. Devoirs de soir (1989) ist wie ein Alptraum über Hausaufgaben, die nicht gemacht worden sind.
Restefix
Eingebrannt: die «Konzeptsbeamten» aus Joseph Roths Radektzymarsch, gelesen von Michael Heltau. Die gemütlich heranrollenden Realismushalluzinationen in Adalbert Stifters Nachsommer. Der afroamerikanische Schiffsjunge Pip, der in Melvilles Moby Dick von der Crew auf offenem Meer zurückgelassen und in letzter Minute gerettet wird, derart traumatisiert aber den Verstand verliert und nun noch zu Lebzeiten als orakelndes Phantom auf der Pequod herumspukt. Joan Didion: «the shallowness of sanity» (The Year of Magical Thinking, 2005).
Ausgebrannt: Facebook, vielleicht auch deswegen zunehmend weniger bewirtschaftet. Aber nur dort gab’s eben auch: Emmanuel Péhaus mehrteilige Hommage an die in diesem Jahr verstorbene Fanny Deleuze, Übersetzerin, Aktivistin, Partnerin von Gilles, enge Freundin und Mitarbeiterin von Agnès B.
Heißer Anwärter auf den Nostradamus-Preis: der andere Melville, nämlich der französische Regisseur Jean-Pierre, der im Jahr 1970 einen der wichtigsten medialen Führungswechsel unserer Gegenwart prophezeite. «J’estime que la disparition du cinéma aura lieu vers l’an 2020 et que dans cinquante ans environ il n’y aura plus que la télévision.»
Wer Marijke Amados Mini Playback Show aus den 1990er Jahren für einen Horrortrip hielt, der wird sich angesichts der kindlichen Machenschaften in Niccolò Ammanitis auf Arte ausgestrahlter Serie Anna (2021) mehr als bestätigt fühlen. Eigentlich dreht sich das visuell bestechende Survival-Drama um die titelgebende Heldin, aber für einigen Episoden stiehlt ihr die Nebenfigur Angelica fast die Show. Mit einer wankelmütigen Ruchlosigkeit, die Machiavellis Fürst alle Ehren machen würde, herrscht die despotische Göre aus bestem Hause über einen Kreis von ebenfalls adoleszenten Untergebenen, die in einer apokalyptischen Welt dort Rettung suchen, wo Macht sich Geltung verschafft. Outfits und Make-Up der Principessa, die ständig umgeben ist von einem nicht minder herausgeputzten androgynen Hofstaat, muss man gesehen haben: grelle, gekonnt zerrissene Nylonstrumpfhosen, Pelzimitate, gefreestylt indigener Federkopfschmuck, Perücken, kiloweise Kettchen, klumpiges Make-Up, das von einer Gesichtsmaske nicht mehr zu unterscheiden ist, und für den besonderen Anlass auch mal kübelweise Farbe, in der man sich aalt, als wäre es ein warmes Bad. Eben alles, was man braucht, wenn die kaputte Welt zur Bühne wird. Was die Erwachsenen davon halten? Die sind längst einer tödlichen Pandemie erlegen, deren Symptome – ein Virus ganz im Zeichen des Jugendwahns – erst mit der Pubertät einsetzen. So viel sei verraten: Auch Herrschaft schützt vor Siechtum nicht.
Wurde mir das erste Mal auf den Kopf zugesagt: alternder Millennial.
Ewig jung: Frankreich im Sommer.
Ratgeber des Jahres:
– Je me demande comment ça vous vient l'inspiration ?
– En général en me retenant d'uriner.
– Il y a un rapport ?
– Un rapport certain. De contention.
Raymond Queneau, Loin de Rueuil (1944)
Guter Einstieg I: «Think the baby from Trainspotting, if she’d lived». So beschreibt die von Sophie Willan gespielte Protagonistin in der BBC Sitcom Alma’s Not Normal (2021) ihre Kindheit, gesäumt von einer psychotischen, lange drogenabhängigen Mutter und einer Oma mit ausschweifenden Liebesleben und einem Faible für Raves auf Ibiza. Das längst fällige Gegenstück zum «adrift women with a posh accent»-Genre, das mit Fleabag zugegebenermaßen einen unwiderstehlichen Höhepunkt erreicht hat.
