30. Dezember 2022
Was vom Jahr bleibt 2022
chronologisch – David Graeber & David Wengrow: The Dawn of Everything (2021) • Max Linz: L’ÉTAT ET MOI – DER STAAT UND ICH (2022; Delphi) • Alain Guiraudie: VIENS JE T’EMMÈNE (2022; Zoo Palast) • Sentiments, Signes, Passions. On Godard’s film «Le livre d'image» (HKW) • Karl Lippegaus: «Round Midnight». Eine Lange Nacht des Jazzpianisten Thelonious Monk (2017; in der Nacht vom 19. zum 20. Februar vom Deutschlandfunk wiedergesendet aus dem Küchenradio gehört) • 24.2.2022 • Claude Lévi-Strauss: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte (1964) • Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken (1963) • Emmanuelle Loyer: Lévi-Strauss. Eine Biographie (2015) • Mareike Bernien & Alex Gerbaulet: SONNE UNTER TAGE (2022; Arsenal) • Gerhard Theuring: NEUER ENGEL. WESTWÄRTS (1990; Arsenal) • Claude Lévi-Strauss: Mythologica II. Vom Honig zur Asche (1966) • Godard (3.12.1930 – 13.9.2022) • Claude Lévi-Strauss: Mythologica III: Der Ursprung der Tischsitten (1968) • Hamid Drake’s Turiya: «Honoring Alice Coltrane» (Haus der Berliner Festspiele) • Payal Kapadia: A NIGHT OF KNOWING NOTHING (2021; dffb) • Borderlands Trio: «Wandersphere» (Haus der Berliner Festspiele) • Matilda Mester: NAKSKOV 1:50 (2022; filmforum am Dellplatz) • Straub (8.1.1933 – 20.11.2022)
Antoine et Antoinette
Je regarde ce film de Becker (1947), qui m’ennuie un peu. Comédie réaliste plutôt conventionnelle et assez bavarde qui conte les émois d’un jeune couple confronté aux difficultés de la vie matérielle et à son rêve d’acquérir un jour un side-car. Un billet de loterie gagnant du gros lot vient soudain matérialiser ce rêve et bien au-delà. Mais au moment où le héros peu héroïque se présente à la caisse pour toucher son argent, le billet a disparu de son portefeuille. Je passe sur les péripéties banales et insistantes qui conduiront à travers un dédale de contretemps soigneusement orchestrés au recouvrement du fameux billet. Ma surprise a tenu alors à l’intérêt, de plus en plus vif et progressivement mélangé d’une sorte d’angoisse, qui m’a soudain saisi, au point de me rendre pénible la vision du film à laquelle pourtant rien n’aurait pu m’arracher, au gré de péripéties dont l’issue était banalement prévisible. Je ne peux dire qu’il s’agissait là d’une identification au héros, dont le sort en un sens m'importait peu. Mais d’une identification beaucoup plus pure, au temps ou à la vérité, je ne sais trop, à l’image comme réalité ou preuve d’elle-même, dont la violence m’a saisi, avec un effet quasiment somatique et douloureux. Un effet qui est soudain, la fiction rentrant dans son ordre, retombé comme un mauvais soufflé, jusqu’à me rendre insupportable l’image triomphante du jeune couple déboulant sur son side-car. Et tout çà chez moi, face à mon écran de télévision, là où l'effet du cinéma est supposé s’émousser.
Le dernier livre de Jean-Louis Comolli
Le cinéaste et écrivain Jean-Louis Comolli est mort à Paris au terme d’une «longue maladie», le 19 mai 1922. Il y a quelques jours je reçois son dernier livre, En attendant les beaux jours, publié comme tous ses livres depuis des années aux éditions Verdier, mais le premier sans dédicace. Le choc est vif, tranchant. La lecture aussitôt attirante, insupportable. Trois thèmes s’entrelacent. Le récit sans complaisance d’une vie menée au bord d'une mort programmée, adoucie par la présence d’une sœur qui veille ce héros d’une conscience vigilante. La mort universelle que ravive la guerre en Ukraine. Et la mort toujours possible du cinéma comme tel, dont Comolli aura toujours été un des plus ardents défenseurs, selon une posture quasi religieuse. Il redit là encore et encore ce que «seul le cinéma», disait Godard dans ses Histoire(s), ce que seul le cinéma accomplit, réalise. Par exemple: «Je me dis que c’est bien dans les salles de cinéma, là et guère ailleurs, que l'on peut rencontrer cette dimension éthique qui, je crois, est le moteur de la relation esthétique. [...] parce que les corps sont filmés et donc traduits comme visibles par les autres personnages et, bien sûr, par celles et ceux qui sont en place de spectateurs.» Telle est la vie du cinéma qui inlassablement se trame face à la mort qui vient, l'enveloppe comme un linceul. Jusqu'à ces derniers mots du livre: «A suivre».
Il y a une vingtaine d’années, j’ai entendu, à la librairie de l'Université Paris III, un jeune étudiant s'indigner en rendant au caissier un livre d’André Bazin qu’il avait eu l’intention d’acquérir: «je n’achète pas le livre d’un mort».
Keine Floskeln
Als Gastwissenschaftler in Israel erlebe ich die Hebräische Universität in Jerusalem täglich als einen liberalen Ort des Forschens und Lehrens. Hier studieren Palästinenser:innen und Israeli:nnen im gleichen Seminar, ukrainische Wissenschaftler:innen werden mit Stipendien unterstützt, Sprachengewirr und Vielfalt prägen den Alltag. Aus israelischer Perspektive ist aber der Rechtsruck der sich neu konstituierenden Regierung nach der Parlamentswahl im November 2022 gefühlt einschneidender als der russische Aggressionskrieg in der Ukraine. Israel hat seine eigene Zeitenwende – als Abkehrmodell von der Demokratie zur Ochlokratie, der Herrschaft durch eine korrupte Elite, die ohne Rücksicht auf Verluste egoistische Interessen durchsetzt (seit 2016 ist Israel im Korruptionsindex stetig gefallen). Zwar konnte auch vorher schon nicht von merkbaren Friedensbemühungen die Rede sein, doch nun sind sie vollends versperrt durch die Fortsetzung und Verstärkung des Siedlungsbaus, der Aufhebung der Gewaltenteilung durch Untergrabung der Justiz, Intrigen, Rassismen, einem obszönen Zynismus, Ethnozentrismus und religiösem Fanatismus, und einer daraus resultierenden gewaltsamen Niederschlagung von Minderheiten. In persönlichen Gesprächen mit liberalen Israelis beobachte ich blanke Wut, Ohnmacht, Verdrängung oder die Erwägung, das Land zu verlassen. Einfacher wird es auch dadurch nicht, dass bisher weder von der EU noch den USA ein nennenswerter Widerstand gegen diese Abkehr zu beobachten ist. Ein Effekt, der u.a. darauf zurückzuführen ist, dass der drohende Antisemitismusvorwurf von den Rechten derart erfolgreich als Waffe gegen jegliche Israelkritik eingesetzt wird – erst recht, wenn sie von Deutschen kommt –, dass sich selbst eine wertebasierte Außenpolitik weitestgehend entwaffnet sieht. Wo aber geht der Weg hin, wenn man nicht bei der Floskeln stehen bleiben kann im Angesicht etwa eines zusehends orthodoxen Einflusses auf Erziehung und Bildung, auf Frauenrechte und Geschlechteridentitäten?
Kodak-Super8-Filme für 57.- und 87.- € im Fotogeschäft in der Westbahnstrasse in Wien. (*) Hollis Frampton übersetzen mit Sissi Tax (*) Carlo Ginzburg im HKW im Dezember. (*)
Die Demonstration am 22. Oktober. Mit Anne Tilkorn. Ein strahlender Tag. Der Lautsprechersermon am Potsdamer Platz der etwa elf QuerdenkerImpfgegner und Fellmützenträgerinnen mit russischer Flagge versandet auf dem Weg in den Tiergarten im Klang von den 100 000 Iranerinnen und Iranern aus ganz Europa. Die Straße des 17. Juni in Richtung Ernst-Reuter-Platz ist vollgeparkt mit Bussen, mit denen die Leute anreisten. Im Tiergarten Gruppen, die sich ausruhen und essen und unterhalten. (*)
SCHWARZE SÜNDE von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub im dffb-Kino. Zum 1-monatigen Todestag von Jean-Marie Straub. Mit Michael Baute und Bärbel Freund, die sich fragmentarisch an das Seminar für die Erstellung der «dffb-Schnittfassung» erinnert. Wie der Ton auf 35mm-Perfo montiert wurde, nicht schräg sondern gerade geschnitten. Eine Studentin spricht über die Stimmen und die Körper. Sie hatte noch nie vorher Filme von Huillet-Straub gesehen. Und es ist wie früher an der dffb in den 1980er und 1990er Jahren: sehr viel mehr Außenstehende als dffb-Studierende. (*)
Der Film DYING (1976) von Michael Roemer, der im Januar 2023 zu sehen sein wird. Drei etwa 20-minütige Porträts von Sterbenden. Der alltägliche Umgang damit. Die Zooms. Die Überforderung der Angehörigen, deren Verstörtheit. Der tiefe Ernst in den Blicken der Kinder. Der Kontrollverlust. Michael Roemers Blick auf Haltungen, auf Körper. Der von Krankheit gezeichnete schwarze Reverend: die Kamera, die mit ihm tanzt, wie er sich schon so entkräftet predigend mit der Gemeinde einen kraftvollen Raum erkämpft. (*)
Untersuchungsausschuss zum Neukölln-Komplex im Berliner Abgeordnetenhaus, wegen Pandemieschutz per Videostream. 10 Luftreiniger im Sitzungssaal, etwa 20 Zuschauer_innen/Journalist_innen. 10 Jahre lang – von 2011 bis 2021 – wurde die Zeugin in der Hufeisensiedlung von Neonazis terrorisiert, weil sie sich gegen NPD-Werbung im Briefkasten verwehrt hatte. Sie wird nun in zwei Runden von allen Abgeordneten befragt, den Fragenkatalog hat sie vorher geschickt bekommen. Erst langsam gewinnt sie an Sicherheit. Ungeklärt bleibt vieles. Warum hatte man ihr vorgemacht, sie werde durch eine Kamera am Haus gegenüber geschützt, die aber nicht funktionierte? Und wieder mal: ein vermutlicher V-Mann und ein LKA-Beamter, der «kein unbeschriebenes Blatt» ist. (*)
Sarah Maldorors Filme zeigen mit der Kinothek Asta Nielsen + Kolleg_innen im Filmmuseum Frankfurt im Juni. Und vielleicht 2023 dann auch in Berlin. Im Foyer des Filmmuseums Olivier Hadouchi’s Interview mit Maldoror 2013. Die Programmflyer bei Albdruck von Anne Fina in Kreuzberg offset-gedruckt mit dem leichten Silberton in der Druckfarbe. Zu Gast ist Maldorors Tochter Annouchka de Andrade, großzügig und strahlend. Später erzählt sie, dass die Gemälde aus René Vautiers für die zimbabwische Befreiungsbewegung ZAPU produziertem Kurzfilm LE GLAS (1964) bei ihr zu Hause an der Wand hängen. Jahrelang hatte ich nach diesen Bildern gesucht, und dachte sie seien vom südafrikanischen Maler Gerard Sekoto (1913-1993). (*)
Die Beerdigung der Kamerafrau Julia Kunert in der Nähe von Templin. Unser Gespräch im November 2020 zu ihrer Filmarbeit wieder gelesen. Sie erzählt von ihrem ersten Film im Alter von 11 Jahren im Pionierfilmstudio Leipzig: «...irgendwann kamen größere, ältere Schüler in meine Grundschulklasse und sagten: wir sind hier vom Pionierfilmstudio Leipzig und wir suchen dringend Nachwuchs und wer Interesse hat, der kommt doch mal bitte ins Pionierhaus zum Filmstudio.» (*)
Das Programm mit Borjana Gaković Materiality of Memories, Filme hauptsächlich Filme aus Borjanas Sammlung, meist von Filmemacherinnen, viele autobiografisch, die von den Jugoslawien-Kriegen erzählen. Darunter auch ein Exkurs: GORKE TRAVE / DIE LETZTE ZEUGIN / BITTERE Kräuter nach dem Drehbuch von Frida Filipović, Regie Živorad Mitrović, eine jugoslawische Co-produktion mit der CCC/Arthur Brauner von 1966. Irene Papas als Shoah-Überlebende, gezeichnet als Diva. Ihre Zeugenaussage ist dringend erforderlich um einem davon gekommenen Täter, Karrieristen und Kunstsammler im Nachkriegsdeutschland den Prozess zu machen. Der Staatsanwalt aus der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung der NS-Verbrechen wirkt windig, erpresserisch. Die Zeugin zweifelt dem Prozess gewachsen zu sein. Umso mehr als sie von Handlangern des Täters massiv terrorisiert wird. Ein Film, der für mich vieles neu tariert. – Unser Filmprogramm beginnt genau am 24. Februar. Viele junge Leute im Sinema Transtopia, die der unerzählten (Post-) Jugoslawien-Geschichte, der Kriegserfahrung ihrer Eltern auf der Spur sind. (*)
Manchmal sind Kulturprodukte so zeitgenössisch, dass sie vielleicht morgen nicht einmal mehr verstanden werden könnten, und gestern erst recht nicht. GLASS ONION ist so ein Fall; die Phrasen der Techbros und Influencer:innen in Rian Johnsons Film sind zwar ohnehin inhaltlich bedeutungslos, aber wir müssen sie zumindest in dieser Bedeutungslosigkeit wiedererkennen können. Wenn zu den Ideen des angeblich genialen Unternehmer Miles Bron die Pseudogleichung «Child = NFT» gehört, wissen wir ebenso wie die Filmfiguren, dass das Bullshit ist, aber eben Bullshit, mit dem solche Schaumschläger von heute auf morgen Milliarden machen (und übermorgen wieder verlieren).
Doch dann hat gerade diese Situation, diese Pathologie des Spätkapitalismus sehr konkrete Bedeutung. Der angeblich geniale Unternehmer Elon Musk zerstört gerade mutwillig oder in kleinkindlichem Spieltrieb Twitter, die Plattform, die relevante Ereignisse wie #BLM vorantrieb – dennoch ist das Zeitalter der sozialen Medien bislang nur ein kurzer Moment in der langen Geschichte sozialer Bewegungen, und wir lassen uns vielleicht hier wieder von Marketingsprech verführen; als könnte es ohne Twitter mit seinen gerade mal 230 Millionen aktiven Nutzer:innen keine Politik mehr geben.
Insgesamt war 2022 für mich das Jahr, in dem Repräsentationsansprüche in Kunst & Kultur besonders instabil erschienen (die Documenta lasse ich hier gleich weg, bin nicht hingefahren, obwohl und gerade weil ich in Kassel ein paar der besten Jahre verlebt habe). Progressive Menschen feiern, dass von Großkonzernen hergestellte Serien wie ANDOR und THE BOYS progressive Inhalte vermitteln; darüber könnten wir uns lustig machen, aber dann stehen vor Disney World rechtsradikale Wirrköpfe und protestieren gegen irgendetwas, was sie als wahlweise linke und/oder satanistische Indoktrination durch besagten Großkonzern ansehen. Die meinen das ernst! Sollten wir also auch ernst nehmen, was uns in den dazugehörigen Franchises als revolutionärer Content geboten wird? ANDOR habe ich dann doch (noch) nicht angeschaut, ebenso wenig wie die neuen Drachen- und Ringprodukte – es ist einfach zu viel, die Universen so aufgebläht, dass sie geradewegs einen parallelen Alltag zu unserem zu bieten scheinen. Und schon drängt sich die olle kulturkritische Annahme auf, dass uns der freizeitfüllende revolutionäre Premium Content am Bildschirm vom revolutionären Handeln abhalten soll, aber leider scheint Tomatensuppe auf Kunst zu kippen bislang auch nicht so zielführend.
Es fällt mir schwer auf dieses düstere Jahr zurückzublicken.
Den Filmen von Albert Serra stand ich immer mit einem gewissen distanziertem Interesse gegenüber. Sein neuster Film Pacifiction traf mich in seiner Wucht entsprechend unvorbereitet. Große Begeisterung. Unrueh von Cyril Schäublin über die jurassische Uhrenindustrie und deren anarchistischen Macher:innen im 19. Jahrhundert. Das Klicken der Uhren und das Sprachengewirr ergaben einen Klangteppich, der mich über Monate hinweg begleitete. Weitere Highlights: Crimes of the Future (David Cronenberg), Trenque Lauquen (Laura Citarella), Kimi (Steven Soderbergh), Viens je t’emmène (Alain Guiraudie), Aftersun (Charlotte Wells), Jean-Luc Godard wie er am Ende von À vendredi, Robinson (Mitra Farahani) verlegen in die Kamera blickt, die Filme von Frederick Wiseman noch einmal als 16mm Kopien zu sehen. Zwei besonders schöne Wiederentdeckungen: Vengeance is mine (Michael Roemer, 1984) und Eight Deadly Shots (Mikko Niskanen, 1972).
2022 habe ich viel gesehen, aber vermutlich noch viel mehr gelesen: z.B. TEN SKIES (Erika Balsom), Sea of Tranquility (Emily St. John Mandel), den Hainish-Zyklus (Ursula K. Le Guin), The Method (Isaac Butler), Nacht und Nebel & Nuremburg von Sylvie Lindeperg.
Verstreute Momente: der Freitod von Jean-Luc Godard // Saults 11 // Beyoncés Renaissance // übers Kino reden in Mannheim & Heidelberg // trotz aller Kritik und teils schwer erträglicher Momente: das Finale der Fussball-WM war schon ziemlich spektakulär // Paris im Frühling // Venedig im Herbst.
Nach und neben Pandemie und Klimakrise jetzt auch wieder offener Faschismus und Imperialismus, Krieg und Flucht ganz in der Nähe – die deprimierend provinzielle, ach so deutsche Arroganz so vieler vermeintlich kritischer Intellektueller hierzulande, die ihre imaginäre Realpolitik über die Köpfe aller Linken und Feminist*innen östlich der Oder hinweg formulieren; dagegen das Gespräch mit Greg Yudin (der Russland schon bald, wie so viele, verlassen musste) schon am 4. Tag des russischen Angriffskriegs, die erschütternden und horizonterweiternden Interventionen aus der Ukraine, etwa von Irina Zherebkina, aber auch die reflektierten Beiträge von Balibar, Butler und vielen anderen.
Im April zu Gast am CCCB in Barcelona für ein Symposium zu Widerstand und Solidarität mit Sprecher*innen aus der Ukraine, Brasilien, dem Kongo, der Türkei … dort auch eine Ausstellung zum katalanischen Psychiater Francesc Tosquelles, mit unbekannten Fotografien von Frantz Fanon, der eine Zeitlang in dessen experimenteller Klinik Saint-Alban arbeitete. Resignation und Hoffnung auf den langen Atem von Widerstand und Solidarität.
Ende August zu Besuch bei Freunden in Athen, dann im Golf von Nafplio. Oben auf der Akropolis werden wir von einem starken Unwetter überrascht, L und A flüchten in die Restaurationswerkstatt, in der neben antiken Marmorteilen Tee gereicht wird.
Venedig, Anfang Oktober, neben vielem mehr: zwei Perspektiven auf das Verhältnis des europäischen Staates zu seinen Minderheiten: subalterne Sozialität der Roma im Polnischen, repressive Staatsgewalt im Sámi Pavillon. Mit A im Anschluss Eis und Strand am Lido.
Im Dezember die von Forensic Architecture, der Initiative 19. Februar Hanau und der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh gemeinsam verantwortete Gegenuntersuchung in der Ausstellung Three Doors im Berliner HKW zu Staatsrassismus und Staatsversagen.
Ansonsten: Shehan Karunatilaka: The Seven Moons of Maali Almeida; Andrea Abreu: Dogs of Summer; Kim Stanley Robinson: The Ministry for the Future; Joseph Andras: Kanaky und Au loin le ciel du Sud; Aleksandar Hemon: My Parents: An Introduction / This Does Not Belong to You; Yevgenia Belorusets: Lucky Breaks. // Nope (Jordan Peele); Decision to Leave (Park Chan-wook, auf dessen HBO-Serie zu Viet Thanh Nguyen Sympathizer man besonders gespannt sein darf); Everything Everywhere All at Once (Daniel Kwan & Daniel Scheinert); Aşk, Mark ve Ölüm (Cem Kaya); The Bear (Christopher Storer, Hulu); Dark Winds (Graham Roland, AMC); Beyond Evil (Sim Na-Yeon, JTBC/Netflix); On the Job (Erik Matti, HBO Asia). // Songs of Gastarbeiter Vol. 2; und immer wieder Köfte.
Unter dem Eindruck des Krieges gegen die Ukraine habe ich im Februar Tamara Trampes erschütternden Film Weiße Raben über Putins Krieg gegen Tschetschenien gesehen, der nochmals unterstreicht, dass Putin entgegen besseren Wissens im Westen nicht als das gesehen wurde, was er immer schon war. Auch anlässlich des Krieges mit reichlicher Verspätung gelesen: Natascha Wodins 2016 erschienenes Buch Sie kam aus Mariupol. Neu war mir nicht nur das, was man über ukrainische Geschichte erfährt, sondern auch meine eigenen Wissens- und Erinnerungslücken über das Schicksal von Zwangsarbeiter:innen in und nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine Zeitlang las ich fast zwanghaft die verlogenen Texte von deutschen und amerikanischen Linken, die mit argumentativer Akrobatik versuchten, sich ihre Ablehnung militärischer Unterstützung der Ukraine schön zu reden. Wobei «argumentativ» schon zu freundlich ist: «Bellizismus» wurde regelmäßig unterstellt, nie aber definiert; die Texte im Grunde ein einziges Ausweichmanöver, um die Folgen der verweigerten Unterstützung nicht ausbuchstabieren zu müssen. Dankbar war und bin ich für dem ukrainischen Historiker Taras Bilous, der selbst als Soldat im Krieg nicht müde wird, in westlichen Medien für die Gerechtigkeit der ukrainischen Sache zu argumentieren.
Abgesehen vom Krieg hat mich dieses Jahr wenig so wütend zurückgelassen wie Marie von Kucks brillante Reportage Ihre Angst spielt hier keine Rolle über deutsche Familiengerichte, die Mütter und Kinder leichtfertig der Gewalt des Vaters und Ex-Partners aussetzen. Was außerdem bleibt: Amia Srinivasans The Right to Sex und der Podcast Who the f*** is Alice von Susan Djahangard und Gabi Herpell über das Phänomen Alice Schwarzer.
Wie die Zeit ihre Richtung ändert. Auf der Berlinale läuft mit Call Jane ein Film über die illegale Abtreibungspraxis vor Roe v Wade, der vier Monate später nicht mehr historisch ist. Nach dem 24. Februar erst verstanden, was Tamara Trampes Weiße Raben von 2005 alles gewusst hat, dass der Film nicht nur nach dem Tschetschenien-Krieg, sondern vor dem Georgien-Krieg ist.
Der System Söring-Podcast, in dem der Hoax auseinandergenommen wird in einer Präzision, dass man wegen einzelner Wörter zurückskippt. Was das – wie auch die Arbeit vom «Texan Blogger» Andrew Hammel – für ein guter Journalismus ist, und wie sehr es den braucht, weil gleichzeitig die Lügengeschichte vom Mörder, der doch gar nicht so aussieht, weil seine Kindheit am Genfer See stattfand, und «Genfer See» etwas ist, das Markus Lanz nur bewundern kann, ein Superbeispiel ist für ein Mal Glaubenwollen mit alles (Klassismus, Frauenverachtung, Rassismus).
Wiener Freibäder oder wo die Sozialdemokratie ihre größten Erfolge feiert.
Weil dieses Jahr so viel persönliche wie auch gemeinschaftliche Dramatik, Verluste und Trauer mit sich brachte, die fast alles überlagerten und zugleich in keinen Rückblick passen, bleiben mir vom Kinojahr 2022 vor allem ein Höhepunkt und etwas in Richtung Gegenteil im Gedächtnis. Lieber umgekehrt – von kurzer Nerverei im Herbst (mit längerer Diskussion direkt danach) zum mehrstündigen Glück im Frühling, das bis zum Ende des Jahres nachwirkte.
