31. Dezember 2024
Was vom Jahr bleibt 2024
Ganz vorne stand bei unserem alphabetisch sortierten Jahresrückblick oft Marie-Luise Angerer. Sie ist am 2. März 2024 gestorben. Wir werden sie immer als großartige Kollegin und Freundin in Erinnerung behalten.
Wat mutt, dat mutt.
The Holdovers war ein Familienkino-Highlight. Nicht zuletzt dank Paul Giamatti, der den pedantischen Oberlehrer Paul Hunham in seiner Spießigkeit so karikiert, dass er nicht arrogant, sondern in sich gefangenen wirkt. Der Film ist eher langsam, beobachtend, farblich irgendwo zwischen weißer Schneelandschaft und Giamattis braunem Lehrerjackett, also farblich eher kalt und arm. Gleichzeitig strahlt der Film mit seiner zurückhaltenden Kameraführung, den sparsamen Farben und dem natürlichen Licht eine Wärme aus, dass ich hinterher kurz dachte, der Film widerlege McLuhans These, dass Film ein heißes Medium sei, weil er sensoriell reich ist. In einer imaginären Matrix hätte ich den Film unter warm, aber sensoriell arm eingeordnet. Die von McLuhan eingeführte Unterscheidung, die Nicole Starosielski kürzlich infrastrukturell gewendet hat, wäre hier ästhetisch ganz anders zu interpretieren.
Um diese sinnliche Armut und gleichzeitige Wärme zu beschreiben, reicht es eben nicht aus, nur die Symbolsysteme, die technischen Operationen und Apparate, die Infrastrukturen und medialen Eigenlogiken zu analysieren. Es geht auch um die Verbindung von Technik und Ästhetik, dort, wo Gestaltungsspielräume sind, wo Möglichkeiten aufblitzen, kurz: wo Hoffnung ist.
Im Frühsommer fiel mir das Buch über Hoffnung von Corine Pelluchon in die Hände, in dem die Autorin von einer säkularen Form der Hoffnung in einer Zeit schreibt, die genügend Anlass zur Verzweiflung bietet: autokratische Aufwinde, Demokratiedämmerungen, Antisemitismen, Femizide, ökologische Zerstörungen, Artensterben und neue Feudalismen des Reichtums («mump regime»). Pelluchon deutet die Verzweiflung als ein Gefangensein in sich selbst und als eine Verführung, der man erliegen kann – eben wie es Paul Giamatti in The Holdovers verkörpert. Hoffnung hingegen ist für Pelluchon gerade weder Trost noch Illusion, sondern etwas, das sich durch einen «Moment der Loslösung und zugleich des Sich-Einlassens» auszeichnet. Das ist weder eine technische noch eine ästhetische, sondern eine ethische Beschreibung. The Holdovers verbindet alle drei Aspekte miteinander. Es ist daher dramaturgisch konsequent, dass die Weihnachtszeit den Handlungsrahmen bildet, in dem dieser «leap of faith» stattfindet.
Während ich diese Zeilen schreibe, fällt mir ein Spruch aus meiner norddeutschen Kindheit ein: «Wat mutt, dat mutt». Dieser Spruch, der laut Wikipedia wohl aus dem Niederländischen ins Plattdeutsche gewandert ist, beschreibt einen Sachzwang. Sachzwänge sind unveränderliche Umstände, die Entscheidungsmöglichkeiten einschränken. Sie haben oft den Beigeschmack der rhetorischen Instrumentalisierung für unmoralische Absichten (man kennt das aus der Politik). In meiner Familie wurde der Spruch vor allem dann gebraucht, wenn es darum ging, gegen alle Widerstände weiterzumachen, sei es, um den inneren Schweinehund zu überwinden und etwas zu tun, wozu man eigentlich keine Lust hat, sei es, um äußeren Widerständen zu trotzen (etwa bei steifer Brise mit dem Fahrrad zu Freunden ins Nachbardorf zu fahren). Dann kehrt der Sachzwang seine Richtung um, eröffnet Handlungsmöglichkeiten und richtet sich gegen andere (vermeintliche) Zwänge. Man tut es grundlos, ohne Garantie auf Erfolg. Das Machen macht’s. Darin liegt das Absurde der Hoffnung.
Vielleicht gibt es eine kleine Konjunktur der Hoffnung in dürftiger Zeit: Die Kulturgeschichte der Hoffnung von Jonas Grethlein und die Philosophie der Hoffnung von Lars H. Svendsen zeigen lebensbejahende Realitätsbezüge. Ich stelle mir die Hoffnung warm und sensoriell arm vor.