Guter Einstieg II: «More than realism or its rivals, the dominant literary style in America is careerism». So Christian Lorentzen im März seiner Bookforum-Besprechung von Blake Baileys Philip Roth-Biographie.
Noch gar nicht gesehen, sowas: den Dialog im Mittelsegment von Ryusuke Hamaguchis Episodenfilm Wheel of Fortune and Fantasy (2021). Das Pendel des Gesprächs zwischen einem schriftstellernden Literaturprofessor und seiner ehemaligen Studentin schwingt ständig hin und her, dreht sich, gerät ins Trudeln und findet dennoch immer wieder einen neuen Rhythmus. So wird aus einem übergriffigen Kalkül …. doch ja … Vertrautheit. Fast beiläufig wirft Hamaguchi die rhetorische Frage auf: Gibt es eigentlich etwas Intimeres als das gesprochene Wort, das auf Absicherung verzichtet?
Guilty pleasure: Artikel über Elon Musk.
«Abschied» des Jahres: Tim Sweeney, der nach 21 Jahren im März seine Radioshow Beats in Space einstellte. Nur um sie im Herbst wiederzubeleben – exklusiv für zahlende Apple Music-Kunden. Nee, so nich’, Freundchen.
Stattdessen on Repeat: Charlie Bones’ Do You Roller Disco-Mix.
Vermieden: Joanna Hoggs The Souvenir: Part II. Ich fand den ersten Teil schon so hüftsteif in seiner vermeintlichen Intensität, dass ich mich trotz diverser Versuche partout nicht dazu aufraffen konnte, den zweiten zu sehen.
Neologismus des Jahres (aufgeschnappt in der Financial Times): «divorce curious. Der Lockdown macht’s möglich.
Dixie-Klo des Jahres: «Besonders in Südkorea gibt es eine gewisse Obsession mit Kim [Jong-uns] Körper. Die Kim-Biographin Anna Fifield schreibt, der [nordkoreanische] Machthaber habe auf allen Auslandsreisen eine tragbare Toilette dabei, damit feindliche Geheimdienste aus seinen Ausscheidungen keine Rückschlüsse über seinen Gesundheitszustand treffen können.» Berichtet Friederike Böge in der FAZ vom 30. Juni 2021.
Fascho des Jahres: Hans-Georg Maaßen.
Der fescheste Ayatollah: Khomeini, smart-casual auf dem Cover von Katajun Amirpurs Biographie.
Postkolonialismus, der nach hinten losgeht: Raoul Pecks Exterminate All the Brutes (2021), ein essayistischer Dokumentarfilm, der persönliche Betroffenheit und assoziativ aufgerufene Episoden kolonialer Gewalt zu ziemlichem Quark verrührt. Das Problem ist nicht die engagierte Form. Auch Pierre Singaravelous, Karim Miskes und Karim Balls dreiteilige Geschichtsdoku Décolonisations (2019) schlägt einen aufwieglerischen Ton an, sagt – die Erzählerstimme Reda Katebs macht’s möglich – emphatisch Ich und entwirft Bögen, die ganze Kontinente umspannen. Doch wo Décolonisations trotz der immer wieder gekonnt aufgezeigten Querverbindungen zwischen den historischen Geschehnissen Differenzen herausarbeitet, verquirlt Peck alles, was ihm in die Hände kommt, zu völliger Ununterscheidbarkeit.
Kirchgang des Jahres: Pastor T. L. Barrett & the Youth For Christ Choir – Nobody Knows (1971)
Champagner des Jahres: Larmandier-Bernier, kannste nix gegen anthroposophische Methoden sagen, alljährliche Spiegel-Artikel hin oder her.