Der Ärger mit TRIANGEL OF SADNESS begann spätestens (dann aber richtig) auf der Insel der Gestrandeten. Nachdem das Kreuzfahrtschiff der Reichen in astrein logischer Konsequenz seiner überfrachteten Symbolik sinken muss, ordnen sich hier jene, die bislang das Geld und das Befehlen gewohnt sind, nun dem Diktat einer ehemaligen Putzfrau (Toiletten) unter. Alle fügen sich der selbsternannten Chefin, will der Plot, weil sie als einzige Nahrung besorgen und zubereiten kann. Was hier als Umkehrung der Verhältnisse und Kritik am System antritt (und jedenfalls so gefeiert wurde), ist aber dummerweise das genaue Gegenteil, weil auf Frustration Island das Gesetz des Marktes schlicht verteidigt und der Spieß weniger umgedreht als neu geschmiedet wird. Was die neue Gewinnerin zu bieten hat, ist am meisten nachgefragt, hat den höchsten Wert und führt darum – natürlich – zum Aufstieg. Adam Smiths unsichtbare Hand hat sie auf den Thron gehoben. Als ob nicht wie üblich Gewalt (sieben gegen eine) dafür sorgt, dass Unterprivilegierte bleiben, was/wo sie sind; als ob tatsächlich alle hier eine Chance hätten, der Wettbewerb existentiell fair und allein die Qualität der Ware entscheiden würde, wer zu sagen und wer zu gehorchen, wer zu essen und wer zu hungern hat. Diese Feier des freien Marktes verdrängt jeden Zweifel und jeden vermeintlichen Realitätsbezug. Der Markt hat's gegeben, der Markt hat’s genommen – in jedem Fall geregelt.
Das Glück kam und blieb mit WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN?, in dem so viel zusammenkommen kann, weil der Film sich dafür Zeit nimmt und Zeit gibt. Was oft gesagt wird, dass ein Ort selbst zur Hauptfigur wird, stimmt hier auf eine Weise, die alles außer Kraft setzt, was kein Kino ist. Die mehr als menschlichen Akteure, die – ob nun als Pflanzen, Tiere, Straßen, Plätze oder Kameras – unsere Welt mit uns bilden, melden sich gleich mal am Anfang zu Wort, um fortan als (nicht immer ganz) stumme Mitwesen zu erleben und zu gestalten, wie Identitäten hier wechseln, einander streifen und sich finden. Überall Fenster und andere Raumweitung, there’s a crack in everything that's how the light gets in. So fließt der Fluss durch die Stadt Kutaissi irgendwie auch durch Wohnungen und Häuser hindurch, lenkt alle(s) immer wieder zu dem Café, in dem die Liebesgeschichte, die WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN? auch ist, langsame Fahrt aufnehmen kann. Neben beifällig absurdemHumor gibt es dann auch noch – genau in der Mitte seiner 150 Minuten, weil das zentral ist – die schönsten Fußballszenen, die ich seit ewig im Kino gesehen habe.
Wie dabei der Titel des Films seine Antwort findet, blieb dann außerdem noch der tollste Kontrast und Kommentar zur WM 2022, an der so irre viel (auch der Debatte um sie) falsch gewesen ist.
Das Jahr 2022. Alphabetisch geordnet. Doch wieder unvollständig.
A wie Aarau Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau... Eine Geschichte der Künstlerinnen. Kuratiert von Elisabeth Bronfen, die mit ihrem Blick für Konzeptionen sexueller Differenz, für die Subversion des Pops, und einem Auge für Witz und Poetisches die Sammlung des Kunsthaus Aarau geplündert hat (ergänzt um Leihgaben). Sowieso schön Marianne Müller, Doris Stauffer, Louise Bourgeois, Heidi Bucher, Muda Mathis, Meret Oppenheim etc. nebeneinander zu sehen.
A wie Azor Im grandiosen Politthriller von Andreas Fontana von 2021 über Schweizer Banker während der Militärdiktatur wird viel geflüstert. Noch nie hat man einen so präzisen und beklemmenden Film über Schweizer Finanzgeschäfte mit Militärdiktaturen gesehen.
B wie Bettenhausen Ja, ich war an der Documenta fifteen. Ja, ich fand sie sehenswert. Ja, ich hab darüber getwittert. Und ja, niemand hat sich getraut zu liken. Besonders angetan war ich von der Ghetto Documenta von der Atis Rezistans aus Port-au-Prince in Bettenhausen.
D wie Dissensus Gleich zu Beginn meiner Gastprofessur an der TAU hat mich die Ausstellung Dissensus im Tel Aviv Museum of Art mitten in die Landkonflikte in Israel geführt. Es gab auch einen lesenswerten Katalog in hebräisch, arabisch und englisch. An den Auseinandersetzungen um Eigentumsrechte lässt sich sowieso immer der Zustand einer Gesellschaft ablesen.
D wie Drii Winter Der Schweizer Beitrag an der Berlinale von Michael Koch. Mit Laien an den stotzigen Hängen in Isenthal gedreht.
E wie Ernen Nach Neujahr ein paar Tage in Ernen. Morgens Brot aus der besten Bäckerei im Tal im St. Georgenhaus (dem mit dem Drachentöter auf der Fassade). Nachmittags Spaziergänge ins eiskalte Binntal. Leider wurde Suzanne dann Königin am Dreikönigstag.
F wie Franju Hannah hat mich am 21. Februar zu den frühen Dokfilmen von Georges Franju im Filmpodium in Zürich mitgeschleppt. Le sang de bêtes von 1949 zeigt das grausame Töten der Tiere im Schlachthof. Hotel des Invalides von 1951 das nicht minder grausame Töten auf den Schlachtfeldern. Dass dann der Krieg drei Tage später plötzlich wieder so nah kommen würde, ahnten wir noch nicht.
G wie Gurlitt Gurlitt. Eine Bilanz, im Kunstmuseum Bern. Die Sammlung Bührle dürfe nicht «zu einer Gedenkstätte für NS-Verfolgung» werden, hatte Lukas Gloor (Direktor der Stiftung Sammlung E.G. Bührle) verlauten lassen. Das Kunstmuseum Bern zeigt, dass mit einer Ausstellung, welche die Zusammenhänge von NS-Politik, Kunsthändlern, Künstlern, Kunstmuseen bis in die Gegenwart offenlegt, gleichzeitig eine Neuentdeckung von Kunstwerken und eine Wiederbetrachtung von Geschichte möglich ist. Besonders beklemmend für mich das Foto von Bundesrat Etter an der Vernissage der Ausstellung «Deutsche Kunst – Meisterwerke des 20. Jahrhunderts» im Kunstmuseum Luzern im Jahr 1953. Die 25 Jahre zuvor vom NS-Regime noch als entartet bezeichnete, geraubte und ins Ausland verscherbelte Kunst wurde nun kommentarlos wieder in den Museumsbetrieb eingeschleust. Gurlitt lieferte 23 Exponate. Auch das Kunstmuseum Luzern hätte also noch ein paar Hausaufgaben zu erledigen.
H wie Haaretz Anlässlich meines Israelaufenthaltes habe ich die englische Ausgabe der Haaretz abonniert. Die altehrwürdige Zeitung in Familienbesitz ist für einige Israel:innen blosse Nestbeschmutzung. Mich hat sie zuverlässig durch das katastrophale Jahr 2022 in Israel geführt und ganz allgemein den Nahen Osten etwas mehr in meinen Aufmerksamkeitshorizont gerückt. Ich habe das Abo nochmals um ein Jahr verlängert.
K wie Kornelkirschen Im Garten der ehemaligen Textilfabrikantenvilla Streiff in Aathal haben wir im August Kornelkirschen vom Baum geschüttelt. Das Schütteln dauert ein paar Minuten. Das Verarbeiten Tage und Wochen.
L wie Lavin Rebekka Kern hat das neue Cinema Staziun kompakt mit gut riechendem Arvenholz in die alte Staziun hineingebaut. An einem Sommerabend habe ich da Captains of Zaatari von Ali El Arabi (Ägypten 2021) gesehen. Fussball im Flüchtlingslager in Jordanien trifft auf Konzernfussballwelt in Katar.
P wie Phia Ménard La Trilogie des Contes Immoraux (pour Europe) von Phia Ménard & Cie. am Theaterspektakel. Physisches Extremtheater, das auch der Zuschauerin was abverlangt. Immerhin muss frau mehr als drei Stunden sitzen. Entsprechend gab es Abgänge. Aber mich hat’s immer mehr hineingezogen. Und das Grauen wuchs mit dem Bau des gigantischen Turms durch die Akrobatik-Arbeiter:innen. Im dritten Teil kommt Phia Ménard mit dem Hochdruckfarbtank. Und dann war Schluss.
S wie Stahlberger Die Plattentaufe von Lüt uf Fotene im Palace in St. Gallen vom besten Dichter St. Gallens. Die Musik luftig & sphärisch entführt aus dieser Stadt, die etwas eingezwängt ist zwischen den Hügeln.
S wie Sternen Meine Eltern hatten 1965 im Sternen in Walchwil geheiratet. Ich hab’s geschafft sie an einem Sonntag mit dem Taxi nochmals dahin zu entführen. Inzwischen kocht Noémi Bernhard zusammen mit ihrem Papa hervorragend in diesem schönen alten Haus. Ich werde 2023 wieder kommen. Für meine Eltern war’s vielleicht das letzte Mal.
T wie Tantura Tantura von Alon Schwarz rollt nochmals die juristischen und geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzungen um die Masterarbeitet von Teddy Katz in den 1990er Jahren auf, der (hauptsächlich auf Basis von Oral History-Interviews) argumentiert hatte, dass es im arabischen Dorf Tantura 1948 ein durch die Alexandroni Brigade verübtes Massaker an Arabern gegeben hätte. Der israelische Dokumentarfilm hat die geschichtspolitischen Diskussionen der 1990er Jahre wieder neu entfacht.
T wie Tel Aviv Tel Aviv ist durch die New Economy explodiert (in die Höhe und in die Breite) seit ich das letzte Mal vor mehr als zwei Jahrzehnten in der Stadt war. Ich hab gut gegessen. Beispielsweise persisch im Salimi an der Nahalat Binyamin St 80. Fisch im Abie an der Lincoln 16. Irakisch im Azura an der Mikve Israel St 1. Die jemenitische Sabbatspeise Jachnun.
U wie Unrueh Unrueh von Cyril Schäublin an der Berlinale bei den Encounters gesehen. Precieux. Präzise. Ein Bijous.
W wie White City White City, Black City. Architecture and War in Tel Aviv and Jaffa von Sharon Rotbard (2015 in London erschienen) demontiert den von Deutschen, Schweizer:innen und Israel:innen gemeinsam betriebenen Bauhaus-Kult.
Kurz vor Jahresschluss 2022 lupft KI am kulturtechnischen Teppich und treibt dem schriftformlegitimierten Zertifikatspersonal Schweiss auf die Stirn. Wenn Computer öffentlich Texte produzieren können, die professionellen Verwaltern von Akten und Registern ihre mühsam etablierten Unterscheidungskräfte madig machen, dann vibriert es in den Institutionsgefügen moderner Gesellschaften. Durch die Schrift muss in jenen jeder Mensch: Schule, vielleicht gar Universität. Am Ende dieser Strecken stehen Zertifikate, die den Lebenslauf und Ressourcenzugänge erheblich beeinflussen. Chat-GPT bietet Abkürzungen, die jede Menge Kafka vermeiden versprechen, obwohl die Alman-Kulturpessimismusindustrie das natürlich genau andersherum sehen muss und erwartbare Texte generiert.
Am oberen Ende der Skala, da, wo Männer Politik machen und mithin kollektiv verbindliche Entscheidungen organisieren möchten, stiefeln Gewalt und Schrifttum stramm einher. Heinrich und Vladimir, Reuß und Putin unterhalten mit unterschiedlichem Erfolg Reichsideen, die auf sehr viel Text fußen und für die sehr viel Texte mobilisiert werden. Schriftsatte Reichsunmittelbarkeiten deren Auftritte an der derzeitigen Epochenschwelle, in der die Verhältnisse von Oralität und Literalität zwischen YouTube-Vorlesungen, Natural Language Processing und Historienmyopsien neu formiert werden, leider nicht nur das bizarre Exegetentum älterer Herrschaften ist. Vielmehr sind die Neoreaktionären ob im Westen oder im Osten viel weiter in der Adaption von digital mobilisierten Textlegitimationen zur Narrativierung alternativer Ordnungskonzepte, als die zahnlose Kulturkritik an den anderen politischen Polen. Diesen mediatisierten Ständen fällt weiterhin aber auch nix anderes ein, als die Rechte für dümmer zu halten, als sie ist. Trump war dann doch in der Tat einigermaßen dumm und wird pünktlich zum US-amerikanischen Präsidentschaftswahlauftakt 2023 vor Gerichten zetern. Andere sind da vielleicht klüger und Figuren wie Kari Lake und Ron DeSantis zeigen, wo es hingehen könnte.
Benevolente vs. maligne Imperienoptionen halten derweil das geopolitische Imaginationskarusell in Schwung: ich will Teil eines Imperiums sein. So auch TOP GUN MAVERICK, dass 2022 wohl erfolgreichste Stück Nostalgiextraktivismus, das dem nicht nur durch COVID entleibten Kino kurz ein Paar Körper lieh. Es wurde an die guten alten Zeiten erinnert, als Harold Faltenmeyer Yamaha Synthesizerplastik heroisch klingen ließ, aber das Heeresgerät vermeidlich noch dem Menschen und nicht Computern gehorchte. Piloten als imperiale Mechaniker zu zeigen, die an Hebeln ziehen und Wirkungen erzielen, hält Männer diesseits der von der Kriegmaschine ständig verschobenen Obsoletheitsschwelle.
ANDOR, das aktuelle Stück STAR WARS IP, verhandelte ähnliche Themen und stellt einerseits den für dieses Universum seltsamen und unterhaltsamen Gegensatz zwischen fordistischer Digitalstagnation und Space-Travel scharf, um andererseits vor dieser Kulisse die Profanität maligner Imperienbildung aufzuführen.
Solche Fragehorizonte haben ANDOR von der Kritik geliebt gemacht und mit reichlich Textoutput gesegnet. Beim Publikum ist das dann eher gefloppt. Vielleicht genau das, was diese IP brauchte, um sich auf den Relevanzmärkten viabel zu halten. Denn eigentlich ist STAR WARS mit Disney als IP-Eigner Synapsennutella für das Bildschirmbutterbrot von jung und alt. Immer Süss und Fett, ob mit Boba und Butter drunter oder ohne. Im Herzen von ANDOR lebt auch WALL-E weiter, auch wenn das mit dem Aufräumen eine ambivalente Sache ist.
Es wird wohl auch nicht das letzte Wort TOP GUN IP gewesen sein. Etablierte Intellectual Properties sind die einzigen Umsatzgaranten, bei neuen IPs bleiben die Körper weg. Wo die eigentlich sind, zeigt ein Blick auf die Infrastrukturen, für die nicht nur in Deutschland 2022 wahrscheinlich die ganze Kulminationsepik neoliberaler Dysfunktionalität hergab: Schlange stehen bei Post (DHL), Bahn (DB) und vor dem Krankenhaus. #MedizinBrennt heißt der Hashtag auf Twitter und während bei den ersten beiden die Körper entweder nur vor sogenannten Filialen oder auf Bahnsteigen verschimmeln, ist letzteres tatsächlich dramatisch und es sterben Menschen und Kinder in Deutschland an trivialen und behandelbaren Problemen.
Politisch scheint das niemanden des so ernsthaft zu beunruhigen, oder ist von Scholz und Co dazu etwas verlautet wurden? Zum Sadopopulismus, den Timothy Snyder als einen Kern gegenwärtiger reaktionärer Politiken ausgemacht hat, müsste wohl auch die Kulturation eines Deregulationsmasochismus gesellen, der das psychosoziale Erbe und die eigentliche politische Leistung des Dritten Wegs abgegeben hat. Vom Gürtel enger schnallen lässt sich politisch lange zehren und was Rot war, wird am Ende Schwarz und Grün.
Gerhard muss den Gürtel nicht enger schnallen und damit wir das auch nicht vergessen, gibt es Instagram.
Über die Rückkehr der Bombe als letztes Mittel gegen den totgeglaubten Westen wäre gesondert zu sprechen. Darauf wird die Contentindustrie wahrscheinlich 2023 reagieren und den einen oder anderen Serien- und Filmversuch lancieren. Andere IP-Inhaber haben da vielleicht andere Pläne: ein Atomtest nach mehr als 25 Jahren CTBT Moratorium um den Jahrestag des Kriegsbeginns ist nicht ausgeschlossen. Doomtrollen kann nicht jeder. Doomscrollen müssen dann alle – und hoffen wir mal, dass Gaya dieser Schluckauf erspart bleibt.
Gemütshaufen. Viel Deprimiertes, wenig Zuversichtliches.
Back to Sender In den ersten Januartagen: eine Freundin und Kollegin, von der ich glaubte, dass ich ihr mit dem Geschenk des Buchs Das Kuratorische von Beatrice von Bismarck (Spector Books 2021) eine Freude machen würde, expediert mir das Buch empört zurück und lehnt das Weihnachtsgeschenk «in aller Form» ab. Sie weigert sich, nach zehn Seiten auch nur eine weitere Zeile davon zu lesen und will das Machwerk auf keinen Fall noch länger im Haus haben. Übertreibt sie nicht ein bisschen? Leider nein! Ein paar Stellen hier zum Beleg und ich gestehe die Anstrengung, sie getreu, so wie sie da stehen, also ohne stillschweigendes Korrigieren von schrägen Sinn- und Grammatikbezügen einfach zu protokollieren. Keine Ahnung, warum ich diesen schwer verdaulichen und permanent überschäumenden Jargon beim Reinblättern vor dem Kauf habe übersehen können: (1) «Phänomene wie die Globalisierung, die Beschleunigung des Ausstellungsbetriebs und der Ausbau des Museumswesens gehen Hand in Hand mit einem breiten Spektrum selbstreflexiver Ansätzen im Umgang mit Ausstellungen, mit der Position der Kuratorin/des Kurators und mit dem Präsentieren von Kunst und Kultur.» (2) «Mit dem Fokus auf Kuratorialität nimmt das folgende Argument einen Perspektivwechsel innerhalb des aktuellen Diskurses vor…» (3) «Unter der Perspektive der Kuratorialität kommen Tätigkeit, Subjektposition und entstehendes Produkt in ihrer Genese, Ausformulierung und Funktionen als immer schon dynamisch aufeinander bezogene zum Tragen.»
Winternächte Im zweiten Jahr in Folge nicht für die Berlinale akkreditiert. Stattdessen die letzten drei Staffeln von CASA DE PAPEL (HOUSE OF MONEY/MONEY HEIST) ziemlich schnell hintereinander weg in mehreren Nachtschichten während zweier Wochen einverleibt. Komplett angefixt von der aberwitzigen Geschichte fange ich mir einen fetten Herpes ein! In Teil 5, Folge 39 gibt es einen operativen Dialog zwischen Moderaten und Hardlinern im Krisenstab der Sicherheitskräfte. Er ragt plötzlich wie ein Fremdkörper aus der Fiktion der Heist-Serie in die kalte Februarnacht und schwebt im Weiteren als Menetekel über dem Sofa: Man bespricht den Einsatz von Halothan Gas beim Sturm auf das Gebäude der belagerten Zentralbank. Der Einsatzleiter Coronel Luis Tamayo gibt den Befehl: «Wir machen es wie Putin! Wir schießen erst und stellen später Fragen!» In dieser Nacht, an dieser Stelle waren’s in der Wirklichkeit noch 96 Stunden bis zum Überfall Russlands auf das Nachbarland Ukraine.
Pflege Freundschaft mit dem Bären, aber halte auch immer die Axt bereit! (Ukrainisches Sprichwort) Vermutlich bin ich russophob. Immer gewesen. Eine Phobie, die über einige Jahrzehnte hinweg nur beharrlich beschwichtigt und im Zaum gehalten blieb, wobei ich sehr darauf bestehe, dass es sich weder um Hass auf, noch um Feindschaft gegenüber Menschen einer bestimmten Nation handelt, wohl aber um einen ‹Heidenschiss› vor dem Regime. Vielleicht auch vor der sogenannten russischen Seele. Sowohl bis 89 als auch danach! Weder Wolga, Don oder Moskwa galten mir je als Lockung. Auch nicht Moskau, Mariupol oder Omsk. Halbwegs zu wissen, wo man Sibirien, den Kaukasus oder Donbass auf dem Globus findet, erschien mir komplett hinreichend. Und die Vorstellung, vielleicht irgendwann mal in echt dorthin zu müssen, kam mir wie die Androhung von Höchststrafe vor. Auch Filme, wann, wo und wie auch immer ich ihnen begegnet bin und gleichgültig wie großartig viele davon waren (nur drei willkürlich rausgegriffen: KRUSTALJEW, MASCHINU! von Alexej German [1997], SEMLJA von Oleksandr Dovzhenko [1930] oder MALENKAJA VERA von Wassili Pitschul [1988]) nahm ich meist wie Mitteilungen vom Leben in der Vorhölle wahr. In meiner Erinnerung lagerte sich von diesen Erfahrungen vor allem eins ab: Erleichterung darüber, dass mich das Schicksal verschont hat, dort geboren worden zu sein, wo diese Filme herkamen. Nichtdestotrotz Aficionado der Russendisko gewesen. Auch Enthusiast für ENTUZIAZM (SIMFONIA DONBASSA [1930]). Oder Fan vom Berliner Kino Krokodil (bis Juli 2022 Kino Krokodil – Filme aus Russland und Osteuropa, ab August 2022 Kino Krokodil – Filme aus Mittel- und Osteuropa). Und darüber hinaus von Wladimir Wyssozki, Isaak Babel oder Marina Zwetajewa. Von Ivan Mosjukin, Irène Némirovsky oder Vladimir Nabokov. Von Larissa Schepitko, Elem Klimow oder Boris Barnet. Ich habe nie gewusst, oder mich dafür interessiert, wer von diesen ‹Russen› eigentlich wirklich Russen waren oder wer von ihnen genau das nie sein wollte. Allein in diesem Jahr hat es angefangen, eine Rolle zu spielen. Eine politische, kulturelle und ideologische. Also eine dreifach plus ungute, wie Orwell sagen würde.
Aushilfshelfer Eine Russin, die als Fahrerin beim Malteser Hilfsdienst arbeitet und mit der ich Ende März während einer meiner hilflosen Hilfsschichten im Welcome-Center des Berliner ZOB in einen nahegelegenen Waschsalon fahre, um einen Lieferwagen voller Decken zu säubern, erzählt während der langen Wartezeit vor den Waschtrommeln vom Russki Mir-Konzept (die Idee einer «russischen Welt») des Kreml, auch dass ihr das Herz zerspringt und der Kopf zu platzen droht angesichts der kotzüblen Putin-Folklore, die ihr in Deutschland so oft begegnet ist. Und sie weint vor Scham über das Land aus dem sie kommt: «Es hat gegenwärtig der Kultur und den Werten des Humanismus, der Freiheit der Persönlichkeit und der Idee der Menschenrechte, einer Frucht der gesamten Entwicklung der Zivilisation, den Krieg erklärt. Mein Land krankt an aggressiver Unbildung, Nationalismus und imperialer Großmannssucht.» Erst in diesem Jahr – um wieviel Zeit verspätet ist das eigentlich?!? - fange ich an, in einigen der tollen Bücher des Osteuropahistorikers Karl Schlögel zu lesen – u.a. Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangen Welt (2017), Die Mitte liegt ostwärts: Europa im Übergang (2002), Moskau lesen. Verwandlungen einer Metropole (2011). In seinem Ukraine-Buch von 2015 (Entscheidung in Kiew. Ukrainische Lektionen) schreibt er: «Einen Staat in die Knie zu zwingen heißt die Menschen in die Knie zu zwingen. Eine Regierung zur Kapitulation zu bringen heißt jene, die diese Regierung gewählt haben, dazu zu bringen, sich zu unterwerfen, die Unterwerfung hinzunehmen. Eskalationsdominanz ist nicht etwas, was gegen eine abstrakte Größe durchgesetzt werden soll, sondern zielt ad hominem. Jemandem werden die Regeln diktiert, jemandem wird der Wille aufgezwungen, jemandem wird ein Ultimatum gestellt. Und man muss sich dazu verhalten. Aus diesem Kampf, der einem aufgezwungen wird, auszutreten ist natürlich möglich: durch Gleichgültigkeit, Indifferenz, Zynismus, Defaitismus – alles Größen und Haltungen, die in der laufenden Auseinandersetzung um die Ukraine ins Gewicht fallen – in der Vergangenheit waren sie zuweilen entscheidend: kriegsfördernd, kriegsauslösend, jedenfalls nicht kriegsverhindernd.»