Letztes Jahr schrieb ich hier über «Film als Gewaltgeschichte», dieses Jahr habe ich die neue Staffel von THE BOYS gar nicht zu Ende gesehen. Die Satire um Superheld*innen als Vehikel eines US-amerikanischen Faschismus hatte immer auf Schock und Splatter gesetzt, und in den ersten drei Staffeln fand ich das nachvollziehbar; es stellte klar, dass es sich um Genre-Unterhaltung handelte, und auf welche Weise die Bilder und Story ins Verhältnis zur Wirklichkeit und vor allem zu Machtfragen gesetzt werden sollten. Splatter – die offene Wunde, die Zerstörung eines Körpers – hat einen gewissen Realitätseffekt, allein schon, weil es trotzdem gezeigt wird, obwohl gemäß der Konventionen der guten Unterhaltung Menschen ganz sauber en masse niedergestreckt werden können, wenn z.B. James Bond eine Pistolenattrappe auf sie richtet und der passende Klangeffekt zu hören ist, kurz bevor sie zu Boden sinken. Zerstörte Körper in Bildmedien sind in dem Sinne ein exzessiver Beleg für Tod und Leid und zugleich eine Kränkung, wenn von einer Person amorphe, ekelerregende Biomasse übrigbleibt. In einer machtkritischen Erzählung, wie sie THE BOYS zu sein schien, ist das politisch: Es zieht eine Hierarchie ein zwischen denen, die auf diese entmenschlichte Körperlichkeit, Dinghaftigkeit reduziert werden, und denen, die diese Entmenschlichung absichtlich oder sogar nur aus Versehen verursachen – eine Hierarchie zwischen (selbsternannten) Übermenschen und allen, die zum Kollateralschaden ihrer Machtausübung werden.
2024 kann ich damit nicht mehr so viel anfangen. Das kann daran liegen, dass bereits ohne Politsatire oft genug die Frage im Raum steht, wessen Leid auf welche Weise sichtbar gemacht wird, von den diversen Kriegsschauplätzen bis zu den nicht als Gewalt sichtbaren Auswirkungen auf ‹Wirtschaftlichkeit› reduzierter Entscheidungen; das Jahr klingt damit aus, dass genau die Art von Koalition aus Großkapital, reaktionärem Patriarchat und populistischem Ultranationalismus, wie sie THE BOYS aufs Korn nimmt, erneut den US-Präsidenten stellt – und zugleich ein Attentäter den CEO einer US-Krankenversicherung erschießt und dafür sofort als heroische Figur inszeniert wird, weil selbst die offizielle Berichterstattung keine anderen Bildformeln dafür zu finden weiß. Angesichts solcher Wirklichkeiten geht mir der Erkenntnisgewinn der Körperzerstörung in THE BOYS ab, und es bleibt der Verdacht, dass die anti-autoritären politischen Inhalte der Serie letztlich den Spaß an der exzessiven Gewaltdarstellung legitimieren sollen. Dann lieber gleich die FALLOUT-Serie schauen, die ist auch eklig, aber politisch darin stimmiger und sogar wirklichkeitsgetreuer, wenn sich die Protagonist:innen abmühen, beim Überleben im postapokalyptischen Prekariat ansatzweise moralisch zu handeln.
Für mich als Poptrottel gehört das alles zum Problem, inwiefern Transgression – zu der Splatter traditionell gehört – als politische Kulturpraxis überhaupt noch etwas zu bieten hat. Transgression ist notwendigerweise marginal, wenn sie die Werte des (bürgerlichen) Mainstreams einkassiert, und kann darin entsprechend zur Ästhetik marginalisierter Menschen werden; die klassische ‹transgressive› Kunst eben, John Waters & Co, Blaxploitation, Punks und Riot Grrrls. Aber vielleicht stellt sich gerade heraus, dass ästhetische Entgrenzung und soziopolitische Marginalisierung sich nur bisweilen überlappen: Bürgerlicher Mainstream, das ist in Deutschland schließlich Rammstein und die Neubesetzung der Moderation eines wesentlichen öffentlich-rechtlichen Kulturprogramms mit jemandem, der seine öffentliche Persona lange um hypermaskuline Notgeilheit aufbaute – die Grenzen bürgerlichen Anstands zu überschreiten heißt dann paradoxerweise, gerade die reaktionärsten Atavismen unserer Gesellschaft zu verherrlichen.