Perlt auch: Stauder Pils.
Was man nachts beim Radfahren an der Ruhr hört: erstaunlich viele Vögel.
Lasst uns nur vom Kino sprechen: DCPkino – Titane (2021) von Julia Ducournau: Ich mochte eigentlich nur die erste halbe Stunde, aber dass beim Screening der Leipziger Filmkunstmesse gleich zwei Zuschauer*innen abklappten, unterstrich zumindest die Macht des Kinos. // Analogkino – Splendor (1989) von Ettore Scola (Arsenal, Berlin): Etwas Angst hatte ich, berühren Kinoabgesangfilme doch eher unangenehm, hier aber: tolles Kleinstadtporträt, verdichtet im trübsinnigen Marktplatz-Rumgehänge, statt ins gegenübergelegene Splendor zu gehen; es war einmal anders (verfluchtes Fernsehen), die Geeks halten’s irgendwie am Laufen. // Heimkino – Isole di fuoco (1955) von Vittorio de Seta & Ikebana (1957) von Hiroshi Teshigahari: Zwei Dokumentarkurzfilme, der eine über die Vulkaninsel Stromboli, der andere über die japanische Kunst des Blumenarrangierens, mit den schönsten Filmfarben, die ich dieses Jahr sah. / / Heimkino – Slightly Scarlet (1956) von Allan Dwan: eine Männerwelt, randvoll mit Verbrechen und Intrigen, mittendrin schöne Frauen; also ganz Noir, aber in irreal Sirkschen Technicolor-Blumenbouquet-Bildern, hinter der Kamera John Alton (s. Anthony Manns Noirs). // Analogkino – I Remember Mama (1948) von George Stevens (Il Cinema Ritrovato, Bologna): Ein Familienmelodram, norwegische Einwanderer in San Francisco um 1900; viel Herzzerreißendes, aber auch jede Menge Sidekick- und Slapstick-Momente, die mich an Fords Kino erinnerten; unser Grüppchen hat viel gelacht, der Rest des Saals war spaßbefreit. // Heimkino – Undercover (1995) von Gregory Dark: Erste Begegnung mit Darks Erotikthriller-Kosmos, dem Lukas Foerster letztes Jahr einen tollen Text gewidmet hat; die stellenweise entrückte Atmosphäre und krasse 90er-Haftigkeit hat einige Twin-Peaks-Vibes. // Analogkino – Amazon Garden: Uniform Lesbians (1992) von Takahisa Zeze (ZHK, Berlin): Die Schule ist aus, zwei Frauen entkleiden und lieben sich im großzügig durchfensterten Klassenzimmer, in das das Tageslicht scharf einfällt und den Dielenboden glitzern lässt; mir kommt der Gedanke, dass hier gerade das altehrwürdige Zeughauskino ein stückweit unterwandert wird. // Heimkino – The Whole Shootin’ Match (1978) von Eagle Pennell: große Entdeckung für mich, in der MUBI-Videothek gemeinsam mit einem anderen sehenswerten Film Pennells abrufbar; texanisches Low-Budget-Slacker-Cinema mit größter Sensibilität für Sprache und Alltagstragik(omik), bedingungslos humanistisch. // Heimkino – Dagon (2001) von Stuart Gordon: Ein Wunderwerk aus Computerspielgraphik, nebeligen Gassen, Lovecraft-Schrulligkeiten; es bleibt die Trauer, dass der heutige Auteur-Horror in erster Linie clever sein will. // Heimkino – Corruption (1983) von Roger Watkins & A Woman’s Torment (1977) von Roberta Findlay: Zwei amerikanische Indie-Pornos, die sich nicht entscheiden möchten, ob sie nun aufreizen oder verstören wollen; während Findlays Film montagemäßig zwischen Porn- und Horrorszenerie pendelt, ist es bei Watkins ein todessehnsüchtiger Schleier, der über allem liegt. // Analogkino – Daniel, der Zauberer (2004) von Ulli Lommel (ZHK, Berlin): Über den Küblböck-Film wurde sich maßlos lustig gemacht; sicher, er sieht für einen Kinofilm erbärmlich aus, aber mal abgesehen davon ist es ein warmherziges, da gänzlich anti-exploitatives, und auf sympathische Weise umständlich erzähltes Künstlerporträt. RIP. // Heimkino – At Sea (2007) von Peter B. Hutton: Auf Hutton bin ich durch Kelly Reichardts Widmung in First Cow gestoßen; wenn Heinz Emigholz von sich sagt, er mache Hardcore-Dokumentationen, dann müsste man Huttons als Ultracore o.