Rückwärts laufende Uhren Vergebliche Hoffnung, dass bestimmten Nachrichten nur in Alpträumen das Recht auf Wirklichkeit zusteht: In Afghanistan wird der Besuch öffentlicher Parks ‹rationiert›. Das bedeutet, an vier Tagen der Woche (Mittwoch bis Samstag) dürfen sich Männer in Parks aufhalten, an drei Tagen (Sonntag bis Dienstag und nur mit Hidschab bekleidet) Frauen. Auch wird Frauen untersagt, allein ein Flugzeug zu besteigen oder überhaupt (also auch auf dem Landweg) ein Ziel ins Auge zu fassen, das weiter als 45 Meilen von ihrer Wohnung entfernt ist. Die Taliban-Regierung richtet Ende März ein neues «Ministerium zur Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters» ein. Es tritt einerseits die Nachfolge des bis Ende 2021 existierenden Frauenministeriums an, setzt andererseits eine Taliban-Initiative fort, die es schon in den 1990er Jahren unter Mullah Omar gab. Männern wird von besagtem Ministerium auch nahegelegt, künftig einen Vollbart zu tragen, derweil Mawlawi Hibatullah Akhundzada, der auch «Prinz der Gläubigen» genannt wird, erklärt, dass Patrioten und Mujaheds das Land von säkularer Bildung, internationalen Experten, Intellektuellen und Gebildeten befreit hätten und hebt dabei hervor, dass die wichtigsten Waffen dabei der Koran und die Kalashnikoff gewesen seien.
Es stürzen immer die Falschen die Treppe hinab Kurze Begegnung im April an einer Straßenkreuzung in Linz. A.H. und R.S. erzählen, dass Willy Resetarits (Mitgründer der Polit-Rock-Band Schmetterlinge und für einen Teil seiner Karriere auch als Ostbahn-Kurti bekannt), vor ein paar Tagen, nach dem Besuch eines Balls mit Geflüchteten, bei sich zuhaus‘ die Treppe hinabgestürzt ist. Der enge Freund und Musikerkollege Ernst Molden widmete Willy Resetarits einen zum Heulen schönen Nachruf im Falter: «Immer kam er, sacht und umsichtig, mit dieser wunderbaren und von niemand sonst so beherrschten Mischung aus Grandezza und Bescheidenheit. Und dann erhob er sein Stimme, die so seelentief und so überlebensgroß war, zugleich so blue und so fragil. Willis Stimme konnte kitzeln und streicheln, liebevoll rempeln und wie kleiner Wind eine Gänsehaut erschaffen. Willis Stimme konnte Menschen verändern und hat es vielfach getan.» ‹Der Willy› sei in den letzten Jahrzehnten wie das Dach über der österreichischen Musikszene gewesen. «Wenn man zuhaus’ ist, dann denkt man ja nicht immer daran, dass das Haus ein Dach hat. Aber wenn das Dach plötzlich fehlt, hat es ein Ende mit dem Zuhaus’. Was machen wir denn jetzt?«
Ohrwürmer Ohrwürmer bohren sich erbarmungslos und jeden Widerstand brechend ins Hirn. Es gibt fiese und harmlose Ohrwürmer. Comanchero von Raggio Di Luna ist ein harmloses Exemplar: er traktiert einen gut ein oder zwei Stunden wie ein Derwisch, zieht sich dann aber ermüdet wieder auf die Schmusedecke hinterm Ofen zurück. (Auch noch tolerierbar L’Italiano von Toto Cotugno oder gar Volare von Domenico Modugno – unvermeidliche Muzak bei den zahlreichen Besuchen in der Trattoria des Vertrauens). Richtig fies dagegen jene, die sich ungefragt als Untermieter im Oberstübchen einnisten und einen Tage lang mit ihrer Anwesenheit belästigen. So André Heller, wenn er singt: «Guten Morgen Jean Harlow, wie war die Nacht? Hat man unter Orchideen geweint oder gelacht? War der Himmel über Hollywood schwarz oder rot? War es Champagner oder Kokain, was man bot?» Und wenn dann, wie es bei André Heller der Fall ist, der Champagner auch noch in gleichzeitig wienerisch zerdehnter wie spitzmündig Pariser Diktion durch die Lautsprecher quillt, dann will man sich nur noch – allerdings vergeblich – die Ohren zuhalten und schreien: Stop making noise!
Irgendwas mit Medien… Nie wieder irgendwo hingehen, wo sich Leute treffen, die irgendwas mit Medien machen. Wenn sich am rückwärts gelegenen Nachbartisch zwei mittelalte Kreative zu irgendeiner Erstbesprechung für eine Serie treffen, davor aber noch die «Erbärmlichkeit der deutschen Komödie» abhandeln, direkt anschließend noch irgendeine «bezaubernde Doku» erörtern, dann aber in medias res gehen und sich – «soviel Zeit muss sein» – erst einmal gegenseitig in Kenntnis setzen, was eigentlich ihr jeweiliger Background ist: «also emotional, biografisch und professionell. Du verstehst schon…». Anhören tut sich das dann so. A: «98 als Autor angefangen bei GUTE ZEITEN, SCHLECHTE ZEITEN.» B: «Is ja krass! War da der XY schon im Rollstuhl gesessen?» A: «Weißt was, ganz unter uns: ich hab ihn da reing‘schrieben!» B: «Nä? Echt jetzt?» etc. etc. Leider wird das für eine Anzeige wegen Körperverletzung nicht reichen!
Imbissvergnügen Eine Strandbude an mecklenburgischem See verkauft Klappschrippe mit Frikadelle und Scheibletten. Garniert mit Bayrisch Kraut und Kornischongs. Ich kann dieser freundlichen Einladung zum Verzehr nicht widerstehen und nehm’ den ersten Cheeseburger seit wahrscheinlich fünf Jahren zu mir. Für die nächsten fünf Jahre is’ jetzt aber sicher auch wieder gut damit. Wenige Tage zuvor, beim Nick Cave-Konzert in der Waldbühne hatte mich schon ein anderer Imbiss erfreut, dessen Besitzer seine Kunden mit zwei unmissverständlichen Worten auf einer Reklametafel empfing: Cach only!
Der Eiswürfel hatte eine gewisse Lagunennote… Ich frage mich, ob man später einmal aus den im Verlauf von 365 Tagen neu aufgeploppten (oder zuvor nie wahrgenommen) Begriffen, den unterwegs aufgeschnappten Wortwolken, den Streiflichtern, Bocksgesängen oder Juxvokabeln einmal die Physiognomie dieses Jahres wird ablesen können. Oder ob sie zumindest einen kleinen Anteil daran haben, ein Phantombild anzufertigen. Die Frage ist offen gestellt, die Antwort ausstehend. Hier nur ein paar Exemplare phänomenologisch rechts und links des Wegs zusammengeklaubt: Staubtrockene Effizienz | allegorische Trittsicherheit | Pescatarier | melismatisch | Sparriger Runzelbruder (Rhytidiadelphus squarrosus) | in der Wolle gewaschener Wessi | sein Mütchen kühlen | Verführungsversagen | A villa in mediterussian style | die Empörungskolonne der Filmschaffenden | Nötigungsdeutsch | putineske 19 Grad | Gemütsverdunkelung | moralische Selbstverzwergung | mittelauthentische Rockerposen | Identity fatigue | Netto-Null-Versiegelung | temperaturbereinigte Einsparung | Bescheidwissenschaftler | Schonvermögen | Sozialistischer Realizismus | Kokainlieferdienst | schuriegeln | Affirmations- und Unterwerfungsrituale…
Splatter (1) Meldung des Selbstmordes der österreichischen Ärztin Lisa Maria Kellermayr. Aus Verzweiflung über Morddrohungen und Nachstellungen von Corona-Leugnern sowie ausbleibendem Polizeischutz nimmt sie sich Ende Juli das Leben. Einer der Hetzer, der unter dem Tarnnamen «Claas der Killer» im Internetz firmierte, hatte gedroht, sie zu schlachten, nachdem er die Wände mit der Gehirnmasse ihrer Mitarbeiter gestrichen haben würde.
Es gibt 1.000 gute Gründe auf dieses Land stolz zu sein. Warum fällt uns jetzt auf einmal kein einziger mehr ein… Recht hatten sie, die Toten Hosen! Aber vielleicht gibt es doch den einen oder anderen Anlass, dieses Land immerhin zu schätzen: Zum Beispiel, dass man hier NICHT für zwei Jahre in den Knast wandert, nur weil man ein traditionelles Sprichwort, das vielleicht (!) auf den amtierenden Staatspräsidenten gemünzt sein könnte, zitiert hat: «Wenn ein Ochse in einen Palast geht, wird er nicht König, sondern der Palast wird zum Stall.» – in der Türkei widerfährt das 2022 der Journalistin Sedef Kabas. Oder dass man NICHT zehn Jahre Haft, sowie 1.000 (in Worten: tausend) Peitschenhiebe plus eine Geldstrafe von 194.000€ riskiert, wenn man Muslime, Juden, Christen und Atheisten als gleichwertig bezeichnet, was als Verstoß gegen die landestypischen Anti-Terror-Gesetze gilt – wie es dem Blogger und Aktivisten Raif Badawi in Saudi Arabien geschah. Und dass an einem Anwalt NICHT eine 15-jährige Gefängnisstrafe (plus anschließendes 15-jähriges Reiseverbot plus Geldstrafe von umgerechnet 39.200 Euro) exekutiert wird, nur weil er Raif Badawi (s.o.) verteidigt hat, was als «Ungehorsam gegenüber dem Herrscher und als Versuch, dessen Legitimität zu untergraben» verurteilt werden kann und auch wurde. Blitzlichtartige Erinnerung an den Aphorismus von Winston Churchill: «Demokratie ist, wenn es morgens um sechs an der Tür läutet und man sicher sein kann, dass es nur der Milchmann ist.»
Drei gute Nachrichten an einem Tag (6. Dezember 2022) Erstens: Die Trump Corporation wird wegen krimineller Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt. Zweitens: Der von Trump unterstützte Kandidat, ehemaliger Football-Star Herschel Walker, geht bei den Gouverneurswahlen in Georgia mit wehenden Fahnen unter. Drittens: Erfolgreiche Großrazzia in der waffen- und putschbereiten deutschen Reichsbürgerszene. Tags darauf erstmals eine Rede des Chefs der Putschisten-Truppe im Internetz gehört, dieses dreizehnten Heinrich von Sowieso, gehalten im Januar 2019 auf dem WorldWebForum in der Züricher Eventlocation Stage One vor anscheinend «1.500 Vertretern von Wirtschaft, Politik und Technologie» (WoZ). An einer Stelle seines Referats analysiert der anscheinend schon damals von einer künftigen Regentschaft über Deutschland Phantasierende das Weltgeschehen seit 1914: Die Freimaurer haben die Monarchie unterhöhlt und den Ersten Weltkrieg ausgelöst. Hitler wurde ökonomisch vom US-Kapital unterstützt und politisch vom Weltjudentum. Und plötzlich, als würde er unversehens einen Geist aus der Flasche rauslassen, fordert der Adelsspross einen Friedensvertrag (zwischen welchen Staaten oder Parteien bleibt offen), damit das unterworfene Deutschland endlich ein eigenständiger Staat werden und sich unbehelligt von Bolschewismus und Islam entfalten könne. Keine weiteren Erläuterungen gibt der Prinz in seinem Referat dazu, wie es zur Allianz zwischen Weltjudentum, US-Kapital und Hitler hat kommen können, aus welchen Motiven sich auch Bolschewisten und Islamisten der Verschwörung gegen ’Schland angeschlossen haben und was die Freimaurer nach dem Ersten Weltkrieg sonst noch alles verbockt haben. Im Nachgang war diese Rede anscheinend keinem nirgendwo, so die WoZ, eine Erwähnung wert. Eindeutig ist wohl nur, dass der Reichsbürger-Prinz kurzfristig als Ersatz für einen engen Mitarbeiter von Elon Musk eingesprungen ist, der die Veranstalter hatte sitzen lassen.
Splatter (2) Body-Horror-Fantasien von Jewgeni Prigoschin. Als Financier der Söldnerarmee «Gruppe Wagner», extemporierte er, als es 2022 um die Feinde Russlands ging: «Während unserer punktgenauen Operationen werden wir ihnen beide Nieren und die Leber auf einmal entfernen.» Bitte sage niemand, dass er das wahrscheinlich nicht so meint! Oder dass bellende Hunde nicht beißen, weil sie doch eigentlich nur spielen wollen! Oder dass man am Ende nichts so heiß isst wie, wie es gekocht wurde!
Ein schweres Jahr, ein Jahr der Umzüge und der eher Ab- als Umbrüche (Umbrüche, die sich wie Abbrüche anfühlen?). Zu den Erkenntnissen, die das Jahr bringt, zählen: dass Deutschland nach ein paar Jahren Deutschlandpause kein angenehmeres Land wird; dass ein «solider Job» auch keine Lösung ist; dass die real existierende Linke zwischen Putin-Versteher:innen und BDS/documenta-Versteher:innen wohl wirklich komplett verloren ist (komplett für mich verloren soll das heißen, und deshalb auch: wen kümmert’s?).
Gerne denke ich an zwei Wochen im Sommer in der Türkei, am Pool und am Strand, mit vielen Büchern, besonders an den Tag mit Nathaniel Hawthornes The Blithedale Romance (das Suchen nach dem richtigen Leben und die progressive politics, die, wenn’s drauf ankommt, kein bisschen dabei helfen). An die Rückkehr, nach zwei Jahren Exil, zum untoten Medium Kino, dem ich wohl doch immer noch verfallen bin, wenn auch vielleicht nicht mehr / noch nicht wieder ganz so rettungslos, besonders an ein Sommerwochenende mit Freunden und den wütenden, wuchtigen Filmen von Yves Boisset im Filmmuseum Frankfurt. Und schließlich, ausgerechnet, an facebook, wo in kleinen, selbstselektierten Gemeinschaften fröhlicher, tröstlicher Unsinn blüht. Danke dafür, wer auch immer dazugehört und das hier liest.
Es scheint, als wäre vermeintlich zur Geschichte Gehörendes das, was von 2022 bleibt und zwar als Frage: Was machen mit dem Vergangenen, das nicht mehr historisch bleiben kann und nicht mehr historisch bleiben soll?
Als mediales Problem klebte sich diese Frage in grobem Kriegszeitpapier an meine Hände, als ich im Sommer auf einem Flohmarkt eine Ausgabe der Propagandazeitschrift Die Wehrmacht vom August 1941 beim Wühlen in einem Karton fand. Darin wurde im Wochenschau-Ton vom Angriffskrieg Nazideutschlands auf die heutige Ukraine und andere Teile der Sowjetunion berichtet. Auf einer Karte waren Städtenamen von Kiew bis zur Krim sehen, die ich erst seit Februar 2022 in den Nachrichten gelernt habe. Kriegsverherrlichende Fake News und manipulierte Fotos von Zerstörung, auf holzigem Papier. Schockgegenwart der Geschichte.
Diese Gegenwart von Geschichte, insbesondere die aufdringliche, unheimliche Gegenwart von historischen Medien ist deshalb das was für mich von 2022 bleibt. Weil diese historische Gegenwart digital mehr und mehr verfügbar ist als jemals zuvor und weil sie mehr geworden ist als nur postmoderne Auseinandersetzung mit dem Archiv. Das gilt z.B. für die Dokumentation DJAKAR DJIBOUTI 1931, die ich im April bei Arte gesehen habe, das gilt aber auch für den autobiographischen Essay DIE TOTEN VÖGEL SIND OBEN der Regisseurin Sönje Storm auf der DOK Leipzig, aber auch für die Ausstellung IMAGE CAPITAL von Estelle Blaschke & Armin Linke im Folkwang Museum. Das gilt für DER SUBJEKTIVE FAKTOR von Helke Sander, den ich am Abend vor dem Krieg in der Arsenal Werkschau gesehen habe und für die architektonische Gegenwart Westberlins in Harun Farockis HÄUSER 1-2, die Volker Pantenburg frisch digitalisiert in Frankfurt zeigte, fast als companion piece zu Cynthia Beatts CYCLING THE FRAME. Mubi hatte ihn neu ins Streamingprogramm aufgenommen, wie auch als Release die Dokumentation des systematischen postkolonialen Rassismus in ALI AU PAYS DES MERVEILLES von Djouhra Abouda und Alain Bonnamy von 1975. Selbst Dan Grahams irgendwie postmodernes ROCK MY RELIGION, das dokumentarisches Material u.a. von traditionellen Tänzen der Shaker mit einem zeitgenössischen Auftritt Patti Smiths verschränkt, bleibt mir über meine eigene Recherche hinaus vor Augen als videographische Kulturgeschichte. Für 2023 also das starke Bedürfnis, noch mehr vergangene Medien in eine tätige Gegenwart zu bringen.
2022, Jahr des Neunormals. Erstmals seit Pandemiebeginn wieder im Kino, der Maskenatem dampft die Brille an, die Friends-of-a-Friend haben mich in einen David-Bowie-Tribute-Film gelockt, Moonage Daydream von Brett Morgen, OK, habe ich mir gedacht, nach gut drei Jahren Kino-Abstinenz kann man sich mal wieder in so einen Saal hocken, unbequem wie immer, Farbexplosionen, Bowie, der das gesamte Spektrum humanoider Entwicklungsmöglichkeiten ausprobiert. Einzige bleibende Empfindung: Neid auf eine Zeit, in der es sowas wie vertikale gesellschaftliche Mobilität durch Pop gegeben hat und ein einzelner Typ sich so einen gigantischen Freiraum schaffen konnte, ganz ohne Bitcoin-Betrügereien und faschistoiden Twittershit. Der Film erinnert mich in seinem PROZESS des Zusammenschnipselns irgendwelcher Footage an diese endlosen Promo-Videos aus der Fabrik Dolezal & Rossacher, die vor 30 Jahren auf dem Musiksender «Viva» rauf- und runterversendet worden sind; Material für Fans, eine moderne Variante wäre vielleicht ein Helene-Fischer-Musical, über, aber ohne Helene Fischer selbst, dafür mit Nahaufnahmen von Lavalampen. Erstmals seit 100 Jahren auch wieder auf der Viennale gewesen. Ms. K. erzählt mir von einem Film, der von französischen Atomtests auf Tahiti handeln soll: Pacifiction von Albert Serra. Die Combo aus Franzosen und Atomwahn wirkt auf mich unwiderstehlich. Auch hier ist die Situation Covid-Kino wieder eine Tortur, gut drei Stunden lang, aber es rentiert sich wenigstens. Der erste Film, in dem ein Anzug der Held ist: Ein weißer Zweireiher mit einem Schauspieler namens Benoît Magimel darin bewegt sich unvergleichlich schmierig durch eine mild verpixelte Landschaft (Serra: «Ich habe nur billige Blackmagic-Videokameras benutzt.»), die Handlung ist völlig egal, man genießt einfach die bunte Landschaft und den hohldrehenden Schwachsinn der improvisierten Dialoge. Pacifiction ist sofort einer meiner Lieblingsfilme, wahrscheinlich auch deshalb, weil ich Albert Serra, der vom Festival in eine Podiumsdiskussion gezwungen wird, sofort gut finde, ein narrativer Nihilist, der behauptet, aus einer Schneiderfamilie hervorgegangen zu sein und von dem Zweireiher erzählt, den er für den Film hat schneidern lassen und dass Magimel für das Teil irgendwann zu fett geworden sei und den Anzug trotzdem tragen musste, weil es am Drehort nicht möglich gewesen sein soll, ihn ändern zu lassen. Kleider machen nicht nur Leute, sondern auch Monster. Serra steht auf der Bühne und erklärt seinen PROZESS, einfach mehrere Kameras draufhalten, später auswählen, sehr digital, einfach die korrekten Momente aus der Cloud fischen. Er will das wirklich erklären, wie und warum er dies und das gemacht hat, ein großartiger Typ, ein Kompressionsartefakt wie ich. Zweiter Viennalefilm: So-seol-ga-ui yeong-hwa von Hong Sangsoo, ein Kammerspiel, ineinandergreifende minimalistische Storyloops, angetrieben von fantastischen Schauspieler*innen. Auch er betont in der anschließenden Diskussion seinen PROZESS, seine billige Low-End-Produktionsweise. Wer Erwachsenen etwas erzählen will, hat auch keine andere Wahl mehr, als sich People und Material aus dem Freundeskreis zusammenzukratzen. Bald wird das automatisch gehen, vielleicht extrudiert einmal einer der Erben von Elon Musk aus meinem stillgelegten Twitter-Feed eine KI-Story, um einen anderen Computer damit zu Tode zu langweilen. Bei Mastodon kann man seine Beobachtungen wenigstens automatisch löschen lassen. 2022 habe ich gelernt: Auch die smarteren Kunstpeople und Cineasten tragen im Kino keine FFP2-Maske mehr. Das physische Set-up ist nicht mehr nur für meine Bandscheiben bedrohlich. Ich gehe ungern raus, in dieses Neunormal.
Im Mai und Juni 2022 konnte ich, wie vermutlich viele andere in diesem Jahr, endlich eine lange geplante und oft verschobene Reise nachholen. Ein Anlauf im Januar 2022, Versuch Nummer drei oder vier, war noch an der Omikron-Welle gescheitert. Von außen betrachtet wirkte meine Reiseroute ein wenig kurios – erst Madison in Wisconsin, dann Bloomington in Indiana, schließlich Cambridge/Boston und zuletzt New York –; sie war das Relikt eines früheren Reisestipendiums, das erst bewilligt, dann pandemiebedingt doch gecancelt wurde.
An allen vier Orten gibt es Filmarchive, in denen ich für mein Promotionsprojekt recherchieren wollte. Häufig war ich der erste ausländische Gast, der nach Ausbruch der Pandemie den weiten Weg für einen Besuch auf sich nahm, um sich kreuz und quer durch seltene Sammlungen zu sichten. Während ich mir Filmrollen auf alte Schneidetische legen ließ, brauch draußen der Sommer an. Die Abschlussprüfungen an den Universitäten waren geschrieben, die Zeugnisse verliehen, die Wohnheime leerten sich. Stolze Eltern kamen aus dem ganzen Land angereist und blockierten alle erschwinglichen Hotelzimmer, um ihre Kinder für die Ferien nach Hause zu holen. In Madison rissen sich Jogger bei den ersten Sonnenstrahlen das T-Shirt vom durchtrainierten Oberkörper; in Bloomington knackte das Thermometer schon im Mai die 30°C-Marke.
Das sommerliche Treiben ließ beinahe vergessen, was politisch im Land eigentlich los war. Als ich in Madison ankam, wurde überall zu Demonstrationen gegen die befürchtete Aufhebung der Roe-v-Wade-Entscheidung durch den U.S. Supreme Court aufgerufen. Tatsächlich kippte oberste Gericht wenig später das historische Urteil, das einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich möglich machte, nach einem knappen 5-zu-4-Votum. Das Recht auf Abtreibung muss jetzt, theoretisch, von den einzelnen Bundesstaaten per Gesetz verankert werden – oder eben auch nicht.
Ende Mai, da war ich schon in New York, tötete ein Amokläufer in einer Grundschule im texanischen Uvalde 19 Kinder und zwei Lehrerinnen. Die NRA ließ ihre jährliche Convention in Houston trotzdem stattfinden. Das Kalkül: Nach Amokläufen steigen die Waffen- und Munitionsverkäufe sprunghaft an, weil die Angst vor gesetzlichen Einschränkungen des zweiten Zusatzartikels umgeht. Gespaltenes Freiheitsdenken der amerikanischen Rechten: Eingriffe in die individuelle Selbstbestimmung sind offenbar kein Problem, wenn es um weiblich gelesene Körper geht.
Eine Freundin, die im republikanisch-roten Georgia für die Democratic Socialists of America aktiv ist, sagte mir später resigniert, die überforderte amerikanische Linke würde es einfach nicht schaffen, den Erzählungen der Rechten ein schlagkräftiges Counter Narrative entgegenzusetzen.
Erfreulicher als das politische Drumherum war die filmische Ausbeute, die ich aus den vier Archiven mit nach Hause nahm. Drei bleibende Erkenntnisse aus rund 70 historischen Titeln:
Erstens: Hollywood kapitalisierte die nostalgischen Wallungen seiner Zuschauer*innen schon um 1930. Warner produzierte damals eine Kurzfilmserie mit dem studioeigenen Vitaphone-Tonsystem. Für die einzelnen Episoden wurden Ausschnitte aus älteren Filmen schamlos mit einer gesprochenen Kommentarspur zusammengebastelt, um recycelte Stummfilme kostengünstig nochmal auf den Markt zu werfen. Die Filme hießen The Stars of Yesterday oder Movie Album Featurettes; geboten wurden hauptsächlich jene Stars in hingebungsvollen Großaufnahmen «that [only?] the grandparents will remember» (so ein Sprecher sinngemäß).
Zweitens: Wenn europäische Monarch*innen früher ein Hollywoodstudio besuchten, bekamen sie als Andenken einen Kurzfilm geschenkt. Wenn man Glück hatte, sprach der Studiochef höchstpersönlich den Voice-over-Kommentar – so geschehen nach Königin Julianas Besichtigung der MGM-Studios im Jahr 1953. MGM schickte der abreisenden niederländischen Majestät einen fünfminütigen Zusammenschnitt ihrer Stippvisite hinterher, «respectfully presented by Mr. Dore Schary».