ä. bezeichnen, die Schönheit von Containerschiffen in stumm-statischen Einstellungen. // Heimkino – Daily Chicken (1997) von Lilly Grote: Die Mutter, Arbeiterin in einer unappetitlichen Hähnchenfabrik, verunglückt; die Zwillingstöchter schlagen sich in einem im norddeutschen Moor gelegenen Häuschen irgendwie allein durch; eigentümliche Bildfindungen, mitunter irreale Stimmung, fühle mich an Breillats Coming-of-Age-Film Une vraie jeune fille (1976) erinnert. // Analogkino – The Mission (1999) von Johnnie To (GEGENkino, Leipzig): Eine formalistische Tour de Force, rudimentärste Psychologie und Plotstruktur, alle Energie fließt in die Symphonie aus Blickwechseln, in Deckung gehenden Körpern und Mündungsfeuern; hinzu kommt der Jingle-Score, der auch Monate später noch im Ohr festsitzt. // Heimkino – Frankenstein Created Woman (1967) von Terence Fisher & Emmanuelle 4 (1984) von Francis Leroi: Mad-Scientist Frankenstein ist es gelungen, den Geist vom Körper zu extrahieren: das Hirn eines zu Unrecht Hingerichteten wird in den Leib eben jener Frau verpflanzt, die dieser vermeintlich mordete; die eigentlichen Täter erliegen später den Reizen der rachsüchtigen, ins Leben zurückkatapultierten Frau (des Manns?); im Emmanuelle-Teil ist es auch ein Geniestreich, diesmal der plastischen Chirurgie, der den Identitätsshift bewirkt; Sylvia Kristel ist nach dem Eingriff schlicht eine andere Frau, kann so ihren Verflossenen überführen: «Someday he will cheat on me ... with myself.» // Analogkino: Pillow Talk (1959) von Michael Gordon (Privatscreening): Tolle Splitscreen-Szenen, die Telefonierende innerbildlich parallelmontieren; hier sieht und hört das Kino, was sonst niemand vermag; mir kam die Idee, ihn mal mit Soi Cheangs SPL II: A Time for Consequences (2015) zu zeigen, ein anderer großer Telefonier-Film. // DCPkino – Benedetta (2021) von Paul Verhoeven: Die Summe dessen, was Verhoevens Kino für mich aufregend macht (ein Abschiedsfilm ist es wohl noch nicht); wie «bestellt» endet dieser letzte Kinofilm, den ich sehen kann, bevor pandemiebedingt die sächsischen Projektorlampen fürs restliche Jahr ausgehen, mit der Pest.
Ich will immer noch wissen, warum ich was gut finde, gelungen, ergreifend, quer durch alle Genres, was ist nur das Geheimnis? Und Daniela sagt leise lächelnd: Lebendige Figuren.
Ich spiele bei Lola mit (wo ich doch sie für meine Romanadaption als Autorin gewinnen wollte, stattdessen hat sie mich für ihren Film als Darstellerin gekriegt), ich spiele mich selbst, eine Schriftstellerin, die alles selbst machen muss und mit der Rolle, die für sie vorgesehen ist, hadert. Ich bin eine lebendige Figur, genauso wie wir alle, habe ein Haus, einen Garten und ein Landleben, bespiele eine Kulturscheune, und um 18h21 im RE3 ist dann alles wieder vorbei.