Drittens: Einer der interessantesten Phantom Rides des frühen Kinos zeigt mitnichten eine Fahrt über die Brooklyn Bridge oder durch irgendeinen englischen Tunnel, sondern fünf Minuten mit der Wuppertaler Schwebebahn. Die Kamera gleitet träge über das beschauliche Vohwinkel, Elberfeld und Barmen hinweg, und die Besucher*innen des MoMA, das den Film in seiner Dauerausstellung zeigt, können die vorbeiziehenden Gründerzeitfassaden der deutschen Kaiserzeit bestaunen.
Solche Filme waren kleine Highlights meines ansonsten recht trüben Kinojahres. Zum Schluss noch eine Lektüre, die aus dem Jahr 2022 hoffentlich hängen bleibt: Wolfgang Kohlhaases wunderbare Kurzgeschichtensammlung Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen. Mit Kohlhaase starb im Oktober 2022 einer der letzten großen Szenaristen des DEFA-Films. Phänomenal, wie er mit wenigen, ungeheuer präzise gesetzten komplexe Figuren, Orte und Atmosphären und Gefühlslagen kreieren konnte. Passenderweise endet die 2021 erschienene Anthologie mit einer Silvestergeschichte. Der Erzähler macht darin eine Erfahrung, die geplagten Fluggästen von heute bekannt vorkommen könnte. Er will unbedingt aus dem tristen Berlin nach Budapest flüchten und dort das neue Jahr begießen, aber erst wird sein Flug verschoben, dann abgesagt. Am nächsten Tag muss die Maschine, obwohl schon im Landeanflug, wegen irgendwelcher Probleme doch wieder umdrehen, und alle stranden abermals in Ostberlin. Immerhin gibt es Bockwürstchen auf Kosten von Interflug.
Das Selfie-Video des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Zelenskyy, gedreht auf der Straße in Kyiv in der Nähe des Präsidentenpalastes am Abend des 25. Februar. Es zeigt den Präsidenten in einem Militärjersey, umgeben vom Stabschef des Präsidialamts, dem Fraktionschef seiner Partei, dem Parlamentspräsidenten und seinem Verteidigungsminister Oleksy Reznikov. Zelenskyy wünscht einen guten Abend und zählt alle auf, mit ihrer Funktion, stets gefolgt von «tуt» – hier. Auch die Armee ist «tуt», und das Volk ist «tуt». Wir sind alle hier um die Unabhängigkeit unseres Landes zu verteidigen, fährt Zelenskyy an, und das wird weiterhin so sein. Ruhm sei den Verteidigern, Ruhm den Helden, Ruhm der Ukraine. Ein Rapport, gedacht, um die russischen Behauptungen zu dementieren, dass Zelenskyy und seine Regierung vor den heranrückenden russischen Truppen das Weite gesucht haben. Ein Appell zugleich: Wir bleiben hier und kämpfen, und ihr sollt es auch. 32 Sekunden dauert das Video. Die Aufzählung wird zum Listengedicht, zur zugleich nüchternen und pathetischen Hymne, die Regierung, Armee, Volk und Land in eine Reihe stellt und zusammenschweißt. Die Form der Aufzählung erinnert an Whitmans Listengedichte. Sie ist in der Anlage demokratisch und damit zugleich im Einklang mit der Form des Selfie-Videos: Ein Film, den man selbst hätte machen können, mit seinen Freund:innen, ein Film, der in der denkbar einfachsten Form eine solidarische Gruppe zeigt statt einen einzelnen Führer, der vom langen Tisch aus Befehle erteilt. Eisenstein montiert in der Treppenszene in Dutzenden von Einstellungen die Bevölkerung von Odesa zum Volk, das dem Zaren widersteht und dafür mit der Vernichtung rechnen muss. Hier tut es eine Einstellung von 32 Sekunden. Ein Triumph der Plansequenz über die Montage, auch aus Notwendigkeit: Zu Schneiden hätte bedeutet die Glaubwürdigkeit der Aufnahme zu unterminieren, ganz im Sinne von Bazins «montage interdit». Dass das Video seine Wirkung tat, konnte man von Ukrainer:innen in den folgenden Wochen immer wieder hören. Dass Zelenskyy blieb, sei das Wichtigste, was er je getan habe und habe tun können, attestierten auch seine Kritiker und Gegner dem Präsidenten. Das Video, so scheint es, stiftete die Einheit des Landes, die es in seiner Form behauptet. Es wurde zum Meme, das Zelenskyy selbst mehrfach variierte und aktualisierte. Es ist das bislang und auf absehbare Zeit wichtigste und wirkmächtigste Stück politischer Kommunikation des 21. Jahrhunderts.
Ein Filmprogramm mit Arbeiten des Kyiver Videokollektivs babylon 13, gezeigt in der Paulskirche Frankfurt im Oktober: Ein Bogen von den Barrikadenkämpfen der Maidanrevolution zu den Folgen des russischen Angriffs nach dem 24. Februar. Ein autorloses Kino, eine weitere demokratische filmische Form politischen Handelns. Die Filme selbst sind auf dem youtube-Kanal von babylon*13 greifbar; man kann sich sein Programm selbst zusammenstellen.
Ohnehin: Eine neue geistige Landkarte Europas. Am 24. Februar hat sich die Mitte Europas dauerhaft nach Osten verschoben. Von Brest nach Frankfurt sind es 1300km; von Frankfurt nach Lviv sind es 1300km; von Lviv nach Mariupol sind es 1300km: die Dimensionen des demokratischen Europa. Um sich auf dieser neuen geistigen Landkarte zurecht zu finden, hilft es z.B. die Arbeiten der cargo-Autorin Franziska Davies zu verfolgen, u.a. auf twitter: @EFDavies.
In diesem Zusammenhang bleiben hängen:
Der selektive Charakter deutscher Erinnerungspolitik im Angesicht der Wiederkehr des verdrängten Erbes des deutschen Kolonialismus auf osteuropäischem Gebiet.
Die Feststellung, dass es für die Mehrheit der politischen Positionierungen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine in Deutschland im Wesentlichen drei Erklärungen gibt, und keine davon ist erbaulich: Ignoranz, Feigheit, Komplizität.
Alexander Kluges Lob der Kapitulation, das vergisst einen Unterschied zwischen Kriegsverbrechern und Angegriffenen zu machen, und überhaupt die soignierte Desinvolture der Münchner Sozialdemokratie. Möglicherweise steht die Adorno-Kontaktikone Kluge dem Käfersammler Jünger am Ende doch näher, als es auf Anhieb scheinen mag. Die Einheit von biedermeierlichem Behaglichkeitsstreben und Ästhetisierung des Schreckens könnte der Schlüssel sein zu seinem sonst so unübersichtlichen Werk.
Überhaupt: Offene Briefe. Aus medienwissenschaftlicher Sicht signifikant: Der Emma-Brief wurde initiiert von Peter Weibel, geboren als Sohn eines Nazi-Offiziers und einer Russlanddeutschen 1944 in Odesa. Weibel war in den letzten Jahren mehrfach als Putin-Apologet aufgefallen, unter anderem in einer Eröffnungsrede einer Ausstellung mit russischer Medienkunst aus den 1960ern im ZKM von 2016, die er nutzte um die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und von Teilen des Donbas zur rechtfertigen. Die Dekolonisierung der deutschen Medienwissenschaft muss auch hier ansetzen.
Und im Übrigen:
Die Wiederherstellung der guten Ordnung im BFI-Ranking der 100 besten Filme aller Zeiten. Während Jahrzehnten stand ein Werk eines 25-jährigen Wunderkindes an der Spitze der Tabelle. Dann, nach der letzten Auszählung 2012, übernahm ein reifes Werk eines 59-jährigen die Führung. Nun, nach der erweiterten Abstimmung von 2022, steht wieder ein epochales Werk eines 25-jährigen Wunderkindes an der Spitze. Wobei Orson Welles Kombination aus Tiefenschärfe und Pop-Freudianismus in Citizen Kane eine deutlich weniger radikale Neuerfindung des Kinos darstellt als Chantal Akermans Jeanne Dielman.
Der Nobelpreis für Annie Ernaux.
Das Satellitenfoto des kilometerlangen, im Schnee und Schlamm steckengebliebenen russischen Militärkonvois mit Kurs auf Kiew. Im Freundeskreis kursierten Atomkriegsängste, die es halbüberzeugt zu beschwichtigen galt, auch um sich selber zu beruhigen. Aber naiv ichbezogen und heimlich überlegte ich mir dann doch, wohin ich im Fall der Fälle, und hoffentlich noch rechtzeitig, abhauen könnte. Und Corona lief tinnitusähnlich als weniger prominentes Dauerthema das ganze Jahr über mit. Ab März wünschten sich auf Twitter alle gegenseitig und ständig einen milden Verlauf. Das ging mir in seiner floskelhaften Nettigkeit dann fast schon mehr auf die Nerven als das inzwischen etablierte «Bleiben Sie gesund», das einem in der Apotheke und am Bratwurststand beim Abschied hinterhergerufen wurde. Aber im Sommer hatte ich ihn dann schließlich auch, den milden Verlauf.
Ein weiteres Jahr also der Ablenkung, Verdrängung und Sedierung durch extensives Serienschauen. Die zweite Staffel En thérapie. Aber auch die erste Staffel der französischen Serie 18h30 mit ihren 22 fünfminütigen Plansequenz-Folgen, die mir N. empfohlen hatte und ebenfalls auf arte zu sehen war, ist total super. Jede Episode begleitet, durch alle Jahreszeiten hindurch, Protagonist und Protagonistin nach Büroschluss auf dem gemeinsamen Weg zur Bushaltestelle. Besonders gut gefiel mir aber auch das geschickt auf heutige Verhältnisse umgestrickte HBO-Remake der bergmanschen Scenes from a Marriage, grandios gespielt von Jessica Chastain und Oscar Isaac, die ich eigentlich immer doof fand, aber jetzt bin ich Megafan. Serien-Highlight des Jahres war für mich Euphoria. Die erste Staffel hatte ich 2019 vorurteilsbehaftet verpasst bzw. absichtlich ignoriert, wurde aber nach dem 2022er-Tamtam um Staffel 2 dann doch neugierig und habe mir alle Folgen in kürzester Zeit reingezogen. Beste und modernste Drogen- und Jugendlichen-Serie, wahnsinnig gute Schauspieler, Zendaya als Rue, Hunter Schafer als Jules, Barbie Ferreira als Kat, unglaublich! Das Szenenbild, die Kamera, das Drehbuch! Ich fand einfach alles ungeheuer toll, wüsste jetzt aber nicht, ob eine zweite Sichtung nochmals zur selben Euphorie führen würde.
Noch schnell ein paar Filme, die mir in Erinnerung geblieben sind: Drive my car von Ryūsuke Hamaguchi, The card counter von Paul Schrader, L'Événement von Audrey Diwan, Axiom von Jöns Jönsson, Un beau matin von Mia Hansen-Løve, Concerned Citizen von Idan Haguel, Chronique d'une liaison passagère von Emmanuel Mouret, R.M.N. von Cristian Mungiu.
Und sonst noch: die Filmreihen auf arte zu Maurice Pialat (Van Gogh!) und Bruno Dumont (L’Humanité!), drei Wochen Marseille (Bompard!), zwei Wochen Apulien (Lecce!), eine Woche Paris (die tolle Stillleben-Ausstellung Les choses im Louvre!), Mahmood & Blanco (Brividi!). Vorsatz 2023: nicht so schnell und einfach von allem und jedem gerührt sein. Aber ich glaube, das ist ist altersbedingt und geht nicht mehr weg.
Ho sognato di volare con te su una bici di diamanti.
Die Polykrise navigieren: Ding der Verzweiflung und verzweifelten Zuversicht. Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens, anyone? Je mehr Sorgen-Screens gleichzeitig geöffnet sind, scheint allein Fokussierung weiterzuhelfen. Aber bei jedem Versuch, sich auf ein Problem zu konzentrieren, drängt von den Rändern des Sichtfelds das zuvor Ausgeblendete herein. Der russische Angriffskrieg ist ein Ressourcenkrieg ist eine faschistische Strafaktion ist eine Tragödie ist eine Konsequenz unfassbarer außen-, energie-, umwelt-, kulturpolitischer Verfehlungen des Westens ist eine … Die Lernkurve in Sachen Ukraine war steil, sie führte zu Begegnungen mit und Lektüren von Asia Bazdyrieva, Olexii Kuchanskyi, Oleksiy Radynski, Vasyl Cherepanyn, Marichka Lukianchuk, Anna Medvedovska und vielen anderen und gipfelte auf gewisse Weise in dem Gespräch, das Clio Nicastro und Rosa Barotsi im Dezember nach der Vorführung von Mariupolis 2 von Mantas Kvedaravičius mit dessen Partner und Witwe Hanna Bilobrova führten.
Der Krieg, der einerseits nach Positionierung verlangt, vermittelt zugleich mit Nachdruck, wie unangebracht jede Hierarchie der Widersprüche, jede vertikale Klassifizierung der (immer schon globalen) Kämpfe und concerns ist. Analysewerkzeuge wie Intersektionalität und Multidirektionalität befinden sich längst jenseits der Bearbeitung von Mehrfachunterdrückungen und geschichtspolitischer Aporien im Dauereinsatz. Manchmal kann das die Reaktionszeit bei der Positionsbestimmung im Ernstfall ungut verlängern (whataboutism). Prinzipiell jedoch bringt die Steigerung der Komplexität vor allem Vorteile. Dass die mit Vereindeutigen und Polarisieren beschäftigten Instanzen daran keine rechte Freude haben, kann hier nur als Bestätigung gelesen werden.
Kurz vor Jahresende erscheint die neue Ausgabe von Crisis & Critique (vol. 9, issue 2, 2022), redigiert von Frank Ruda und Agon Hamza. Sie widmet sich der Frage: «Is Politics Possible Today?» Zur Erinnerung: Politik war diese Sache, die das epistemische Projekt namens Neoliberalismus aus dem Bereich des Denkbaren und Vorstellbaren geräumt hatte. Die Antworten der Beitragenden fallen entsprechend ausweichend und kompliziert aus. Der Wille zur Politik ist spürbar, aber auch die ungebrochen massiven Zweifel an ihrer Möglichkeit. Eine vielversprechende Entdeckung ist der kürzlich gegründete Diskussionszusammenhang Subset of Theoretical Practice, der in der C&C-Ausgabe auch ein paar Vorschläge zur Formalisierung der Politikfrage macht.
Persönliche Erfahrungen des vergangenen Jahres legen erneut nahe, dass das Politische weniger gezielt angesteuert werden kann als über einen hereinbricht – etwa dort, wo sich das Persönliche und das Geopolitische berühren. Dabei wird die «politische» Einordnung des Geschehens zumeist nachgereicht. Das gilt auch für den Marxismus: Er ist selten Ausgangspunkt des Handelns, funktioniert am ehesten als Korrektiv oder Verstärker von etwas Vorhandenem. «[Marxism] seems to do best when it is grafted, often improbably, onto a deeper metaphysics – Messianic half-hopes, Hegelian negativity, existentialism, even a dazzled vestigial faith in poetry or music», notiert der Kunsthistoriker T.J. Clark in seinem Nachruf auf den wunderbaren marxistischen Stadthistoriker Mike Davis. Letzterer gehörte zu den vielen Menschen, die im Laufe des Jahres starben, nachdem sie (auch mich) teilweise über Jahrzehnte inspiriert, herausgefordert, provoziert, ausgebildet haben (und dies weiterhin tun werden).
Das Konzept, das mich 2022 wahrscheinlich, vor allem in der zweiten Jahreshälfte, am intensivsten beschäftigt hat, war abolition. Man kann derzeit dabei zusehen, wie es sich rasant ausbreitet. Über seine angestammten Kontexte (der Zurückweisung von Sklaverei und Todesstrafe, von Polizei und Gefängnissystem) hinaus setzt es nun weitere Institutionen wie die Familie oder die Universität (oder gleich das proprietary self im Ganzen) unter Druck. Empfehlenswert dazu: die am HAU von Vanessa E. Thompson und Daniel Loick organisierten und geführten Gespräche zu abolitionism, sowie die – essentielle – Aufsatzsammlung Abolition Geography. Essays Towards Liberation (2022) der Schwarzen feministischen Geografin und Aktivistin Ruth Wilson Gilmore, die im Medium der politischen Ökonomie demonstriert, wie wenig Politik, Wirtschaft, Justiz und Ökologie auseinandergehalten werden können, wenn es um die Arbeit an der Abschaffung des racial capitalism und dessen Technologien der Entfernung von Millionen Menschen aus Öffentlichkeit und damit politischer Teilhabemöglichkeit geht.
Eine Ausstellung über die Zeichnerin und Grafikerin Hanna Nagel (1907–1975) in der Kunsthalle Mannheim erwies sich als fulminanter Beitrag zu einer feministisch-psychovisuellen Ontologie des (heterosexuellen) Paares in der Zwischenkriegszeit. Die von Ekaterina Degot und David Riff kuratierte Ausstellung Ein Krieg in der Ferne zum Steirischen Herbst in Graz kontextualisierte und kommentierte extrem ideenreich, erzählerisch und oft unerwartet das Geschehen in der Ukraine. Das Programm des letzten Jahres am HKW in Berlin war ohnehin sehr reich (siehe u.a. No Master Territories von Hila Peleg und Erika Balsom), und dann endete es noch auf dem grandiosen Schlussakkord der drei Ausstellungen/Forschungsprojekte Ceremony (Burial of an Undead World), The Missed Seminar und Three Doors vor der Staffelübergabe an die neue Intendanz. Nicole Eisenman and the Moderns. Heads, Kisses, Battles, eine Wanderausstellung, die Bilder der Malerin mit überraschenden Entdeckungen aus den Tiefen der Sammlungsmagazine der Kunsthalle Bielefeld, des Aargauer Kunsthauses und des Kunstmuseums Den Haag kombinierte, konnte ich auf deren erster Station in der Fondation Vincent Van Gogh Arles sehen, was mich – lieber zu spät als nie – zum Eisenman-Fan konvertieren ließ. Die Rabih-Mroué-Ausstellung in den KW war eine in dieser Dichte und Virtuosität dann doch überraschende, pointiert-essayistische Retrospektive über Wahrheits- und Erinnerungspolitik. Schließlich im Sommer: Das Dormitorium im Dominikanerkonvent von San Marco in Florenz, diese spätmittelalterliche modulare Hostelarchitektur im ersten Obergeschoss unter einem riesigen Dachstuhl, mit Zellen, von denen jede mit einem Originalfresko aus der Werkstatt Fra Angelicos ausgestattet ist.
Nicht so beeindruckt, wie 2021 noch erhofft, hat mich die documenta fifteen. Aber dafür reichlich beschäftigt. Der kuratorische Bruch mit der Hegemonie des Finanzindustrie-getriebenen Betriebs der Gegenwartskunst samt Umkehrung der Perspektiven (Individualität/Kollektivität, Nord/Süd usw.) hatte angesichts der unkontrollierten Artikulationen (und Instrumentalisierungen) von Antisemitismus einen inakzeptabel hohen Preis. Leider ist davon auszugehen, dass die konzertierte Zuspitzung von Kulturpolitik auf Kulturkampf, die mit der Debatte um die documenta fifteen nur ein weiteres Mal eskalierte, im neuen Jahr ihre Fortsetzung findet.
Das Kino verlässt den Saal. Der Krieg ist nicht mehr ailleurs und là-bas, sondern ici. Im Radio ist die Rede von «Haubitzen». Bonapartismus als Farce und Tragödie, ici et ailleurs. Perfekt zum Seminar über Wiener Moderne und Film: das Reich zu gross, die Grenzen zu durchlässig, die Mädchen zu süss, ein fieser Autokrat und ein junger Mann, der endlich was unternimmt: Der Junge Medardus, Arthur Schnitzlers Krieg-und-Frieden-Drama von 1910 zu Massenpsychologie und Militarisierung, 1923 verfilmt als aktualisierende Überblendung von Schönbrunn und Versailles vom jungen Mihály Kertész, der sich nichts gefallen lassen wollte. Harry Warner hat sich verlassen auf die Expertise des Mannes, der später Michael Curtiz hiess: «Remember that Casablanca was completed and ready weeks before our forces invaded North Africa and that, almost on the heels of the first invasion barge to touch African soil with our soldiers, it was on the screen, helping in its definite way to interpret the action for you, to explain Vichy France for you.» Was haben wir denn eigentlich gesehen, Junge, mit blauen Augen, vergangenes Jahr? I saw ten thousand talkers whose tongues were all broken, I saw guns and sharp swords in the hands of young children. Ich hab Serien gesehen. Und ein paar Remedien gegen blaue Augen. Erstens William Kentridges Büchner-Berg-Wozzeck im März in Paris, Reprise der Salzburger Inszenierung, ein Gasmasken-Erster-Weltkriegs-Haubitzentheater, Alptraum explodierender Landschaften in der Etappe Opéra Bastille. Alban Berg schrieb die Oper während er vom Wiener Kriegsministerium immer nur kurz k.u.k.-frei hatte. Kentridge kondensiert Kohlezeichnungen, 35mm-Projektionen, Puppen und Figuren zur Orientierungslosigkeit der Gegenwart. Hat wer geschossen? Wurde wer erschossen? Tote sind zu erwarten, wenn man von Haubitzen spricht. «The opera has at its heart a desperation about violence against man» (Kentridge). Das waren Zeiten, als man Krieg einfach ablehnen konnte. Remedium zwei ist Pedro Almodovars Madres Paralas, ein Kurzschluss von Gewalt und Genetik, der als Melodram zum Heulen gut funktioniert. Remedium drei im Oktober die wahnsinnige Inszenierung des Freischütz’ in Freiburg, ein Voudou-Film von Showcase Beat Le Mot, in dem schiessende junge Männer, alle in wehenden Kleidern, als Schisser in Wolfenweiler mit einem Zombie paktieren, der einen tollen Waffenzauber verspricht. Zwei Stunden Kaputtlachen, wenn’s sonst nichts mehr zu lachen gibt. Tragödie, Farce, Oper, Melodram. Sauve qui peut. Unser Film Amitié ist 2022 endlich fertig. «To interpret the action and explain Zeitenwende-Germany for you». Eine Komödie. Die Warners meldeten sich bisher nicht. Jede Kultur ist getragen von einem Widerstand gegens Entweder-Oder (Baecker). Make Amitié not War. Ich kam kaum ins Kino. Aber das Kino kommt jetzt wieder raus zu uns. Dann noch die Alten vom See, die die Erde verlassen: «dites au doux Royaume de la Terre que je l’aimais plus que je n’ai jamais osé dire». Dazu demnächst mehr.
Ich habe etwas Angst, dass meine durchaus verkrampften Verrenkungen bezüglich jener Ereignisse, die von diesem Jahr bleiben sollen, dazu führen, dass ich alles, was ich hier nicht nenne, vergessen werde. Ein Blick auf meine Beiträge aus vergangenen Jahren aber beruhigt mich. Ich vergesse auch das, was ich aufgeschrieben habe. Trotzdem verbleibe ich unsicher.
Zunächst schwebte mir eine Liste vor, ganz klassisch, in der ich in altbekannter Manier subjektive Highlights wiederkäue, etwa die peinlichsten Begegnungen in österreichischen Zügen, die Taube des Jahres (wie im vergangenen Jahr wäre das die betörend gurrende Sophie, die auf dem Nussbaum schläft), die ungelegensten Anrufe oder den anstrengendsten Film des Jahres (Triangeln der Traurigkeit verstummt endlich!). Da ich aber während des Jahres keine Listen führe (und auch außerhalb des Jahres nicht), müsste ich gewissermaßen das ganze vergangene Jahr in meinem dazu eher abgeneigten Gedächtnis rekapitulieren, wozu ich schlicht zu faul bin. Ich bevorzuge die Kapitulation der Rekapitulation, da bin ich ganz Realist.
Leider kann ich nicht verhindern, dass ich mich doch einmal etwas erinnere und für den Fall, dass das geschieht, möchte ich hier nur kurz festhalten, dass ich im Sommer mit Viktor, Ella und Gabi drei bezaubernde Esel kennenlernen durfte. Sie grasten auf einer abgelegenen Alm in Oberösterreich, wobei der arme Viktor (aus wahrscheinlich für ihn kaum nachvollziehbaren Gründen) von den beiden Damen durch einen Zaun getrennt wurde. Er quittierte das nachdrücklichst mit jenem charakteristischen Ruf, der sich evolutionär eigentlich an die zerklüfteten Felsenlandschaften Nordafrikas anpasste, aber auch in den Alpen ganz hervorragend wirkt. Im Gegensatz zu mir kapituliert Viktor nicht. Ihm bleibt auch sicher mehr von diesem Jahr, denn manchmal schlichen sich die beiden Damen an den Zaun und dann wurde sich über Holz und Draht beschnuppert und die Gerüche nahm Viktor mit sich und dann träumte er von ihnen und wälzte sich im Gras und das ist so viel schöner als all der Unfug unten im Tal, das muss einmal gesagt werden.
Es handelt sich um äußerst seltene Österreichisch-Ungarische Weiße Barockesel (es gibt circa 350 Tiere), eine, der Name ist hier doch recht vielsagend, Art mit weißem Fell, die im Rokoko in Ungarn und Österreich gezüchtet wurde. Ich glaube, dass ich diesen Frieden, der über mich kam, als ich den Eseln beim Weiden zusah und meine Hand auf ihre Köpfe legen durfte, nicht vergessen möchte. Ob mir das gelingt, weiß ich nicht, ich ahne aber, dass mehr daran hängt, als nur eine schöne Erinnerung.
Die weißen, leeren Blätter der Demonstranten in China. Die nächtlichen Rufe über den Dächern von Teheran: «Tod dem Diktator!» Die Sprachformen des Widerstands verblüffen mich genauso wie der Mut der Menschen, die unter Todesgefahr aufbegehren.
Im November telefoniere ich mit meinem Onkel, der den Iran 1981 für immer verlassen hat. Er äußert sich skeptisch über die Erfolgsaussichten der jüngsten Protestwelle. So wie damals, als die BBC, die Deutsche Welle oder Radio Moskau wohlwollend über Khomeini berichtet hätten, würden auch heute noch Medien nicht genügend Druck erzeugen, meint er – ganz abgesehen von der heuchlerischen internationalen Politik. Ich widerspreche nur zögerlich. Kurz will ich glauben, dass in dem Umstand, dass die mediale Hegemonie einer viel größeren, wenn auch disparaten Pluralität gewichen ist, etwas Positives liegt (und weiß doch insgeheim, dass ich es morgen schon nicht mehr so sehe.)
Im Mai treffe ich Masha Gessen zum Interview im Hotel Regina. Sie:er hat auf jede Frage klare, analytisch prägnante, unmissverständliche Antworten parat. Auf Drittmeinungen gibt sie:er nicht viel – Žižek? «Next question.» –, dafür ist sie:er auf eine Weise kategorisch, dass mir nachher der Kopf schwirrt. Eine Lektion dieses Jahres, vielleicht: Positionen so nahe an sich heranlassen, dass sie die eigene Überzeugungen perspektivisch verzerren und dadurch unweigerlich erweitern. Großes Ärgernis des Jahres: All diese «Jumping-on-bandwagons»-Debatten, die schon ein starres Framing hatten, bevor sie überhaupt begonnen haben – egal, welche einem dazu einfällt, it’s one of them.
Der beste «Care»-Film des Jahres: SHOWING UP von Kelly Reichardt. Eine Taube wird von der Künstlerin Lizzie zuerst ausgesetzt, um schließlich doch wieder in ihrer Pflege zu landen. Michelle Williams ist großartig darin, wie sie Lizzies durch Prokrastination genährtem Grant einen Habitus verleiht: zerrissen (und loveable) zwischen egozentrischem Genervtsein und unauslöschlichem Sozialinstinkt. Andere beste Filme: DE HUMANI CORPORIS FABRICA (Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel), AFTERSUN (Charlotte Wells), NOPE (Jordan Peele), PACIFICTION (Albert Serra), UNRUEH (Cyril Schäublin)…
Das Godard-Video, das kurz nach seinem Tod kursiert ist (und dann doch kein «letztes» war): Ein verzagtes «bof», dann viel, viel und noch mehr Rauch aus seiner Zigarre, hinter dem sein Gesicht fast verschwindet.
Ein Orwell-Jahr war es auch, endlich seine Katalonien-Kriegserfahrung als aussichtsloser Anarchist gelesen. Bei Sinthujan Varatharajah bin ich ihm bei der Elefantenjagd wieder begegnet, das Rebecca-Solnit-Buch ist in Arbeit.
Musik: Jeff Parker, Mondays at The Enfield Tennis Academy, alles von Jamie Branch (what a loss…), Eiko Ishibashi (DRIVE MY CAR, For McCoy), immer wieder The Cure (die live immer noch «epic» sind).
Alles, was in diesem Jahr möglich war, war dank COVID-Impfungen möglich. Zwei Konferenzen in Seoul im August, eine in Berkeley im Oktober, endlich wieder dieses Gleiten von Fachdiskussionen in ungesteuerten Ideenaustausch und thematisch daneben liegende und gerade deshalb anregende Gespräche. Menschen treffen, von denen man gar nicht ahnen konnte, dass man sie unbedingt treffen sollte. Sich endlich wieder durch fremde und nicht so fremde Städte treiben lassen, endlich wieder Tage, die aus Zufallsketten bestehen. Momente, die der Sound aus den Kopfhörern plötzlich zu Erfahrungen macht (RE-201/Deadbeat, Pressure Dub, im klaustrophoben Quarantänehotel, in das es mich in Seoul dann doch noch verschlug; Automat, Ghost, beim Blick auf Wattewolken irgendwo zwischen Sisimiut und Pangnirtung). Konzerte: das große Bedürfnis nach dem live. Die Mego-Nacht bei den Wiener Festwochen zu Ehren des 2021 verstorbenen Peter Rehberg mit fantastischen Sets von Fennesz und KMRU, die Xenakis birthday party im Belvedere 21, ebenfalls bei den Festwochen, mit einer Aufführung seiner Legende d’Eer durch Wolfgang Musil, später dann Junko Uedas gesungene Erzählung der Heike monogatari zur Biwa. Irgendwann in den Wochen danach ein Radio-Feature über Iannis Xenakis’ Umgang mit Musik aus anderen Weltgegenden, wie aufwändig er Archive durchsuchte, wie aufmerksam und fein er sich mit Klängen befasste, und wie grobschlächtig sich demgegenüber seine Kritik an japanischen Komponisten ausnimmt, sie würden ihre eigene Tradition mißachten, vergessen, weil sie sich für europäische Musik interessierten. Bei der Viennale im Herbst zwei von Matthieu Amalrics Filmen über John Zorn gesehen (Zorn I, Zorn II): Filme über das Zuhören; überrascht gewesen, wie spannend es sein kann, jemanden einfach nur beim Zuhören zu beobachten, nicht mehr, nicht weniger. Im Herbst dann Ceremony II von Georg Friedrich Haas beim Festival «Wien Modern», 240 Minuten auf teils außergewöhnlichen, historischen Instrumenten (Theorbe, Zink, Arciorgano) in insgesamt 29 Räumen der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums, Superlative der Mikrotonalität, penibel berechnet, dem zufälligen Spaziergang der Zuhörenden anvertraut. Die erste vollständige Aufführung von Olga Neuwirths coronAtion-Zyklus durch Robyn Schulkowsky, Joey Baron und Lukas Niggli an Schlagwerken im Bürojugendstil von Otto Wagners Postsparkassenhalle (insgesamt fast zehn Stunden lang; ich schaffte immerhin fünf). Liegekonzerte, Gehkonzerte. Zufällig zu den Kings of Convenience im ausverkauften Wiener Volkstheater geraten; wie die zwei schmalen Norweger die letzte Zugabe mit akustischen Gitarren ohne Mikrofone vorne am Bühnenrand darbieten, der riesige Saal unglaublich still. Gegen Ende des Jahres noch eine Aufführung des Wiener Musikerkollektivs Studio Dan von neuen Stücken, die mit einem Fortran-Programm von Xenakis komponiert wurden. Wie kann man ein Jahr, in dem eine wissenschaftliche Entwicklung – die der Impfung – dem Zufall wieder Raum verschaffte, besser beschließen als mit Musik, die sich der Aleatorik verpflichtet?
Am 19. April gelang es mir innerhalb von zwei Minuten zwei neue Tierarten zu entdecken: Die Taubenelster und die Schwalbenmöve. Bei Mariakerke an der belgischen Küste, ganz in der Nähe von James Ensors Grab, notierte ich die beiden Entdeckungen, und war mit mir zufrieden. Dann aber gelangte ich an die Information, dass die Schwalbenmöve ihren Namen schon 1819 bekam. Nun hätte ich mir sagen können: «Immerhin die Taubenelster», aber ich sehe auch diese «Entdeckung» inzwischen kritisch, nur mehr in Anführungszeichen.
Am nächsten Tag fand ich in einem Second-Hand-Laden das berühmte, von Luigi Colani entworfene Hannen-Alt-Bier-Glas. Ich kaufte es für nur 30 Cent. Das Fundstück erschien mir sehr wertvoll, vielleicht weil von allen Seiten her die Schönheit von Oostende ihren Glanz auf das biomorph geformte Glas warf. Die schöne Stadt am Meer, das schöne Belgien, das schöne Europa. Das Bierglas des genialen Designers lässt sich freilich nicht verwenden, ein jeder beschlabbert sich damit.
Das Jahr verlief allgemein so, dass Tröstungen vonnöten waren. Mir halfen alte Lieblingsfilme: Liberty (1929 Leo McCarey), Peter Ibbetson (1935 Henry Hathaway), Objective Burma! (1945 Raoul Walsh), The Bishop’s Wife (1947 Henry Koster), Westward the Women (1951 William Wellman), The Raid (1954 Hugo Fregonese), The Incredible Shrinking Man (1957 Jack Arnold), Strait Jacket (1964 William Castle), Targets (1968 Peter Bogdanovich), The Social Life of Small Urban Spaces (1980 W.H. Whyte), Miracle Mile (1988 Steve de Jarnatt).
Beim Wiedersehen nach 40 Jahren staunte ich am meisten über An American Werewolf in London (1981 John Landis). Dass da kurz vor der Verwandlung bei Vollmond, dieser wilde Film sich plötzlich die Zeit und die Freiheit nimmt, jene Kraft zu skizzieren, die allem Schrecken vorangeht: die Langeweile – die Mutter des Universums.
Im Sommer waren wir ehrgeizig, wir suchten im Waldbad Dünnwald, im äußersten Nordosten der Stadt, das Glück des Südens, und tatsächlich ergab sich durch hartnäckiges Immer-wieder-dort-Hinfahren die süße Routine eines Badeurlaubs. Mit Kiefern, die Schatten spenden, einem Schwimmbecken zum Abkühlen, und einem Buch gegen die Langeweile.
Das geeignete Buch – gegen die «Mother of the Universe» – war Marianne Langewiesches Ravenna. Darin gefiel mir besonders die Geschichte der todesmutigen Galla Placidia (388-450). In meiner Fantasie verfilmt mit Sophia Loren, vielleicht von Anthony Mann. Mit Anthony Quinn als König der hungernden Westgoten, «der ohne Erinnerung mehr, dass man und wie man den Pflug führen könne», die aus Rom entführte Galla gegen Weizen aus Ägypten eintauschen möchte. Ihr Bruder jedoch, der römische Kaiser Honorius... Peter O’Toole? ...lehnt den Tausch der Geisel ab. Mit unklaren Absichten heiratet Galla daraufhin den Gotenkönig. Musik: Alex North? «Sie erobern Barcelona.» Am nächsten Tag, im lichten Schatten eines Kiefernwäldchens…
Der Film des Jahres Liebe, D-Mark, Tod (von Cem Kaya) ist eine funkelnde Schatztruhe voll grandios geglückter Musikerportraits und zugleich eine berauschende Geschichtslektion: Musik, gerade populäre Musik, hat immer wieder in dem, was sich ihr entgegenstellt, auch im Rassismus, ihre Herausforderung, ihren andauernden utopischen Antrieb. Es ist in der Stimmung dieser leidenschaftlichen Doku tatsächlich vorstellbar, dass aus der Menschheit noch etwas werden könnte. Auf Platz 2 meiner Top Ten: Massive Talent von Tom Gormican, mit Nicolas Cage als Nicolas Cage, der sich wünscht, «als Schauspieler ernst genommen zu werden. Dies gelingt ihm hier – absurder kann es kaum sein – mit Hilfe einer Komödie.» (Sabrina Mikolajewski) Platz 3: Schweigend steht der Wald von Saralisa Volm. Platz 4: Champagner für die Augen – Gift für den Rest von Klaus Lemke…
Die Musik des Jahres «Frag nicht, warum ich weine, frag nicht warum…» Willi Forst und Lewis Ruth: «Das Lied ist aus» (1930), Peppino di Capri: «Danny Boy» (1960), The Mighty Sparrow: «Kennedy & Khrushchev» (1963), Julie London: «Louie Louie» (1969), Ornella Vanoni: «L’Appuntamento» (1970), Bob Dylan: «Too Late» (1983) + «New Danville Girl» (1984), The Pogues and Kirsty MacColl: «Fairytale of New York» (1987), Queen Esther: «Oleander» (2021), Tom Jones: «I Won't Lie» (live 2021), Dan Reeder: «Young at Heart» (2021) + «This Guy I Knew Died» (2022). Bevor Bob Dylan im Gedenken an Jerry Lee Lewis «I Can't Seem To Say Goodbye» singt, spricht er zum Publikum fast zärtlich, beinahe heiter, wie zu einem untröstlichen Kind: «Jerry Lee will live forever. We all know that.»
Wir hatten mit Regen gerechnet, dann kam und strahlte die Sonne, Nick Cave als Waldbühnen-Pathos-Priester, ein sehr besonderes Draußenkonzert. Wärme, nicht Hitze, aber kein Regen in Venedig nach der Schwüle von Pruno, der Kanal noch da, die Giardini noch da, wir wieder da und ein paar der schönsten Gemälde der Stadt, von Tintoretto, gleich dort, wo ich im Jahr 2015 mal wohnte, ohne von ihnen zu wissen. In Paris im Herbst schon wieder kein Regen, angenehme Spaziertemperaturen, der Park noch da, Batignolles noch da, Corona noch da, wir wieder da und viel zu Fuß unterwegs. Das Jahr durch: der Laptop mein Kino, das Theater mein Theater, die Hörbücher meine Literatur. Balzac und Maigret, Agatha Christie und Hollywood-Regisseure, kleine und große Fluchten, Abschied und Abkehr, auch die von Twitter, good riddance, Rückzug in heimische Bezirke. Von allem weiter Notizen gemacht. Was eben so hilft, wenn nichts hilft.
Ich konnte es kaum glauben, als Lars Gass mir Anfang April 2022 mitteilte, bei der Eröffnung der Kurzfilmtage Oberhausen am 4. Mai einen Film zeigen zu wollen, den ich vor 44 Jahren gedreht hatte: Zigeuner in Duisburg. Wichtig war uns beiden, dass nach der Vorführung Angehörige der im Film geschilderten Sinti-Familie Mettbach von ihrer Lebenssituation heute berichten.
Das in Lima/Peru erscheinende Film-Magazin desistfilm («We are people who got to know each other via Skype, chat and emails. People with whom we have shared and debated about our main passion and interest: true cinema. Cinema as a poetic object, as a unique, magical experience.») schreibt über diesen Zeit-Spagat: «Es gibt zum Beispiel eine Szene, in der man die Kinder dieser verarmten Migrantenfamilie zur Schule gehen sieht. Es ist vielleicht die Einstellung, die den weitreichendsten Blick auf die Zukunft dieses Volkes wirft, insofern es die Schulkinder sind, denen es möglich zu sein scheint, auf die andere Seite, jenseits des Randdaseins zu gelangen, und die andererseits auch auf eine symbolische Beziehung zur Gegenwart anspielt, und dies umso mehr, wenn wir uns daran erinnern, dass zwei Schwestern aus der Familie, die in dem Kurzfilm porträtiert werden, den Filmemacher bei der Eröffnungszeremonie begleitet haben. So trug das Festival dazu bei, eine beeindruckende Ellipse herzustellen zwischen dem, was dieser Dokumentarfilm war, und dem, was diese beiden Frauen darstellen, als sie sich jetzt, fast vierzig Jahre später, auf der Leinwand sehen (beobachtet, objektiviert).»
Die Vorführung in Oberhausen hat mit den Anstoß dazu gegeben, dass im Dezember 2022 der Sinti-Verein Duisburg gegründet wurde. Duisburger Sinti wollen die Bürgerrechtsarbeit selbst in die Hand nehmen.
Vor Weihnachten habe ich Elli Mettbach in ihrem Wohnwagen in DU-Neuenkamp besucht. 1941 wurde sie kleines Mädchen zusammen mit ihrer Großmutter Maria ins okkupierte polnische Generalgouvernement deportiert. Als Holocaustüberlebender drückt ihr die Stadt Duisburg im Jahr 2022 denselben Obdachlosen-Status auf wie im Film 1978 gezeigt, als sie von ihrem Wohnplatz in DU-Obermeiderich vertrieben wurde.
Elli auf die Frage, warum sie bis heute mit ihrer Familie auf einem Platz und im Wohnwagen lebt:
«So lang wie ich leb, bleib ich in meinem Wagen; und wir wollen ja auch hier auf dem Platz bleiben und nirgendwo anders hin. Die paar Jahre, die ich noch lebe, das ist das Schönste noch; weil ich bin von Kind auf im Wagen groß geworden. Ich könnt mich gar nicht in einer Wohnung wohlfühlen, das geht gar nicht. Ich bin manchmal bei meinen Enkeln für eine Stunde oder halbe Stunde, macht mich ganz krank, kann ich’s nicht mehr aushalten, muss ich sofort wieder raus. Und hier, wenn ich die Tür aufmach, bin ich in Freiheit, da, bin ich draußen.»
Yoga
Zum Geburtstag, der bei mir auf Silvester fällt, bekam ich ein Jahresabo für find what feels good, der Yoga App von Adrienne. Seitdem atme ich täglich gemeinsam mit einer Million oder mehr Followern mit Liebe ein und mit Liebe aus. Der Vorspann zeigt Adrienne im Yogasitz vor der Skyline von Austin, das mal für fünf Jahre meine Wahlheimat war. Sie ist immer gut aufgestellt und leitet einen geduldig durch die Übungen. In der Regel folgt eingangs nach einem «Hi guys» oder «Hello party people» die Versicherung, dass das Schwerste schon geschafft sei: Wir haben das Video angestellt und sitzen vor dem Bildschirm auf der Yogamatte. Head over heart, heart over pelvis, die New York Times nannte es Anweisungen im Ton einer geduldigen Kindergärtnerin. Ich finde eher, es ist der Ton einer engagierten Yogalehrerin. Die Muskeln werden einmal durchbewegt, die Hüfte wird gelockert und die Sehnen gedehnt, Downward-facing Dog, Warrior, Plank und Cobra, feel the flow. Natürlich gibt es Lieblingspositionen und andere, die ich wohl nie schaffen werde. Die Koordination der Gliedmaßen erfordert Konzentration, was zu einer Unterbrechung der Gedankenschleifen führt, und darum geht es. Emanuel Carrère erklärt den entsprechenden Überbau im ersten Drittel seines Buchs Yoga, ohne groß damit zu nerven. Yoga mit Adrienne kann man natürlich an Intensität und Ernsthaftigkeit nicht mit den Retreats vergleichen, auf denen Carrère sich rumtreibt, ganz zu schweigen von der Perfektion der Ausführung, da kann bei mir keine Rede von sein. War eine Corona Sache, find what feels good, die hängen geblieben ist und der ich auch während der folgenden Krisen im Jahr 2022 treu blieb. Einatmen mit Liebe für den Widerstand in der Ukraine, ausatmen mit Liebe für die Energiewende, einatmen mit Liebe für die Aufhebung der Klassenunterschiede, ausatmen mit Liebe für die Biodiversität. Mich freut es schon auf den 30 Tage Kurs, mit dem Adrienne immer das neue Jahr beginnt. Komme 2023 was wolle, mit Liebe ein- und ausatmen ist schon mal eine gute Basis.
Als seriensüchtige Extrem-Streamerin muss ich mich am Ende des Jahres meines Lebens vergewissern, indem ich die Wiedergabelisten diverser Streamingdienste herunterlade – als persönliches Tagebuch. Und dann erstaunt zunächst einmal, was nicht vom Jahr bleibt, an welche Serien ich mich beim besten Willen nur vage erinnern kann, obwohl der Streamingverlauf anzeigt, dass ich sie komplett gesehen und viele Stunden mit ihnen verbracht habe. Dazu zählen: Ein Teil von ihr, God’s Favorite Idiot, The Pentaverate. Was vom Streamingjahr bleibt, weil ich mich auch ohne Liste erinnere, sind: Les 7 Vies de Léa, Dirty Lines, Paper Girls, Inside Man. Dass die Serien hängen geblieben und auf je eigene Weise prägnant sind, impliziert aber nicht zwingend eine Empfehlung.
Ans Herz legen möchte ich dagegen ‹Südafrika›. Der nigerianische Film (Nollywood) hat in den letzten Jahren international eine gewisse Aufmerksamkeit erregt, und unverkennbar war der Ehrgeiz seitens der Produzenten und Distributoren, dies auszubauen – im Wesentlichen aus kommerziellen Gründen und als Wirtschaftsfaktor, aber auch, um der Welt ‹Nigeria› zu präsentieren. Nun hat sich Netflix auch Nollywoods angenommen, aber mich haben eher die Produktionen aus Südafrika gepackt: Schon länger Blood & Water, die dieses Jahr in die dritte Staffel ging; in diesem Jahr Savage Beauty, Young, Famous & African. Und wenn man sich mal eingesehen hat: The Brave Ones, Ludik, Justice Served…
Die Serien sind von sehr unterschiedlicher Qualität, realisieren völlig verschiedene Genres, spielen gänzlich unterschiedliche Tonlagen zwischen Glamour und Sozialkritik. Darauf kommt es aber erst in zweiter Linie an, denn wir haben ja von Moritz Baßler gelernt: Paradigma toppt Syntagma. In den Serien werden Themen angerissen, die man auch bei geringer Kenntnis mit Südafrika verbinden kann, Stadt- und Naturlandschaften gezeigt, Bekleidungsmoden präsentiert, Musik eingespielt, sodass ein sinnliches Südafrika-Mosaik stets überdeutlich wahrnehmbar ist, egal welchem Plot man folgt. Unter dem Vorzeichen der typischen Netflix-Ästhetik ist das kulturell ohnehin nicht ganz fremde Südafrika international bruchlos anschlussfähig.
Die Serien scheuen sich nicht, in die Vollen zu hauen, sowohl was die Überladung mit geschichtlich geprägten, diskursiven Aspekten wie ökonomische oder politische Probleme auf der einen Seite betrifft als auch die opulente und fast obszöne Zurschaustellung von Reichtum im Hochglanzformat auf der anderen Seite. Damit das ganze Tempo bekommt, weil die Staffeln in der Regel wenige Folgen haben, darf die Narration (nicht bei allen, aber manchen) der Serien ein wenig holzschnittartig sein, aber das macht ehrlich nichts, weil man im Sinne John Fiskes einem semiotischen Exzess der populär- und pop-kulturellen Paradigmen beiwohnt.
Nun könnte man vielleicht von einer Netflix-Kolonialisierung sprechen, aber ein exotistischer Blick von außen ist hier nicht am Werk. Vielmehr bietet Südafrika geballt und lustvoll ästhetische Konzentrate seiner selbst an, so wie das Deutschland in Dark mit Wald, Wald und nochmal Wald gemacht hat. Da sind meinen Augen Ansichten des Tafelbergs aber lieber – oder natürlich noch lieber Partyszenen und Großstadtszenarien.
Aber bei aller Liebe zu Netflix hat sich das Unternehmen 2022 nicht gerade durch hochwertige Dokumentationen hervorgetan. Sie sind oft reißerisch, dramaturgisch in die Länge gezogen, banal, gleichförmig… Und der traurige Tiefpunkt des Jahres ist Untergegangenen Zivilisationen auf der Spur. Hier werden diverse pseudowissenschaftliche Narrative, z.B. aus dem Bereich der Prä-Astronautik unhinterfragt präsentiert. Nun fällt mir das besonders auf, weil ich seit 2016 gerne ein epistemologisch-narratologisches Projekt zu ebendiesen Narrativen angehen möchte, immer mal wieder etwas lese und aufarbeite, aber doch nicht so recht dazu komme – und es auch noch kaum jemandem erzählt habe. Jetzt muss ich aber dieses Feld von einer variant of interest zu einer variant of concern hochstufen, wenn Netflix diesen Diskurs, der ja mit Erich von Däniken nicht wenig prominent besetzt ist, noch weiter popularisiert – und im Zuge der Pandemie sowieso... Was von dem Jahr also vor allem bleibt, ist die Erkenntnis, mich nicht weiter von diesem Forschungsvorhaben abhalten zu lassen und endlich loszulegen.