Es gilt weiterhin die Maskenpflicht.
Alle wollen vorkommen, und wenn’s dann soweit ist, ist’s aber auch wieder nicht recht. Erzählen ist so ungerecht! Was wiederum gut ist, denn die Story braucht schließlich Konflikt.
Im RE3 herrscht furchtbares Gedränge.
Ich will auch nicht die sein, als die ich erzählt werde, ich seh alt aus. Ich will lieber das blutjunge, internationale Work-Away sein, das nur zum Spaß da ist und nur zum Spaß pflanzt und erntet und kocht, und ganz bestimmt nicht, weil wer Hunger hat. Hunger hat jetzt einfach mal gar niemand mehr, alles ist Lifestyle, alle erzählen sich selbst in ihren Instagram- und Weiß-ich-noch-wo-Storys und kriegen die Soft- und Hardware sowie die Lines dafür von denen verkauft, die das Geld haben. Dann haben die noch mehr, und alle andern haben ihre Geschichten und ihre Bedeutung, alle dieselbe, und halten schön still, bis sie wissen, was als nächstes dran ist. Das geht eh nicht mehr lang alles, oder?
THE TSUGUA DIARIES In der Zeit des ersten Lockdowns sahen sich die Filmemacher*innen Maureen Fazendeiro und Miguel Gomes fast alle Filme von John Ford an. Dabei begannen Sie mit dem letzten und arbeiteten sich nach und nach zu den Frühwerken vor. Während sie zuhause festsaßen, ihre Körper auf der Couch immer träger und jeden Tag ein Stück älter wurden, wurde der Hauptdarsteller John Wayne immer jünger. So eine Rückwärtserzählung schien den beiden ein vielversprechendes Experiment, vor allem für einen Tagebuchfilm. Was entsteht dabei im Kopf? Wie erinnern wir uns an vergangene Tage, wie können wir sie festhalten? Wie verknüpfen wir Gesehenes und bringen es in eine logische Ordnung? Wie nehmen wir Zeit wahr? Große Fragen, die hier en passant mit spielerischer Leichtigkeit gestellt werden. Gemeinsam mit drei Schauspieler*innen sperrten sich Maureen und Miguel für 22 Tage in eine Villa ein und begannen im Kollektiv zu arbeiten, jeden Tag zu improvisieren. Ein paradiesischer Zustand in einer Zeit als vielen zuhause die Decke auf den Kopf fiel. So entstand ein Film, der den Menschen in Gemeinschaft, als soziales Wesen feiert, seinen Blick aber nicht abwendet, wenn im Garten die Äpfel zu faulen beginnen.
VORTEX Zärtlich, berührend, durchaus überraschend für Noé. Niemand Geringeres als Françoise Lebrun und Dario Argento spielen hier ein Paar, das mit den Mühen des Alters, ja den letzten Tagen seines Lebens ringt. Sie leidet an Demenz, er darunter kaum mehr Anteil am gesellschaftlichen Leben haben zu können. Durch die Verwendung von Split Screen können wir beiden gleichzeitig dabei zusehen, wie sie nervös durch die kleinen Zimmer ihrer mit Büchern vollgestopften Pariser Wohnung irren. Sie leben zusammen und aneinander vorbei. Nur bei einer Frage ist man sich einig: Ihre Wohnung wollen sie um keinen Preis verlassen. Ein präzise improvisiertes Kammerspiel in dem neben den beiden Schwergewichten der Filmgeschichte auch Alex Lutz in der Rolle des vernünftigen wie willensschwachen Sohnes zu überzeugen weiß.