ABC (unvollständig)
Articles of Interest (Trufelman). Blackbird Spyplane (Weiner/Wylie). Claire Saffitz. Death of an Artist (Molesworth). Duisburg. Evolène. Kreta. Licorice Pizza (Anderson). Mommy Blogs und Mompreneurs. No Master Territories (Balsom/Peleg). Occhiali Neri (Argento). The Rehearsal (Fielder). The Souvenir 1+2 (Hogg). Tagebücher (Rutschky). The Undercurrents (Bell). Vlog #8998 | Korean Karottenkuchen & Our Makeup Routine (Kang-Gatto). White Lotus, Season 2 (White). Wien. Yoga (Carrère). Zielona Góra.
Geschichten, die bleiben. Zum Beispiel die Geschichte von Kazem Kazemi. Acht Jahre lang war der kurdisch-iranische Musiker nach seiner Flucht vor dem Teheraner Regime in australischen Abschiebungs- und Internierungslagern eingesperrt gewesen, allein sechs davon auf der berüchtigten Insel Manus. Auf Manus hatte Kazemi mit Hunderten anderer Geflüchteter Jahr um Jahr ohne jegliche Perspektive in von Stacheldraht umzäunten Zelten und Containern ausharren müssen. Er hatte die täglichen Demütigungen durch ein Wachpersonal über sich ergehen lassen, dessen Job ganz wesentlich darin bestand, ihm und seinen Mitgefangenen das Leben zur Hölle zu machen und sie zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu nötigen. Und er hatte mitansehen müssen, wie einer seiner Freunde, Reza Barati, 2014 bei einem Aufstand gegen die unzumutbaren Lagerbedingungen ermordet wurde. Aber auf Manus hatte er auch begonnen, auf einer Gitarre, die er durch eine australische Hilfsorganisation erhalten hatte, in der Waschküche des Lagers Heavy-Metal-Riffs zu üben und kurze Clips davon unter dem Künstlernamen «Manus Metal Man» ins Internet zu stellen. Es waren diese Clips, über die schließlich der Kontakt und später die Zusammenarbeit mit dem australischen Künstler Safdar Ahmed zustande kamen, der Kazemi zum Protagonisten seiner documenta-Arbeit Border Farce–Sovereign Murders–Alien Citizen gemacht hat. Die 2-Kanal-Videoinstallation, die, ergänzt um eine Graphic Novel, abseits der Hauptausstellungsorte im Stadtmuseum Kassel zu sehen war, gehörte für mich zu den wenigen eindrücklichen Erlebnissen auf dieser, man kann es kaum anders sagen, ansonsten gescheiterten documenta fifteen. Wir sehen Kazemi in der Küche seines Apartments in Sydney, wo er mittlerweile nach der gerichtlich verfügten Auflösung des Lagers lebt, und während er mit dem Fleischmesser Geflügel für ein Essen mit seinen Freunden zerteilt, erzählt er mit ruhiger Stimme von dem Grauen, das hinter ihm liegt. Wir sehen, im Wechsel dazu auf der gegenüberliegenden Leinwand, Kazemi mit der Heavy-Metal-Band, die Ahmed und er gegründet haben, ganz in Schwarz gekleidet und aufwändig geschminkt mitten im Wald stehend, wo sie buchstäblich einen Höllenlärm veranstalten. Und wir erfahren, welche Bedeutung diese Musik für ihn hatte und hat, wie sie ihm ganz unmittelbar das Überleben ermöglichte – und noch immer ermöglicht.
Es ist viel gesagt und geschrieben worden über diese documenta fifteen, darunter auch manch Kluges und Richtiges, insbesondere von Hito Steyerl und Meron Mendel. Viel weniger gesagt und geschrieben wurde jedoch über Künstler:innen wie Safdar Ahmed und Kazem Kazemi, dabei wären ihre Geschichten es wert gewesen, gehört zu werden. Dass dies kaum geschah, dafür ist wohl ebenso der völlig verfehlte Umgang von ruangrupa mit dem Antisemitismus in den eigenen Reihen verantwortlich wie die offenkundige Bereitschaft großer Teile der deutschen Öffentlichkeit, Antisemitismus primär als Problem des ‹Globalen Südens› zu verhandeln. Das Scheitern der documenta fifteen bot dabei für manche auch die einmalige Gelegenheit einer letzten Selbstversicherung westlicher Überlegenheit, und kaum jemand hat dies so stumpf und sprechend zu Protokoll gegeben wie Bazon Brock, der glaubte, sein Unbehagen am Verlust kultureller Deutungsmacht nun noch mal auf ganz großer Bühne als Kampf zwischen westlichem Individualismus und angeblichem «Schafstallgeblöke der kulturellen Identitäten» zur Aufführung bringen zu dürfen. Was jedoch in diesem medial und diskursiv aufgeblasenen Spiegelgefecht zwischen Nord und Süd, ‹Individuum› und ‹Kollektiv›, ‹Kunst› und ‹Kultur› etc. unterging, waren ganz entscheidende Fragen, die diese documenta hätte stellen können und in wenigen, viel zu wenigen Momenten auch gestellt hat: Was Kunst nämlich jenseits von Kunstmarkt und Kulturmarketing, Auktionsrekorden und Steuervermeidungsstrategien heute sein kann, was Bilder, Klänge und Geschichten an vergessenen und verdrängten Orten weit abseits der Zentren des Kunstbetriebs für eine Bedeutung entfalten können, und welche Kraft zum Überleben sie sogar jenen geben, denen westliche Regierungen im Namen des Rechts und der Sicherheit alle Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben nehmen wollen – am Südpazifik ebenso wie an den europäischen Außengrenzen, in den Lagern auf den griechischen Inseln, in Libyen, der Türkei und anderswo.
(Parallel zur documenta-Arbeit hat Safdar Ahmed auch eine sehr hörenswerte Hörspielfassung unter dem Titel The Border Farce Collaboration produziert, die beim Deutschlandfunk abrufbar ist)
Statt eines Rückblicks auf ein schwieriges Jahr drei Momentaufnahmen aus dem Monat Juli:
1. Besuch der Ausstellung No Master Territories im Haus der Kulturen der Welt. Zu sehen gibt es feministische Filmexperimente aus mehreren Jahrzehnten, hauptsächlich aus den 70er und 80er Jahren. Ich verliere mich zwischen den Screens, anfangs überfordert, dann wie in einer Schatzkammer. Vieles ließe sich hervorheben; ich beschränke mich pars pro toto auf drei Arbeiten: auf Sara Gómez’ Mi aporte (Mein Beitrag, 1969): Frauen auf Kuba diskutieren kurz nach der Revolution über Berufstätigkeit, revolutionäres Engagement, wer den Haushalt macht und wie das gehen soll, die drei Dinge zu bewältigen. Das ist auch das Sujet eines kürzeren Films aus Polen, Krystyna Gryczełowskas The 24 Hours of Jadwiga L. (1967). Hier lassen sich Arbeit und Haushalt nur bewältigen, wenn die Hauptfigur das Schlafen überspringt. Schließlich mein Coup de coeur, Schmeerguntz (1966) von Gunvor Nelson und Dorothy Wiley. Bilder aus der Werbung, die sich einem weiblichen Schönheitsideal verschreiben, werden mit Alltagsbildern aus dem Haushalt und von der Leiblichkeit von Frauen konfrontiert, in einer entfesselten Montage, es ist hinreißend, so viel propere, verführerische Gefügigkeit, die auf Syph im Ausguss, Kinderkot in der Windel und Menstruationsblut stößt. Wer wissen möchte, was sich hinter dem in letzter Zeit so oft zu lesenden Begriff «embodied» verbirgt, bekommt hier erste Ideen.
2. Ein paar Tage später nehme ich einen ICE Richtung Süden, der hat Verspätung, so dass ich in Erfurt den Anschlusszug verpasse und einen längeren Aufenthalt habe. Ich gebe meinen Koffer in ein Schließfach und besuche den Erinnerungsort Topf und Söhne. Die Krematorien- und Ofenbauer belieferten mehrere Konzentrations- und Vernichtungslager, vor allem Auschwitz-Birkenau. Die Ingenieure und andere Mitarbeiter der Firma, allen voran der für den Ofenbau zuständige Herr Prüfer, fuhren regelmäßig nach Auschwitz, um das Funktionieren zu gewährleisten bzw. den Aufbau neuer Öfen zu überwachen. Von dem, was im Lager geschah, hatten sie Kenntnis.
Die Ausstellung ist im ehemaligen Verwaltungssitz untergebracht. Der Rest des Geländes ist einem Gartenmarkt und anderer Nutzung gewichen. In den Vitrinen sind viele Fotos, Lieferscheine, Gesprächsnotizen, Angebote und Kostenvoranschläge ausgestellt, eher wenige Gegenstände (zwei Zeichenbretter, Schamottsteine, Urnen). Im ersten Teil erfährt man viel über die strengen Regeln für die Einäscherung im frühen 20. Jahrhundert. Die wurden dann in den KZs komplett missachtet. Wenn Angehörige sich nach der Urne des Verstorbenen erkundigten (was zum Beispiel in Buchenwald bis 1942 möglich war), gab man irgendeine Asche in eine Urne und fälschte die Angaben auf dem Verschluss.
Je länger ich die Exponate studiere, umso klarer wird mir, dass niemand die Firma dazu zwang, sich in den Dienst der Vernichtung zu stellen. Das Engagement war für das Unternehmen weder besonders profitabel, noch brachte es andere Vergünstigungen. Aus der Zusammenarbeit mit der SS auszusteigen, dazu hätte es Möglichkeiten gegeben. Stattdessen entwickelten die Ingenieure Prüfer und Sander in vorauseilendem Gehorsam Prototypen für Öfen, die noch viel schneller und besser brennen würden.
Eine Figur ist besonders interessant, ein Mann namens Messing, der als Kommunist 1933 in einem KZ war und später bei Topf und Söhne zu arbeiten anfing; auch er war in Auschwitz und half dort, Krematorien zu errichten, sogar ein Überstundenzettel liegt vor. Nach 1945 wurde er in der DDR als Verfolgter des Naziregimes anerkannt. Ernst-Wolfgang Topf floh nach Wiesbaden, Ludwig Topf nahm sich das Leben, der Betrieb wurde als volkseigener weitergeführt. Eine Aufarbeitung kam nur langsam und gegen viel Wiederstand in Gang. Den Erinnerungsort gibt es seit 2005. Ich bin die einzige Besucherin in der Dauerausstellung.
3. Spaziergänge in und um Bad Kissingen, in den Pausen zwischen den Anwendungen. Im Kurpark, zum Kneippbecken, zu den Brunnen mit ihrem nach Eisen schmeckenden Wasser, zur Ruine Botenlauben, durch Buchenwälder, an der fränkischen Saale entlang zum Gradierwerk, einer gewaltigen Holzkonstruktion, die mit Reisig gestopft ist, das Wasser tropft daran herab, Salz lagert sich ab. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurde hier Salz produziert, heute ist das Produkt das Mikroklima, das den Atemwegen guttut.
Abends oder wenn es zu heiß ist, um spazieren zu gehen, schaue ich Filme, die ich, weil ich nicht zum FIDMarseille fahren konnte, bisher verpasst habe. Zum Beispiel Lav Diaz’ A Tale of Filipino Violence oder Kafka for Kids von Roee Rosen: Im Gewand einer Show für Kinder (à la Rappelkiste) wird Kafkas Die Verwandlung erkundet. Rosen entwirft dazu animierte Sequenzen, in denen Cuteness und Deformation zu einem eigensinnigen Stil zusammenfließen. Er schickt einen Geschichtenerzähler ins Feld, der den Text vorträgt, und eine kindliche, wenn auch von einer etwa 35 Jahre alten Schauspielerin gespielte Zuhörerin, die staunt, ungläubig fragt und manchmal sehr lange braucht, um Dinge zu begreifen. Musiker*innen spielen auf simplen Instrumenten, die Figuren im Rappelkiste-Set-up singen dazu und interpunktieren so den Fortgang der Handlung. Nach etwa zwei Dritteln kommt eine Abschweifung, in der die Schauspielerin, die das Kind spielt, eine juristische Expertin gibt, die einen Vortrag hält, um zu erörtern, welches Verständnis von Kindheit in den palästinensischen Gebieten gilt. Das Ganze ist weird, voller Klamauk, nicht auf den Punkt zu bringen, sehr simpel im Set-up (ein Raum, ein paar Kostüme, viel Make-up, die Animationen), zugleich sehr komplex in dem, was es evoziert.
Ich hätte schweigen sollen. Denn man muss diesen Unterschied kennen zwischen dem geschlossenen und dem offenen Kittel, und ich kannte ihn nicht, weil ich im vergangenen Jahr das erste Mal in meinem Leben als Patient in einem Krankenhaus war. Die Medizinsoziologie hat die soziale Ordnung des Krankenhauses gut erforscht, ihre Technologien, Medien und Praktiken, und der Kittel ist dabei ein ganz zentrales Medium.
Doch wie das so ist, wenn man sich unversehens in eine Situation als regulärer Teilnehmer mit regulären Problemen verwickelt sieht, nimmt man die einem regulär zugeschriebene Rolle an und entwickelt sie weiter (auch Patient*innen versuchen, bessere Patient*innen zu werden), und was sie da tun, während sie das tun, wird ihnen in der Regel erst später klar.
Wenn man dann auf dem OP-Tisch liegt und die Ärztin sich zum ersten Mal dem Körper nähert, in den sie nun einen Eingriff vornimmt, ist die Rolle als Patient größtenteils längst nach Standards hergestellt, leicht übersetzbar in folgende Handlungen und Behandlungen, Abrechnungen und Rechtfertigungen. Aber man wird auch aufgefordert, sich zu situieren, es wird etwa gefragt, wie es einem geht oder auch was man denn tue. Dies ist die Stelle, an der man gewissermaßen zur Entwicklung der eigenen Rolle motiviert wird.
Da ich nicht nur zum ersten Mal im Krankenhaus war, sondern dieses Krankenhaus auch noch das meiner Arbeitgeberin ist, sagte ich – halb for the sake of the joke, halb, weil ich in meiner heteronomen Lage so etwas wie organisationale Solidarität herstellen wollte: «Bin n Kolleege!»
Das sprach sich dann schnell rum, es half mir auch in den folgenden Tagen, zumindest kam es mir so vor, und ich glaube auch, dass ich deshalb frühzeitiger in den Toskana-Urlaub entlassen wurde, weil der Chefarzt natürlich sehr viel leichter mit dem «Kollegen» über den verantwortungsvollen Umgang mit Brunello und Morellino ins Gespräch kommt. Denn vor dem Vertreter einer geisteswissenschaftlichen Fakultät seiner eigenen Universität muss er seinen Status auf andere Weise herstellen: Thema der Interaktionen ist dann nicht mehr bloß mein Körper, sondern auch sein kulturelles Kapital, oder eher: unser beider – und die Freude dabei, es voreinander und füreinander zu reproduzieren.
Das war allerdings, wie mir eine Assistenzärztin dann später erklärte, die Station mit dem offenen Kittel, «die Innere». Auf der «Inneren» geht «es» nämlich «ganz anders zu» als etwa «auf der Chirurgie».
Von dem in diesem Jahr verstorbenen Bruno Latour ist zu lernen, dass «die Akteure ständig mit der Kartographierung des ‹sozialen Kontexts› beschäftigt sind, in den sie gestellt sind, und so dem Analytiker eine ausgewachsene Theorie darüber anbieten, mit welcher Art von Soziologie sie zu behandelt seien.» Dies funktioniert laut Latour insbesondere über die Definition von «Anti-Gruppen», und bei der Anti-Gruppe war ich nun nach dem Toskana-Urlaub untergebracht.
Damals kannte ich die Unterschiede zwischen der «Theorie» der «Inneren» und ihrer Anti-Gruppen noch nicht und ich versuchte, die gerade noch erfolgreiche Strategie zu wiederholen. Reproduzierte Praktiken in neuem Kontext können allerdings eine neue Bedeutung haben – vor allem, wenn dort eine andere «Theorie» darüber vorherrscht, wie soziale Ordnung routinemäßig hergestellt wird. Der bis zum Hals zugeknöpfte Assistenzarzt in der Chirurgie war dann auch gleich mächtig beeindruckt, einen «Professor» zu behandeln; das «Junior» davor schien er gleich überhört zu haben. Erst freute ich mich über den Effekt, den man als «Kollege» erzeugen kann – bis ich den Chefarzt traf.
Bei jeder seiner Visiten ein sozialpsychologisch fast schon triviales Theaterstück aufgeführt, dessen Ausführung aber doch recht komplex war. Vordergründig ging es um meine Behandlung, zugleich konnte man aber einen arrivierten Chirurgie-Professor mit Wikipedia-Artikel im Bergwerk seiner Status-Herstellung ackern sehen. Er war nicht unhöflich, auch in keiner Weise unprofessionell, und insofern hatte dies mit ackern auch wenig zu tun als vielmehr mit einem ziemlichen Drahtseilakt. Denn das Arsenal der Degradierungsmethoden ist letztlich doch ziemlich begrenzt, wenn man zugleich seine Rolle halten muss. Ich gehe hier nicht in die Details, interessant dabei war aber etwa eine Vielzahl von mehr oder weniger subtilen Abwertungsversuchen geisteswissenschaftlicher Fächer: Mal stellte er uns als PR-Fachleute dar («Ah, Medienwissenschaft, Sie sorgen dafür, dass wir in der Öffentlichkeit gut dastehen»), mal als Teil der BWL («Medienwirtschaft»), was ich korrigierte so weit es möglich war, doch er schien es bis zur nächsten Visite wieder vergessen zu haben.
Einerseits zeigte sich darin sicher auch bloßes Unwissen, in der Häufigkeit der Thematisierung war es dann aber zumindest ostentative Indifferenz: Alles außer Medizin (und vielleicht noch den MINT-Fächern) ist restliches «Whatever», was sich an der Universität halt noch so rumtreibt. Andererseits ist es schon auffällig, wie er all meinen Korrekturen zum Trotz all die ‹high›-Marker wie Kultur, Theorie und Geschichten wegdefinieren zu wollen schien; als BWLer und PR-Fachmann schien ich leichter operationalisierbar denn als Geisteswissenschaftler. Als Akteur dieser Situation war meine «Theorie» der Situation deshalb, dass seine Methoden daran arbeiteten, mein – von ihm vermutetes – kulturelles Kapital aus dem Krankenhauszimmer zu schaffen. Das scheinbare Unwissen war dabei Teil der Methode.
Diese Vorstellung, dass die immer wieder totgesagten Geisteswissenschaften und die Vorstellungen von ihnen in der Medizin doch so eine Macht zu entfalten scheinen, dass der eine (mit dem geöffneten Kittel) an ihr teilhaben wollte und mir alles Mögliche im Tausch dafür anzubieten schien, während der andere (mit dem geschlossenen Kittel) sie offenbar zu bekämpfen versuchte, fand ich doch sehr erstaunlich.
Auch wenn das Zeitalter der feinen Unterschiede in vielen Bereichen vorbei ist – auf der Chefärzt*innen-Etage scheint es lebendig wie in Bourdieus Frankreich der 1960er. Obwohl: Nicht ganz.
Das lässt sich auch an den Medien der öffentlichen Darstellung ablesen. In der Eingangshalle der Klinik fand ich eine Reihe von Tafeln, die alle mit «Menschen in weiß» überschrieben sind – darauf sind die vielen Chefärzte und die eine Chefärztin abgebildet. Die im Begriff der «Menschen» abwesend anwesenden «Halbgötter» springen einem semantisch ins Gesicht, nur so kann man sich heute noch als Halbgott inszenieren: «Mensch geblieben» (wer ‹Mensch bleibt› – das ist der perverse Untertext dieses Ausdrucks – hätte alles Recht, sich als mehr zu fühlen, beschenkt uns aber mit der Großzügigkeit bei uns zu bleiben).
Dass diese Bilder in der Eingangshalle, also buchstäblich dem «Vestibül» hängen, das Genette noch bloß als Metapher des Paratexts genutzt hatte, ist für sich genommen bereits ein interessantes Datum: Man muss daran vorbei, es ist sozusagen der architektonische Peritext der Klinik. Wer die Klinik lesen will, bekommt hier den Interpretationsrahmen bereitgestellt.
Auf den Tafeln steht eine Liste von standardisierten Beschreibungskategorien, in denen sich die Chefärzt*innen darstellen müssen. Ich würde gern jede einzelne Kategorie und jede einzelne Antwort auf jeder Tafel durcharbeiten, weil es so reichhaltiges Datenmaterial ist, will mich aber kurz halten: Es gibt einen ersten Block, in dem sie sich als Professionelle einführen, z.B. «studiert in» («Boston, Bochum, New York»), «gearbeitet in» und so weiter. Darunter sollen sie dann ‹menscheln›, dabei sind ein paar Kategorien die Ruhrpott-Pflichtprogramm sind wie «Mein Verein ist...», «Am Ruhrgebiet schätze ich besonders...», aber auch andere, in denen sie ihr kulturelles Kapital auslegen sollen – oder den souveränen Umgang mit diesem Problem: «Gutes Essen heißt für mich...», «Meine erste CD/LP/MC war...», «Mein schönstes Konzerterlebnis war...», «Mein liebster Autor ist...».
Die Chefärzt*innen werden hier in aller Öffentlichkeit geprüft; in Kulinarik, Musik, Literatur müssen sie gleichsam einen kultursoziologischen Fragebogen ausfüllen. Wie Latour (in Anlehnung an Garfinkel) schreibt, wird hier eine «Theorie» des Krankenhauses vorgetragen: Die «Menschen in weiß», nebeneinander aufgereiht wie in der Münchner Ruhmeshalle, müssen sich nicht nur medizinisch distinguieren, sondern auch kulturell, und dabei müssen sie zugleich diese Distinktion verwischen, indem sie wie alle sind.
Einer schreibt, die erste Platte war «von den Beatles» und in Elbphilharmonie habe er sein schönstes Konzererlebnis gehabt, Böll sei sein liebster Autor, und das schönste Essen sei das, was er mit der Familie genießen kann. Jemand anderes nennt als Konzererlebnis «Dvorak: Aus der neuen Welt, New York City 1999 mit Kurt Masur» und dazu «David Bowie, Westfalenhalle Ende der 80er».
Ich fotografiere die Tafeln ab und schicke sie an einen befreundete Medizinsoziologen und an einen Literaturwissenschaftler, mit denen gemeinsam ich im SFB Transformationen des Populären arbeite, denn das scheinen mir höchste relevante Daten zu sein; ‹Hochkultur› wird hier als Mittel der Statusproduktion weiterhin genutzt, mit Datum und Interpreten. Zugleich muss aber, anders als in Bourdieus Frankreich der 1960er, Registerkompetenz inszeniert werden: Neben die Elbphilharmonie stehen die Beatles, neben Dvorak Bowie; all das läuft fast schon schulbuchmäßig wie von dem Kultursoziologen Richard Peterson in den 1990ern beschrieben: Snobismus funktioniert nicht mehr, kulturelles Kapital wird eher durch eine bestimmte Form des «Omnivorentums» hergestellt, das die kulturellen Objekte aus ‹high› und ‹low› mischt.
Dvorak allerdings wird mit Jahreszahl benannt, Bowie nur mit Jahrzehnt, und während nach einer spezifischen Platte gefragt wird, reichen die Beatles als Antwort – ganz so, als habe es keine Werkentwicklung bei den Beatles gegeben. Kenntnis von ‹Hochkultur› ist demnach nachweispflichtiger als die der Populärkultur. Klassische Konzerte werden häufig und gleichsam prüfungsbereit benannt, als habe man auf genau diesen Fragebogen gewartet. Beim Schreiben über Populärkultur dürfen sich die «Menschen in weiß» aber einen faux-pas nach dem anderen leisten.
Doch auch die Kategorie der Literatur scheint komplexere Operationen zu verlangen. Die einzige Frau der Halbgötter-Reihe gibt etwa in einem geschickten Ausweichmanöver als Lieblingsautor «unser[en] 10-jährige[n] Sohn» an. Die Meisten nennen Autoren, die aus meiner Sicht eher Nicht- bzw. bestenfalls Selten-Leser angeben würden: Böll und Houellebecq sowie Karl Valentin, Ephraim Kishon, Helmut Schmidt. Einer allerdings nennt Jan Wagner – aber mit der Ergänzung «(Lyrik)», als sei das Mittel der Selbstdarstellung hier eher der Akt, sich als Lyrik-Leser auszuweisen.
Hier lebt die Hochkultur noch, mit all ihren Pein- und Widersprüchlichkeiten. Wer man ist wird durch Studium und Arbeit in New York, Boston und Bochum hergestellt, aber auch, indem man sich als Lyrik-Kenner zeigt. Kein Wunder, dass der Juniorprofessor aus der Fakultät für Philologie da erst mal ein- und mitunter auch umsortiert werden muss, denn die Geisteswissenschaften und ihre Gegenstände sind in der «Theorie» der sozialen Ordnung des Klinikums so relevant, dass sie Teil seines Paratextes sind. Dabei können sie mal der Statusstabilisierung dienen, mal verlangen sie komplizierte Ausweichmanöver, die möglicherweise für die Betroffenen «Menschen in Weiß» nicht immer angenehm sind, weil sie eben mitunter keine Lieblingsautor*innen haben, nicht in Konzerte gehen und so weiter.