Ein Schnitt mit der Klebepresse. Von Wolfgang Gessat (Filmeditor und Dozent an der DFFB), lernte ich das Handwerk der Montage noch am Steenbeck. Eine sinnliche Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Um ein Einzelbild rang Wolfgang mit großer Ernsthaftigkeit. Der Schnitt wurde erst gesetzt, nachdem ein langer Reflexionsprozess vorausgegangen war. „Man sollte wissen, was man tut“, sagte er immer. Auf den sogenannten Galgen wurden die aussortierten Filmstreifen aufgehängt. Filmreste, die niemand sonst zu sehen bekommt und später in dem Abfall landen. Wolfgang rauchte wie ein Schlot, auch auf den drögen, mit Neonlicht beleuchteten Gängen im Sony Center. Eine offene Filmdose diente uns beiden als Aschenbecher. Dieses Jahr starben zu viele Menschen, die mir nahe waren. Es bleibt einem die Erinnerung an gemeinsame Zeiten.
HARU HARA SAN’S RECORDER Kyoshi Sugita erforscht, wie der Verlust eines geliebten Menschen unseren Alltag schleichend verändert, aushöhlt und die Zeit zum Stillstehen bringt. Um den langen Schatten der Einsamkeit – nach dem Tod ihrer Partnerin – zu entkommen, bezieht Sachi eine neue Wohnung am Stadtrand von Tokyo. Ihre Haustür lässt sie immer offenstehen. Die Sommerbrise spendet nicht nur Kühlung, sondern auch ein Gefühl von Verbundenheit mit der Welt. In einem stillen, kontinuierlichen Fluss reihen sich scheinbar zusammenhangslos Szenen aneinander, die auch alberne Komik nicht scheuen. In langen Gesprächen verdecken die Schauspieler*innen oft einander das Gesicht. Die in sich gekehrte Sachi – verkörpert von der strahlenden Chika Araki – lässt sich von einer Verwandten mit dem Smartphone filmen, als sie ein Dorayaki verzehrt. Sie genießt die Bohnenpaste zwischen den Pfannkuchen und blickt in die Kamera. Ihr verlegenes Lächeln droht in Weinen umzukippen, löst sich aber in heiterem Lachen auf.
War da was? «Don’t blink!», warnt Regina noch. Und beinahe hätte ich den einen und einzigen Kader von Jorge Lorenzos 1/48’’ trotzdem verpasst: Klappe. Halten. Das Filmprogramm von Alles oder Nichts in der Berliner Akademie der Künste hat sich samt der spontanen Personalreunion angefühlt wie eine Reise zurück ins Cinematheken-Paradies meines 20. Jahrhunderts. 19 Filme in fünf Stunden, die Platz schaffen. Maximalminimalismus.
Was war da? Miguel Gomes und Maureen Fazendeiro stellten nicht nur den portugiesischen Lock Down auf den Kopf. Der Virus erzwingt in DIÁRIOS DE OTSOGA eine Kollektivquarantäne fürs Drehteam, das trotzdem weitermachen will. Mein analytischer Film des Jahres ist eine Rückwärtserzählung – aber nicht streng vorherbestimmt, sondern ein offenes Spiel. Die Akteur:innen sind unzufrieden, weil sie sich selbst die Szenen ausdenken müssen, die zeitlich vor der gerade abgedrehten liegen sollen. Das ist ja auch eine Herausforderung. Jedes Bild, jedes Erleben kann viele Quellen haben. Die Gegenwart ist immer überdeterminiert.
Da war etwas. Die freieste Übertragungsszene fand ich in SYCORAX von Matías Piñeiro und Lois Patiño. Die Azoreninsel, auf der ihr kurzer Film gedreht wurde, ist Schauplatz einer modernen Archäologie von The Tempest, Mutter aller ödipalen Abwehrträume. Die Hexe Sycorax führt aus dem Off die Figuren ein: Prinzessin Miranda, Herzog Antonio, der Königssohn Ferdinand. Dazu sind in dokumentarischen Bildern Menschen der Gegenwart, zufällige Passant:innen auf einem Marktplatz zu sehen. Für einen gestohlenen Augenblick verschmelzen sie mit den Figuren des Dramas, ohne es zu wissen. Sturm kommt auf. Die Gegenübertragung 2021 war unterm Strich positiv.