Indem ich medizinsoziologisch unbedarft durch die Statuskonstrukte der Stationen gestolpert war, habe ich mich dummerweise zum Akteur dieser Statusaushandlung gemacht. Wenn ich mich durch diesen Text in die Lage des Beobachters erhebe, ist dies nicht ganz der Situation angemessen: Tief in all die Aushandlungen verwickelt, lief ich auf eine bestimmte Weise sensibilisiert durch die Gebäude der Klinik, und wurde natürlich an allen erdenklichen Orten fündig. Im Nachhinhein erscheint mir das eher wie ein Indizienprozess, den ich unfreiwillig führte, wie um mir zu beweisen, dass mir das Statusspiel, in das ich mich da verheddert hatte, nichts anhaben konnte. Das Theoretisieren der Praktiken des Krankenhauses fungiert dabei selbst als Praktik der Psycho- und Soziohygiene.
Als ich meinen Chirurgen, der mit kurz vorher den Bauch aufgeschnitten hatte, in der Ruhmeshalle der Nicht-Halbgötter fand, musste ich deshalb so sehr lachen, dass mir die Nähte schmerzten. Im Fernsehen schaut er am liebsten «Die Fallers», sein schönstes Konzerterlebnis war «ein Auftritt von Pur in den 70er Jahren». Kurz kommt mir der Gedanke, dass er neben den Dvorak- und Elbphilharmonie-Kolleg*innen damit doch auch recht souverän dasteht, hier so schamlos seinen schlechten Geschmack aufzulisten – irgendwie ist das doch auch cooler als die Methoden der Lyrik-Pretender?
Ganz unten auf der Tafel steht dann aber noch eine Kategorie: «Hätte ich ein Jahr Auszeit, würde ich...». Seine Antwort: «Ein Buch schreiben: ‹Das Leben ist kein Ponyhof›, aus Sicht des Mannes und der Frau.» OK, fuck off.
Ich steckte also mittendrin in der Praktik der «Definition von Gruppen und Anti-Gruppen» im Sinne Latours, weil ich im entscheidenden Moment nicht geschwiegen hatte, sondern dachte, ich könnte als «Kollege» meine Lage auf allen Stationen verbessern. Andererseits war das doch eine interessante Beschäftigung, mir die Zeit in der Klinik zu vertreiben, und eigentlich war es doch auch im Nachhinein ganz schön, dem alten Macho etwas sozio-kulturellen Stress verschafft zu haben.
Während ich dieses Geschehen zu rekonstruieren versuche, scrolle ich durch meine Fotos der «Menschen in weiß», die ich – vermutlich auch, um Interpretations-Allianzen zu finden – an den besagten Medizinsoziologen und den Literaturwissenschaftler geschickt habe. Mein freundlicher «Kollege» aus der «Inneren» taucht dabei gar nicht auf. Dass es keine Tafel von ihm gibt, ist unplausibel. Vielleicht hat er diese peinliche Aufgabe souverän gemeistert, mit offenem Kittel, ohne Prätention, sodass die Tafel kein allzu relevantes Datum für meine Kollegen war. Vielleicht wollte ich es aber auch lieber nicht so genau wissen.
In der Schattenbibliothek, die ich vor ein paar Jahren entdeckte und die ich seither häufig wie eine Suchmaschine verwende, gab ich irgendwann im Frühling den Begriff Crypto ein, weil ich eine Geschichte über die entsprechenden «Währungen» schrieb. Ich stieß dabei auf ein Buch mit einem ganz anderen (na ja) Thema: Jewish Cryptotheologies of Late Modernity: Philosophical Marranos von Agata Bielik-Robson. Es hat mich durch das Jahr begleitet, viel deutsch-jüdisches Denken (Rosenzweig, Scholem) in englischer translalienation, trotzdem ungeheuer anregend im Nachdenken darüber, wie die Philosophie als gottlose Theologie nihilistisch und messianisch und antinomisch und damit eben vor allem jüdisch über ihre abendländischen Großkonzepte hinauskommen könnte. Im November nahm dann das FBI die Schattenbibliothek hopps (this domain has been seized), ich habe sie aber später im TOR wiedergefunden. Vor dem Gesetz, hinter der Schwelle. Ich war in diesem Jahr in Kutaisi, in Sachsenhausen, mit Cyril Schäublin im anarchistischen Jura 1877 (Unrueh ist mein Film mindestens des Jahres), in der Charité und leider nicht in Mariupol, wohin ich im Sommer fahren wollte, aber es kam ein Krieg dazwischen, der mir (sorry, Jemen) sehr nahe geht.
Dieses Jahr: Loblied der Listologie – Aşk, Mark ve Ölüm (Cem Kaya) | Unrueh (Cyrill Schäublin) | Top Gun: Maverick (Joseph Kosinski) | Axiom (Jöns Jönsson) | A Night of Knowning Nothing (Payal Kapadia) | Unrecht und Widerstand (Peter Nestler) | Licorice Pizza (Paul Thomas Anderson) || The Rehearsal (Nathan Fielder) | Fleishman is in Trouble (Taffy Brodesser-Akner) | The Dropout (Elizabeth Meriwether) | White Lotus 2 (Mike White) | We Need to Talk About Cosby (W. Kamau Bell) | The Last Movie Stars (Ethan Hawke) | Bad Vegan: Fame. Fraud. Fugitives (Chris Smith) || Uffa Jensen: Ein antisemitischer Doppelmord: Die vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik (Suhrkamp 2022) | Lorraine Daston: Rules. A Short History of What We Live By (Princeton UP 2022) | Adom Getachew: Die Welt nach den Imperien. Aufstieg und Niedergang der postkolonialen Selbstbestimmung (Suhrkamp 2022) | Michael D. Gordin: Am Rande. Wo Wissenschaft auf Pseudowissenschaft trifft (Konstanz UP 2022) | Deshalb nachgeholt: Ulrich Raulff: Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben (C.H. Beck 2009) + Felix Hartlaub: Aufzeichnungen aus dem Führerhauptquartier (Suhrkamp 2022) || Nicht alles wird schlechter: Endlich Mazzucatoleser:innen im BMWK || Stern des Südens der Herzen: Jamal Musiala || Daniel Avery: Chaos Energy + grim104: Ü30 Männer im Club (feat. Kaiii) | Danger Mouse & Black Thought: Saltwater (feat. Conway the Machine) + The Weeknd: Out of Time (feat. Jim Carrey) || Seit dem 24. Februar (spätestens): Alles von James Meek in der LRB (etwa: «Blast Effects. In Mykolaiv», Vol. 44, No 16, 18 August 2022) + die OSINT-Arbeiten von Bellingcat & Co. und der gleichermaßen unverzichtbare Investigativjournalismus der NYT zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine (zum Beispiel 1, zum Beispiel 2) + Desinformationsphilologie der Schwägerin (und auch in Bundestagssitzungsprotokollen wie jener zur Debatte des «Einzelplans 09» am 8. September kann jede:r en Detail nachlesen, wer (mit wem) wo steht) + Adam Curtis’ hochinteressanter Found-Footage-Archivtieftauchgang Russia 1985-1999: TraumaZone (BBC 2022)
Flirten heute
Warum nicht mal vor einander pinkeln, auch auf die Gefahr hin, dass einem dabei ein Furz entwischt? Wie sexy das sein kann, beweisen Renate Reinsve und Anders Danielsen Lie in Joachim Triers Kinofilm Der schlimmste Mensch der Welt.
Ab in die Küche
Wie geschmacklos dürfen Kochsendungen sein? The Final Table (Netflix, 2018) bringt alle Zutaten für ein kulinarisches Desaster mit. Das Studio ist viel zu grell ausgeleuchtet, der Moderator Andrew Knowlton, seines Zeichens ehemaliger Restaurantkritiker beim US-Magazin Bon Appétit, strahlt mit seinem festgetackerten Grinsen in jede der im Studio aufgestellten Kameras und die 24 internationalen Köche, die in Zweierteams gegeneinander antreten, erzählen, weil es so schön ist, nochmal die erbauliche Geschichte vom Aufstieg aus schwierigen sozialen Verhältnissen, bevor sie sich dem darwinistischen Wettkampf stellen. Darüber hinaus sorgen die hektischen Schnitte vor allem in den ersten Sendungen dafür, dass man als Zuschauer schnell den Überblick darüber verliert, welche Equipe hier eigentlich welches Gericht kocht.
Das Maulen weicht allerdings gebannter Gefolgschaft, sobald sich im glattpolierten Identitätskitsch Risse auftun. Die lockeren Sprüche unter Kollegen zünden nicht mehr. Der Stress am Herd gebiert Ungeheuer: mühsam unter der Oberfläche gehaltene Verstimmungen, Kränkungen, die für den Bruchteil einer Sekunde in den Augen aufblitzen, finanzielle Erwägungen, die für die Teilnahme den Ausschlag gaben und unter Tränen erst nach dem Ausscheiden offenbart werden. Auch die exzentrischen Juroren tragen das ihrige zum Suchtpotenzial der Show bei. Der spanische Sänger und Schauspieler Miguel Bosé gestikuliert gravitätisch wie eine Figur aus einem expressionistischen Stummfilm der 1920er Jahre. Der italienische Koch Carl Cracco gibt sich undurchschaubar und signalisiert mit seinen sibyllinischen Kommentaren skeptisches Unverständnis für die Kreationen der von ihm bewerteten Kollegen. Shin Takagi, ein mit zwei Michelin-Sternen dekorierter japanischer Küchenchef, muss schon früh die Koffer packen. Enrique Olvera, Chefkoch des Pujol in Mexiko-Stadt, gab einen Landsmann gar mit auf den Weg, er wisse nicht, war er bei diesem Kräftemessen verloren habe. Am Ende war ich schockiert, wie sehr mich diese Sendung gepackt hat.
Achetez français
Wer wissen will, wie es um die deutsch-französische Verständigung bestellt ist, sollte dem Medienecho auf das Arte-Programm auf beiden Seiten des Rheins Gehör schenken. Kaum zu vernehmen ist der Widerhall des Senders im deutschen Feuilleton, wo Redakteure, insbesondere bei der FAZ, das Kerngeschäft der Fernsehkritik inzwischen immer häufiger links liegen lassen, um zum Generalangriff auf die öffentlich-rechtlichen Sender zu blasen und mindestens einmal pro Woche den dringend nötigen Rückbau der aufgeblähten televisuellen Bürokratie anzumahnen. Oft macht die Presse hierzulande überhaupt keine Anstalten, jenseits vom Tatort etwaige Schätze aus den Tiefen des Fernsehprogramms zu heben oder Müll in den Orkus zu verbannen. Interesse am Programm wird nicht einmal mehr geheuchelt, weil stillschweigend vorausgesetzt wird, dass die Qualität indiskutabel ist. Dann lieber gleich zum Rundumschlag gegen mediale Rivalen übergehen, die einem, durch Gebühren subventioniert, das Publikum in einer Situation abspenstig zu machen drohen, in der es für das ein oder andere Druckerzeugnis bald ums Überleben gehen könnte. Die Verzweiflung ist verständlich, die Schwemme an Artikeln gegen «Zwangsgebühren» und die sture Weigerung, sich mit dem Programm auseinanderzusetzen, sind es nicht.
Anders in der französischen Zeitungslandschaft: Dort wird das Arte-Programm wohlwollend begleitet, kritisch kommentiert und immer wieder nach Sehenswertem durchforstet. Auffällig ist jedoch, dass in Le Monde und Libération fast alle besprochenen Sendungen französischen Ursprungs sind. In Frankreich empfohlen und in Deutschland mehr oder weniger ignoriert wurden: Everything will be OK, Rity Panhs – letztlich doch ziemlich wichtigtuerische und unverdauliche – Knetfigurenmeditation über den geschichtsmächtigen menschlichen Hang zur Gewalt, die im Februar auf der Berline ihre Premiere feierte; Rafael Lewandowskis eindringliche sechsteilige Dokumentarfilmreihe Der Algerienkrieg; Bonjour tristesse – Kult und Skandal, Priscilla Pizzatos Chronik eines zweischneidigen literarischen Triumphs, in der Françoise Sagan dank aufschlussreicher Interviews aus den Archiven ausführlich zu Wort kommt; Isaac Azimov – Geschichte aus der Zukunft, ein Porträt, in dem der Science-Fiction schamlos sein eigenes Genie und seine Hellsichtigkeit feiert. Dass darüber hinaus die gesamte Sparte der Kinodokus auf Arte weitgehend französisch dominiert ist, versteht sich bei dem geballten Knowhow im Land fast von selbst.
Eat your greens
Auch das geht also noch im Jahr 2022: Magellan als Entdecker zu würdigen, der wenn nicht unsere Sympathie, dann wenigstens unser Mitgefühl verdient. Knapp vier Stunden nimmt sich die Arte-Doku Die abenteuerliche Weltreise des Magellan Zeit, um die … naja … Erdumrundung des portugiesischen Seemannes im Dienst der spanischen Krone zu rekonstruieren. Die renitente Besatzung wartet nur auf die passende Gelegenheit zu meutern, das Wetter spielt den Seemännern an der Küste Südamerikas immer wieder üble Streiche. Schon in der Bucht des Rio de la Plata, unweit der heutigen argentinischen Hauptstadt Buenos Aires, gaben sich die Seefahrer der Hoffnung hin, die Südspitze des Kontinents müsse jeden Moment aus dem Krähennest zu erspähen sein – da standen ihnen in Wahrheit noch mehr als 2000 Kilometer Fahrt durch zusehends rauere Gewässer und eisige Temperaturen bevor. Immer wieder ging die Crew an Land, um Proviant an Bord zu holen. Als nährstoffreicher Lebensretter entpuppte sich ein einheimischer Wildsellerie.
Dass die Sendung nicht zur Selbstfeier des europäischen Entdeckergeistes gerät, ist nicht zuletzt dem französischen Historiker Romain Bertrand zu verdanken, der als entschiedener Vertreter einer Histoire à parts égales (2011) immer wieder die politischen Gemeinwesen der südostasiatischen Insellandschaften in den Fokus rückt, die mal ungläubig, mal mitleidig, mal großzügig, mal martialisch auf die zerlumpten europäischen Gestalten blickten.
Wem das immer noch zu viel Beweihräucherung ist, der kommt in Felipe Fernández-Armestos rigoroser biographischer Studie Straits: Beyond the Myth of Magellan (Bloomsbury, 2022) auf seine Kosten. Hier wird eine Statue nach allen Regeln der Kunst vom historiografischen Sockel geholt. Vielleicht war Férnandez-Armesto auch deswegen nicht in dem Historikeraufgebot vertreten, das Arte mobilisierte. Magellan ein begnadeter Navigator, wie die eigens zur Rate gezogenen professionellen Segler in der Arte-Doku immer wieder betonen? Der Mann, hält Férnandez-Armesto dagegen, war der Situation auf See von Anfang an nicht gewachsen. Was nach diesem Demolierungsunterfangen bleibt, ist das Bild eines ruhmsüchtigen und paranoiden Kapitäns, eines gewalttätigen Gatten, eines heimtückischen Killers und Sklavenschänders, dem erst nach dem Tod die Errungenschaften zugeschrieben wurden, deren er bis heute gerühmt wird. Magellan, der so viele ins Verderben führte, war getrieben von einem Lebenshunger, der mit Bissen abgespeist wurde, die nach Verwesung schmeckten.
Mockumentary des Jahres
Hinter Cunk on Earth, einer weit ausholenden und ständig querschießenden Geschichte der Menschheit (BBC 2), stecken Charlie Brooker und Diane Morgan, die Philomena Cunk verkörpert, eine Moderatorin, die sich selbst und andere umso stärker zum Nachdenken anregt, je dümmer sie sich stellt. Wie es den zahlreichen, von ihr interviewten akademischen Koryphäen gelingt, angesichts von Cunks Fragen weder kopfschüttelnd Reiß aus zu nehmen, noch in lautes Lachen auszubrechen, bleibt deren Geheimnis. Kostprobe gefällig? Einen Vorgeschmack vermittelt beispielsweise diese kunsthistorische Überlegung Cunks: «In all paintings of Jesus, he comes in two moulds, doesn’t he? He’s either a baby or he’s being crucified. Are there any paintings where he’s being crucified as a baby?»
Zähne putzen nicht vergessen
In der abschließenden Staffel von Better Call Saul dürfte auch die letzte Trantüte mitbekommen haben, dass die Geschichte vom windigen Anwalt, der keinem krummen Ding widerstehen kann und sich immer tiefer in die zwielichtigen Machenschaften von Drogenkartellen verstrickt, den Showrunnern Vince Gilligan und Peter Gould lediglich als Aufhänger dient. Come for the crime, stay for the affection: Was die Serie unvergesslich macht, ist ihr Porträt einer Liebe, vielleicht das schönste seit The Americans. Die Zuneigung, die Jimmy/Saul und Kim miteinander verbindet, speist sich aus gemeinsamen Grenzüberschreitungen, leuchtet aber dort besonders hell, wo es darauf ankommt: im Alltag.
Beim Zähneputzen wird, das liegt in der Natur der Sache, meist geschwiegen, doch gerade deshalb taugt die Dentalhygiene in Better Call Saul als Gradmesser für den Zustand von Kims und Jimmys Beziehung. Stehen die beiden nebeneinander im gemeinsamen Bad, bringt sie der Splitscreen auch über weite Distanzen hinweg zusammen? Wenn der Mund zu tun hat, sucht sich das Unausgesprochene andere Wege, um sich bemerkbar zu machen: vielsagende Blicke, bebende Nasenflügel, hängende Schultern. Es sind Fragmente einer Körpersprache der Liebe. Vom Zähneputzen zu erwarten, dass es Winkeladvokaten von ihren Sünden reinwäscht, wäre sicher zu viel verlangt. Dass die Zahnpflege dennoch heilsam wirkt, hat mit der Nähe zu tun, die sie schafft. Ob dabei eine elektrische Zahnbürste zum Einsatz kommt, Zahnsiede verwendet wird oder – typisch Jimmy – der eigene Finger als Werkzeug herhalten muss, ist zweitrangig.
In seinen erhabensten Momenten präsentiert Better Call Saul das Zähneputzen als amouröses Exerzitium und Ritual der gegenseitigen Vergebung durch Vergessen. Jimmy bringt es in der Folge Fun and Games auf den Punkt (auch wenn diese weisen Sentenzen bezeichnenderweise von Mike Ehrmanntraut geklaut sind): «One day, we’ll wake up and brush our teeth and we’ll go to work, and at some point we’ll realise that we haven’t thought about it at all. None of it. And that’s when we’ll know. We’ll know we can forget.» Ein guter Geist im Netz hat für alle Trostbedürftigen sämtliche Zähneputzszenen aus Better Call Saul zu einem zehnstündigen Reinigungszeremoniell zusammenmontiert. So hält man den Glauben an die Menschheit wach.
Der macht seinen Weg
Wer wie ich zu Großthesen ohne triftigen Grund neigt, wird den Weggang des britischen DJs Charlie Bones vom Radiosender NTS als eine längst überfällige Absage an eine allzu geschmeidige Hipsterkultur deuten. Dabei hatte der 2011 im Londoner Stadtteil Hackney gegründete Digitalrundfunk alles richtig gemacht. Auf das breite musikalische Spektrum von NTS konnten sich unzählige Großstadtbewohner dieses Planeten einigen. Dann schmiss Bones, ein ehemaliger Roadie, Clubmanager und Plattensammler, der höchstens ein Bein auf der Tanzfläche hat, im August 2021 unvermittelt hin. Man gibt sich locker, aufgeschlossen, weltgewandt, doch Eigensinn, der diesen Namen verdient, überfordere die Verantwortlichen bei NTS, entfuhr es dem entnervten DJ. Es war sofort klar, was er meinte: Diesen Existenzen fehlt ähnlich wie den Protagonisten in Leif Randts Allegro Pastell die Amplitude. Noch während seine – wie sich herausstellen sollte: letzte – Sendung lief, kündigte Bones seinen Rückzug an.
Und machte dann einige Monate später mit der Gründung seiner eigenen, hörerfinanzierten Radiostation Do You von sich reden. Aus meinem Leben ist sie seitdem nicht mehr wegzudenken, doch immer, wenn ich andere dafür begeistern will, scheitere ich krachend mit meinem Bekehrungsversuchen. Der Mann, so der Einwand, der spätestens nach zehn Minuten kommt, nervt, denn Bones redet, wie ihm der Schnabel wächst, egal ob im Vordergrund Musik läuft. Und sie haben recht.
Seine Sendungen ähneln einem Klangteppich mit Voiceover. Eine unvollständige Auswahl der Themen: die unerreichte Genialität von Martin McDonaghs Film In Bruges (2008); wiederkehrende Schlaflosigkeit; Mondphasen; Niedergeschlagenheit; «centrist dads»; die furchteinflößende Lächerlichkeit amerikanischer Maskulinität um die Jahrtausendwende, wie sie zuletzt in der Netflix-Doku Trainwreck: Woodstock ’99 zu bestaunen war; das richtige Timing des Kiffens; Porridge-Zubereitungen; die kulinarischen Vorlieben Richie Hawtins. Bones ist wie der WG-Mitbewohner, der nicht auszieht und irgendwann zum Inventar gehört, einer sprechenden Wandtapete gleich. Filter gibt es keine. Dass er sich dennoch nicht selbstentblößt, ist schlicht der Beschlagenheit seines Parlando geschuldet. Der hochgewachsene, schlaksige, mit einer imposanten Haarpracht gesegnete Bones ist in der Tat ein Meister des britischen banter, der noch aus jeder Stimmungsschwankung komisches Kapital schlägt und mit seinem schluffigen Stoizismus auch Schicksalsschlägen standhält.
Am 30. November dieses Jahres lässt er die Hörer ohne Vorwarnung wissen, dass seine Mutter in der Nacht zuvor gestorben ist. «She left me with a heavy Solitaire addiction.» Die Sendung, die Bones mit seinem Sidekick OG bestreitet, wird zur musikalischen Hommage an sie, voller Trotz, weil er noch nicht bereit ist zu trauern. Plötzlich bricht ihm gegen Ende die Stimme weg, als er meint, ohne seinen jungen Freund und Helfer OG hätte er das alles nicht durchgestanden. Den Jungs kullern die Tränen, dann klingt die Sendung aus mit einem improvisierten Klavierstück – wohl einer Liveaufnahme von einem der zahllosen Bootleg-Alben – von Prince. Da ist er wieder, der vielleicht einzige, ganz sicher aber ein bestechender Grund, immer wieder weiterzuleben: Verbundenheit mit anderen. Dass Bones mit seiner «Morning Show» nebenbei auch noch den Soundtrack – Phyllis Nelson, «Move Closer»; Ohio Singers, «Ecstasy»; Harold Melvin & The Blue Notes, «Prayin», Etta James, «I’d Rather Go Blind» – für die ungefragt heftige, wild wuchernde, mein Leben jeden Tag neu aufs Schönste auf den Kopf stellende Liebe zu Irina geliefert hat, werde ich ihm irgendwann selbst noch sagen.
Häufig im Kino gewesen: DCPkino – Gib Gas – Ich will Spaß (1983) von Wolfgang Büld (Privatscreening): (Leicht verkatert) der erste Film des Jahres, ein auf Amerikanisch getrimmtes Star-Vehikel für Nena (und glücklicherweise nur am Rande für Markus!) – und sie strahlt tatsächlich grell inmitten der Schlagergesichter und Würstchenbuden. // Analogkino – Filme von 1902 (Il Cinema Ritrovato, Bologna): Die Projektion als Star; im Innenhof der Cineteca di Bologna, auf der Piazzetta P.P. Pasolini, steht ein altehrwürdiger Kohlebogenprojektor auf einem Pult, dampft und rattert; über die Leinwand ziehen bezaubernd viragierte Fragmente, das Publikum, klein und groß, dreht sich trotzdem immer wieder zum Apparat um. // DCPkino – Reisender Krieger (1981) von Christian Schocher (ZHK, Berlin): Einsam rauchende Herren sitzen bedröppelt an Tischen, während eine Liveband spielt, von der sie kaum Kenntnis nehmen, im Hintergrund das Schild: «Tanzen verboten» – das Destillat dieses graugrauen Schweizfilms? // Analogkino – White Pop Jesus (1980) von Luigi Petrini (Terza Visione – DFF, Frankfurt a. M.): Nachdem vor Jahren der elektrisierende Trailer von White Pop Jesus beim Terza Visione lief, stellte sich jedes Jahr aufs Neue die Frage: Wann wird er kommen? Man fand tatsächlich eine (die eine?) Kopie, er lief (und hielt nicht ganz, was der Trailer versprach, egal!) // DCPkino – A Page of Madness (1926) von Teinosuke Kinugasa (GEGENkino, Leipzig): Meine erste Benshi-Vertonung, Erkenntnis: nicht nur eine stimmlich-musikalische Interpretation der Bildebene, sondern eben wegen der fast uneingeschränkten Freiheit im Text immer wieder aufs Neue ein Unikat des Films(inns). // Analogkino – Up Periscope (1959) von Gordon Douglas, Torpedo Run (1958) von Joseph Pevney, Run Silent, Run Deep (1958) von Robert Wise (Privatsceening): Spätestens als zum dritten Mal am Abend der Vorspann «Pazifik 1942» verkündete, wusste man, dass der US-U-Boot-Film der 50er in immergleichen Motivwelten schwelgt – und doch: ein irgendwie poetisches Genre über nervenzehrende Enge und unheilvolle Weite, ungewisse Zukunft und traumatische Vergangenheit, die Bedeutung des genauen Hinhörens und die Unmöglichkeit, die Gefahr mit den eigenen Augen zu erblicken. // Analogkino – Near Death (1989) von Frederick Wiseman (Wiseman Retro – Arsenal, Berlin): unter Wisemans langen Filmen sein längster; der Alltag einer Intensivstation in körnigen, einem kaum «Schönheit» gewährenden 16mm-S/W-Bildern; Liebe, Glaube, Hoffnung & die Zartheit des Dr. Taylor. // VHSkino – Wer einmal in das Posthorn stößt (1973) von Gerhard Hartig (Hofbauerkongress, Leipzig): Abschluss einer Kino-Tour-de-Force: der sechste Film des Festivaltages, der bereits zweite inoffizielle zu später Stunde: eine derangierte Report-Film-Parodie (oder doch -Variation?), dermaßen deutsch, dass sie als antideutsches Pamphlet durchgeht. // Analogkino – Atlantis (1970) von Eckhart Schmidt (Bundeskongress KoKis – DFF, Frankfurt): Eine Low-Budget-SciFi-Screwball-Comedy, purer Kinoenthusiasmus und -nonkonformismus, ein Besucher meinte im Anschluss, das Ganze sei viel zu «dilettantisch» gewesen, diese Kategorie bleibt einfach fragwürdig. // Analogkino – Night After Night (1932) von Archie Mayo (Berlinale, Berlin): Highlight der No Angels-Retro, ein Pre-Code-Gangsterfilm voller Melancholie; einsame Menschen sitzen in Festsälen herum und träumen sich woanders hin; May Wests Nebenrolle ist klein genug, dass sie nicht alles an sich reißt (kann natürlich auch schön sein). // Analogkino – Eight Deadly Shots (1972) von Mikko Niskanen (Il Cinema Ritrovato, Bologna): Fernsehmehrteiler über das Leben einer kinderreichen Familie im ökonomisch abgehängten Nordfinnland, kurze Momente des Glücks, lange Phasen des Suffs, unbedingter Kinohumanismus; während draußen fast 40° geknackt werden, im Saal stundenlang Nadelwälder in Analogfilmkörnung. // Analogkino – Le saut de l’ange (1971) von Yves Boisset (Boisset Retro – DFF, Frankfurt a. M.): Langes Wochenende mit dem mal pulpigen, mal politisierten Genrekino Boissets; Le saut de l’ange gleicht einem Fiebertraum, nie kann man vorausahnen, was einem als nächstes entgegenspringt; für mich zugleich die Entdeckung des ruppigen Néo-Polar-Kosmos von Jean-Patrick Manchette, Autor der Filmvorlage. // Analogkino – Young Mr. Lincoln (1939) von John Ford (Cinemateca Portuguesa, Lissabon): die herbstliche Szene einer Romanze zwischen Ann und Abe, es ist das letzte Mal, dass wir die beiden – der Film erzählt es erschreckend beiläufig – zusammen sehen werden; ihr Grabstein am Flussufer wird Lincolns emotionales Gravitationszentrum, und das dramatische Scharnier meines liebsten Biopics. // DCPkino – Saturnus (2011) von Bruno Sukrow (GEGENkino, Leipzig): für die meisten Gäste der GEGENkino-Hommage auf den kürzlich verstorbenen Sukrow die erste Berührung mit dessen Werk, in den ersten Minuten noch gewisse Zurückhaltung, dann lautstarke Freude über seine konfliktscheuen Abenteuer. // Analogkino – Excalibur (1981) von John Boorman (Privatscreening): ein Meer aus funkelndem Metall und dampfendem Blut; ästhetisch eine eigene, bodenlos exzentrische Welt; und eine, die, wenn man es herunterbricht, ihr ganzes Drama daraus bezieht, dass irgendwer wieder die Libido nicht im Griff hat. // DCPkino – The United States of America (2022) von James Benning (Berlinale, Berlin): Irgendwie machen Bennings Digitalbilder kaum (noch) Spaß, wie hingegen im vollen Delphi-Palast der Abspann-Twist so langsam durchsickert und aus vereinzeltem Staunen/Lachen regelrechte Unruhe wird, schon. // Analogkino – Messidor (1979) von Alain Tanner (Filmarchiv Austria, Wien): Ein Schweiz-Roadmovie, zwei junge Frauen entfliehen zunächst dem Immergleichen, dann mehr und mehr trotteligen Gesetzeshütern; das Beiläufige gleichrangig neben dem Essentiellen, fühle mich an Schanelec erinnert. // Analogkino – Weil ich ein Dicker bin (1989) von Christiane Hein (DOK Leipzig): Das in schriller 80er-Farbigkeit gefasste Porträt eines Schuljungen, den man wegen seines Übergewichts ausgrenzt, dabei kommt auch eine unsägliche DDR-Körperpolitik ins Bild, besonders unappetitlich: «Diätsanatorium», «Safttag». // Analogkino – Triumph der Gerechten (1987) von Josef Bierbichler (Privatscreening): parallelisierte Ebenen: hier der (dokumentierte) Massenprotest gegen atomares Aufrüsten im Kalten Krieg – dort das Reenactment des bayerischen Bauernaufstands gegen die Obrigkeit zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges; ätzender, aber doch eigenständiger Agitprop (Achternbusch lässt zuweilen grüßen, wüsste gern, ob er’s für Schmarrn hielt.) // Heimkino – Actually… (2022) von Kiyoshi Kurosawa: Keim der Hoffnung, dass K. Kurosawa künftig einfach jeden seiner Filme mit einer opulenten K- oder J-Pop-Nummer abschließt.
Magie kann man nicht erklären und wenn man an sie glaubt, will man sie nicht erklärt bekommen. Ich kann nur auflisten, was die Performance-Gruppe Panzerkreuzer Rotkäppchen (PKRK) diesen Sommer im Casino-Bau der Stasiunterlagenzentrale in Berlin-Lichtenberg mit ihrer Produktion Brofaromin OST aufbot. Das alles passierte gleichzeitig: Tänzerinnen als Psychiatriepatientinnen auf der Treppe, Punkband singt vor der Tür, im Saal mit der schmutzigen Auslegeware spielt die Band des Theater Thikwa, eine akademische Video-Konferenz zu Antidepressiva findet gleichzeitig statt, in den Nischen tanzt ein Pharmariese mit Federboa, wütet Schalk-Golodkowski auf dem heißen Stuhl von RTL, ein glitzernder Selbstoptimierungsguru faselt von Gehirn-Apps gegen Depression. Alle Gesichter weiß geschminkt, immer weiß.
Brofaromin OST umkreiste das Thema der Medikamentenstudien (u.a. für Antidepressiva), die europäische Pharmakonzerne ab 1960 bis zur Wende in der DDR durchführten und die Folgeschäden. Für Devisen vermietete die DDR ihren Krankenbestand als Testware, der Westen profitierte vom zentralisierten Gesundheitssystem und kontrollierender Staatssicherheit. Gemeinsam produzierte man kapitalismuskonforme Aufheller und sozialistische Laborratten. Aus historischem Text- und Protokollmaterial entwickelte PKRK ein performatives Environment, welches das ganze Gebäude erfasste: das Publikum bewegte sich autonom durch Szenen und Stationen, Klang- und Wortflächen, Kakophonien aus Freud, Stasi, Ostschlager und Chemie.
Kein Dokumentartheater, sondern minutiös durchchoreographierte Überförderung. Figuren clashten mit dem Haus und miteinander, Szenen gerieten in Dialog, antworteten, stritten, mit und durch das Publikum, durch die Wände der Stasi hindurch. Brofaromin Ost war kein Stück, kein Plot, sondern die Öffnung eines kollektiven und heterogenen Raums zur atmophärischen Dramaturgie, zum Gefühlsraum. Dichte Momente lösten leichte ab, Unübersichtlichkeit wurde zum plötzlichen Fokus, als ein Stasi-Arzt einen Vortrag über die Depressionsgefährdung der Geheimpolizei hält und alle Anwesenden meint: «Genossen! Bleibt wachsam». Ein Gespenstertheater am verfluchten Ort, eine Beschwörung von Geistern, Geschichte, chemischen Verbindungen, von deutsch-deutschen Gefühlsabgründen – und damit ein Höhepunkt der postsozialistischen Theaterarbeit, die die Berliner Regisseurin Dr. Susann Neuenfeldt seit 13 Jahren leistet.
Ich erlaube mir diese Eigenwerbung: ich habe PKRK mitbegründet und bin sonst als Schreiber und Mensch für alles in der Gruppe engagiert. 2022 war arbeitsreich mit Care und Forschung und ließ mir fast keine Zeit, mich einzubringen. So war ich nur zu Gast am letzten Tag der Aufführungen und konnte immerhin etwas sehen, was ich noch nie erlebt habe: ein Theater der vorsichtigen Verdichtung und Entspannung, der einfühlsamen Überforderung. Ich kann mir nichts Aktuelleres und Berührenderes vorstellen – Arbeit am Gefühlszustand dessen, was die 2021 verstorbene Lauren Berlant «the historical present» nannte.
SCHNEE
ein 35minütiger film s/w aus dem jahr 2022. von elisabeth schlebrügge.
ein film der, verschrieben einer ästhetik der reduktion, eine bis anhin ungesehene&unvernommene opulenz entfaltet. der jedwede schattierung der farbe weisz aufscheinen läszt. insbesondere, wenn die schwarzen pferde (rih) durchs schneebild (schneestille) stieben. und die alten und die neuen musiken und die geräusche und die töne und die aus dem off elegante textpassagen vortragende stimme erklingen aufs erhellendste wie anrührendste. melancholie, hilfsausdruck. zauber, hilfsausdruck.
ein film des scharfen blicks, der genauen kadrierung und des klaren chiaroscuro.
kein film für farbenblinde.
ein film in der manier der sei shonagon, deren makura no sōshi / kopfkissenbuch aus dem jahr 1000. was mein herz anrührt, steht dort geschrieben.
ein film, aus dem heraus zu vernehmen ist, was er ist: ausgebreitete gegenwart.
Alten Menschen fällt es oft besonders schwer ihre Heimat zu verlassen. Selbst als Mariupol einkesselt war, weigerten sich die Großeltern der angehenden Filmemacherin Anna Zhu. Im Rahmen meines Seminars an der HFF München betreute ich eine ihrer Arbeiten bis der Angriffskrieg der russischen Armee über die Ukraine hereinbrach und sie beschloss, sich stattdessen in humanitärer und journalistischer Form zu engagieren. Gemeinsam mit 16 Reporter:innen entstand für die Zeit dieser multimediale, investigative Bericht, eine Rekonstruktion des zerstörerischen Kampfes um Mariupol.
Albert Serra erfindet sich mit seinem ersten zeitgenössischem Film PACIFICTION – Tourment sur lesîles (2022) neu, indem er der Beckettschen Kernfrage seiner historischen Stoffe treu bleibt. Schon derLandstreicher Wladimir wollte in Warten auf Godot wissen, ob die Zerstreuungsspiele ihren Verstand vor dem Untergang bewahren oder ihn im Gegenteil in eine moralische Nacht unergründlicher Tiefen führen. Dem Gerücht einer erneuten nuklearen Katastrophe auf Tahiti geht der von Benoît Magimel verkörperte französische Hochkommissar hartnäckig nach und verliert sich dabei in Untätigkeit. Ein entschleunigter Politthriller, der sich der Paranoia seines Antihelden verschreibt und so politische Wirkkräfte als undurchschaubar zeigt.
Mit diesem Ohnmachtsgefühl und der Flucht in die Dekadenz will sich Sylvain George in NUIT OBSCURE – FEUILLETS SAUVAGES (Les brûlants, les obstinés) (2022) nicht zufriedengeben. Über einen langen Zeitraum folgt der politische Aktivist einer Gruppe jugendlicher Marokkaner, die versuchen den Grenzzaun in der spanischen Exklave Melilla zu überqueren. «Es ist vielleicht das einzige Privileg der Enteigneten, die Möglichkeiten wahrzunehmen, die sich aus der Abwesenheit von Privilegien ergeben: die Fähigkeit, über eine Mauer zu springen, die offizielle Sprache zum Stottern zu bringen, neue Idiome zu erfinden.» (Sylvain George) Zwischen Nähe und Distanz, Rohheit und Poesie findet der Filmemacher eine Sprache der Immanenz, die soziologische Studie und poetische Reise zugleich ist.
THE ARCH (1970) ist ein für die neue Welle des Hongkong-Kinos einflussreicher und formal experimentierfreudiger Film von Tang Shu Shuen, der nicht zuletzt durch die ausdrucksstarke Musik von Lui Tsun-yuen seine genuine Form findet. Als ein Trupp Samurais im 18. Jahrhundert durch ein Dorf reitet, wird für den Captain Yung eine Notunterkunft gesucht. Die junge, hochangesehene Witwe Madam Tung bietet in ihrem Haus einen Schlafplatz an und widersteht nur schwer der gegenseitigen Anziehungskraft. Ihre abenteuerhungrige Tochter zieht es in die Stadt. Sie umgarnt den Captain, der sich nach einer gemeinsamen Nacht im Wald gezwungen sieht, sie zu heiraten. So bleibt Madam Tung nach dem Tod der Großmutter allein zurück und blickt einem einsamen Lebensabend entgegen. Eine bittere Liebesgeschichte, die gnadenlos seziert, wie Moralvorstellungen wirken und persönliches Glück zu zerstören vermögen.
Nachdem keiner mehr etwas von den Großeltern von Anna Zhu gehört hatte, musste sich die Familie auf das Schlimmste gefasst machen. Bis sie ein Foto per SMS erhielt (und an Freunde weiterleitete). Es zeigt eine lachende alte Frau, die Großmutter. Am Steuer sitzt der Onkel und auf der Rückbank der Großvater. Über Polen gelang ihnen die Flucht. Ein Bild der Hoffnung.
3D-Modeling
Meine Dauerserie: Medizinhistorische Recherche im XVIII. Jahrhundert. Lymph-Männer, Muskelspiele, herausgeschälte Organe und die auseinanderbaubaren, lebensgroßen Venus-Figuren, deren Innenleben so plastisch und eindrucksvoll hervorquellt. Die Florentiner Wachsbildner des späten 18. Jahrhunderts haben sie unter der Leitung von Felice Fontana so kunstvoll gestaltet, um die Zeit für die Beobachter:innen anzuhalten. Ihre Ausstellung im naturwissenschaftlichen Museum von Florenz und bald danach auch in der Sammlung der chirurgischen Akademie in Wien war auch aufklärerische Menschenbildung. Die Verneinung der Verwesung hatte einen hohen Preis: in die Objekte flossen Studien an Hunderten sich auflösender Körper ein.
Für die Wiedereröffnung des Josephinums in Wien habe ich mich inmitten einer Arbeitswoche so geschwinde und müde in den Zug gesetzt, dass mir abends bei der Erstbegehung keine Fragen mehr einfielen. Auf dem Büchertisch fanden sich 2022 weiter Bände, die Vaudeville und Wissenschaftlichkeit vereinen. Die Serie dazu, aus alter Treue, WESTWORLD, Season 4, in der ja nun endgültig die künstlichen Geschöpfe die Experimente steuern.
Dazu auch: Staatsprüfungen, zwei Fachkunden, Kammermitgliedschaft. Praxisgründung auf archaischem Grund. Der neue Krieg und die Ausläufer der Pandemie kommen immer deutlicher in den Sitzungen an. 2022 fiel mir aus katastrophischem Anlass leider auch der vom Anatomiestudium besessene Faust wieder ein, mit dem Sokurow vor elf Jahren die deutsch-russischen Verhältnisse und wohl auch schon die angstgetriebene Abwehr Putins so akkurat festgehalten hatte (nur zu passend paradox, dass Putin selbst seinerzeit den ganzen FAUST-Film freihändig aus einer seiner Stiftungen finanzierte). Sokurow wirkte damals schon unbestechlich. Von heute aus erscheint das Kriegsgewitter seines FAUST II noch deutlicher als Sektion eines inneren und äußeren Dramas.
Freeze-Frame
Erneut Recherche, wieder Anatomie, wieder Stadtwanderung. In Leiden auf den Spuren von Herrmann Boerhaave, der die Hippokratische und Galensche Medizin, die Europa mehr als zweitausend Jahre beherrscht hat, ein letztes Mal modernisierte. Gelehrtes Aufbäumen eines Epistems, das mit wachsender Empirie unter immer größeren Druck geriet, aber noch ausreichend gut organisiert war, um auch die Wiener Wissenschaftsreform des 18. Jahrhunderts anzuschieben (und noch später in die Psychoanalyse hineinzufließen). Der Leidener Stadtplan aus dem 17. Jahrhundert ist als Wegweiser für die Gegenwart noch bizarr genau. Ich finde damit die Wohnhäuser von Boerhaave und van Swieten an den Grachten, Jacquins Geburtshaus. Im Boerhaave-Museum gibt es eine Multimedia-Animation im rekonstruierten Anatomischen Theater von Leiden. Eine zum anatomischen Studium bereit liegende Gipsfigur wird zum Fokuspunkt, über den die Laser der Projektoren streichen, als wollte das Licht noch weiter in den Körper dringen.
Light Cone
Karolas VOM STERNESCHNEUTZEN im Kino Luminor in Paris mit Christa und Raymond, 16mm-Experimente mit Analog-Glitzer-Spinnen in einem vor sich hin träumenden Programm, das sich der Gast-Kurator Bertrand Grimault aus dem Lightcone-Archiv wählen durfte. Sehnsuchtsformeln, die auseinander genommen und wieder neu zusammen gesetzt werden. Ich verstehe den Film in der Intermissions-Diskussion mit Karolas Kommentaren neu, als ihre Dekonstruktion der überkommenen Sehnsuchtsformeln, die wir nicht erst seit der Romantik in uns tragen. Und auch beim neuen Sichten rätsele ich der Found-Footage-Kröte hinterher, die sich im Film in ein optisches Experiment verstrickt. Noch ein Wunder der Naturgeschichte.
Tags darauf habe ich endlich eines von Fontanas anatomischen Holzmannequins im Musée d’Histoire de la Médecine gesehen. Unter seinen geschlossenen Augenlidern scheint der Mann aus Holz auch nach mehr als 200 Jahren seltsam lebendig. Gleich nebenan, auf dem Weg zur Toilette, die sich wie das ganze Universitätsgebäude seit Freuds Stipendientagen kaum verändert zu haben scheint, hängt nun, als Zufallsbegegnung dieses späten Nachmittags, das kinoleinwandgroße, originale Monumentalbild von Jean-Martins Charcots Experimenten mit den Hysterikerinnen der Salpêtrière-Klinik. Freud hatte sich einen kleinen Druck davon ins Behandlungszimmer neben die Tür zum Warteraum gehängt. 29 gebannte Männer und ihr Maître Charcot, 2 Pflegerinnen, 1 Patientin. «Blanche» (Marie) Wittmann sieht nach innen, bindet alle Blicke, während sie sich entwindet.
Das Jahr der deutschen Hybris. Pazifismus zur Sorge um die eigene Unversehrtheit verkümmern lassen. Weltkunstschau zur Weltbelehrungsmeisterschaft umkrempeln. Gasspeicherstand als neue schwarze Null einsetzen. Flagge zeigen, Armbinde tragen, Mund zuhalten, Klebehände kriminalisieren.
Auf zwei der hinteren Seiten meines Taschenkalenders lassen sich hundert durchnummerierte leere Stellen beschriften: My 100. Zu Weihnachten sind nur vier davon ausgefüllt. Ich trage einiges aus der Erinnerung nach, aber nach welchen Kriterien? Manche Ereignisse haben nur mit großer Verzögerung auch einen Eindruck hinterlassen. So hat der Tod von MF Doom im Oktober 2020 erst im Jahr 2022 seine veröffentlichten und unveröffentlichten Werke in eine wochenlange (auch emotionally) heavy rotation gebracht. MM Food spielt mit auf der winterlichen Suche nach der besten chinesischen Nudelsuppe von Belleville. Auch Polly Bartons Buch 50 Sounds, 2021 gleich mehrfach geschenkt bekommen, lese ich erst jetzt. Mimetische und onomatopoetische Wendungen aus dem Japanischen geben dem Gestammel und Gestolper auf dem Weg in die fremde Sprache, der damit verbundenen Erotik und Einsamkeit einen Klang – und dem Buch seine Kapitelüberschriften. Eine davon lautet jin-jin, the sound of being touched for the very first time. Am Ende jeder Quarantäneepisode dieses Jahres habe ich mich mit diesem Sound wieder vertraut gemacht.
Ganz zu Beginn der My 100 steht aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen PIGS AND BATTLESHIPS von Shōhei Imamura. Andere Filmtitel werden nachgetragen: REWIND AND PLAY von Alain Gomis und BASHTAALAK SA’AT von Mohammad Shawky Hassan auf der Berlinale. Am Rechner RULES OF THE ROAD von Sue Friedrich, A NIGHT OF KNOWING NOTHING von Payal Kapadia und QUELQUES ÉVÉNEMENTS SANS SIGNIFICATION von Mostafa Derkaoui. Eine rekonstruierte Fassung des in Spanien immer noch verbotenen Films ROCÍO von Fernando Ruiz Vergara und INTRODUCTION TO THE END OF AN ARGUMENTvon Jayce Salloum und Elia Suleiman, beide beim EMAF in Osnabrück. Dore O im Filmmuseum München. PACIFICTION in der Kulturbrauerei mit durchgehendem Technosoundtrack aus einem Nachbarraum. ÔRÍ von Raquel Gerber und Jim Shums FOR RENT im Arsenal. In Leipzig MIYAMA, KYŌTO PREFECTURE von Rainer Komers und INNOCENCE UNPROTECTED von Dušan Makavejev.
Ich versuche mich zu erinnern, wie weit die konstruktive Verwüstung der Leipziger Innenstadt beim letzten Besuch vor 15 Jahren schon fortgeschritten war, nun scheint sie übererfüllt. Zwischen Movies in der Mall und Kino in der Passage bewege ich mich wie im Vakuum. Mein erster Besuch bei der Duisburger Filmwoche erweist sich nach all den Lektüren der Protokolle früherer Diskussionen als teils enttäuschendes, teils erleichterndes myth busting. Ebenso erleichternd und womöglich rein aus klimatischen Gründen aller Mythen entledigt ist die Disputation bei 39º Celsius im Juli. Danach folgt eine antiklimaktische Kurve der Klinkenputzerei bei Verlagen, mit so naheliegenden wie nicht inhaltsbezogenen und entsprechend wenig überzeugenden Absagegründen: Papiermangel, Inflation, pandemiebedingter Rückstau.
Das zu veröffentlichende Buch handelt in Teilen von den eurozentrischen Mythisierungen, die Huillet und Straub dem Ägyptenteil ihres Films ZU FRÜH / ZU SPÄT durch Gespräche und Texte von Außen aufgeprägt haben. Doch dieser so offen agierende Film lässt sich auch durch die nachträglichen Interventionen seiner Macher:innen nicht wieder zumachen. Es gibt da etwas, das sich diskursiv kaum einfangen lässt. Hätte dieses Etwas einen Klang, ließe er sich vielleicht so beschreiben: gara-gara, the rattling sound the inexplicable makes as it becomes manifest? Einen Monat nach dem Tod von Jean-Marie Straub zeigt Michael Baute an der dffb eine Kopie von SCHWARZE SÜNDE. Was sich da in der Projektion zwischen Leinwand und Publikum eine ungreifbare und doch gegenständliche Präsenz verschafft, bringt im anschließenden Gespräch auch die informiertesten Versuche der Verbalisierung ins Stammeln, als sei die Sprache durch den Film unvertraut geworden.