Für einen Moment, den brat summer lang, verwechselte ich selbst eine Subkultur mit einer politischen Bewegung. Das dazugehörige Album von Charli XCX hatte ich ja schon ein paar Wochen auf Vinyl, bevor Kamala Harris von Biden den Wahlkampf übernahm – die absolute Unwahrscheinlichkeit, dass gerade die girly, queere (und, warum nicht, transgressive) Hyperpop-Szene zum Aushängeschild demokratischer Parteipolitik werden konnte wirkte ernsthaft euphorisierend. Im Herbst übersetzte sich diese Unwahrscheinlichkeit in konkrete Zahlen, und diesen Winter wird also ein verurteilter Sexualstraftäter erneut im Weißen Haus sitzen.
Daran, wie sich Pop nicht in Mehrheiten (nicht in Populismus?) übersetzen lässt, werde ich sicher weit über 2024 zu kauen haben. Was Transgression angeht, könnte sie wiederum an anderer Stelle gut aufgehoben sein: Im Manga & Anime scheint es einen neuen Trend zur Entgrenzung zu geben, in Serien wie DOROHEDORO, CHAINSAW MAN und zuletzt DANDADAN. Mit dem früheren, nihilistischen Trash der 1990er hat das nichts zu tun und ist dennoch inhaltlich wie visuell wüster Kram, wenn sich gerade in den beiden letztgenannten Serien das Gefühls- oder gleich Triebleben der jungen Protagonist*innen mehr schlecht als recht in Konflikten mit allerlei Spukgestalten und Aliens sublimiert. Nun sind Teenager an sich eher in der eigenen Wahrnehmung marginalisiert als im Sinne aktueller Identitätspolitik, doch gerade in der Überforderung mit wirklich allem bleibt es anschlussfähig. Mir hat’s jedenfalls geholfen.
Man muss tapfer bleiben, auch wenn einem der Wind ins Gesicht bläst.
Die zähe Mesalliance der Ampelkoalition, die hasenfüssige und rückblickend durch die Bank schockierend witzlose mediale Begleitung (Heizungsgesetz!), die AfD, die Perspektive Friedrich Merz, das perpetuierte Elend der Konflikte im nahen Osten und in der Ukraine, die in den Kulissen schon aufgebaute Grotesk-Performance Donald Trumps, Elon Musk.
Wenn in der von den malevolenten Algorithmen angetriebenen Entropie des nach rechts driftenden Weltgeists schon der Sieg der islamistischen Koalition über Assad in Syrien wie ein Lichtblick der Hoffnung erscheint, dann gibt es verdammt wenig, von dem ich mir wünschen würde, dass es aus diesem finsteren und politisch so umfassend missglücktem Jahr 2024 bleiben würde.
Von Thomas Heise und René Pollesch hätte ich mir gewünscht, dass sie geblieben wären.
Aber ich will Optimist bleiben, nicht zu schwarz sehen. Radu Judes DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD habe ich mir für 2025 aufbewahrt.
Ich führe keine Filmlisten, was mich immer am Ende des Jahres in eine gewisse Bedrängnis bringt. Was habe ich alles gesehen? Was ging vergessen…? 2024 also: Das von Virgil Vernier gezeigte Europa in 100,000,000,000,000 (sowie seine anderen Filmen) / die Nächte in All We Image as Light (Payal Kapadia) und Im Schatten (Thomas Arslan) / The Beast (Bertrand Bonello) / die zutiefst irritierende Protagonistin in Les chambres rouges (Pascal Plante) / das glorreiche Kino von Kiyoshi Kurosawa, wie zuletzt Chime und Cloud / La Chimera (Alice Rohrwacher) / Decision Before Dawn (Anatole Litvak) / May December (Todd Haynes) / die Filme von Shinji Somai und besonders Moving / die USA in Twisters (Lee Isaac Chung) / die Youth-Trilogie (Wang Bing) / eine Kozaburo Yoshimura gewidmete Retrospektive am Il cinema ritrovato Festival, das war eine ziemlich spektakuläre Sache / und abseits der Leinwände: Final Cut (Charles Burns) / die Bilder von Mark Rothko in Paris / Der perfekte Faschist (Victoria de Grazia) / Schule des Südens (Onur Erdur).
Die ersten sechs Monate: zweite Hälfte unseres Aufenthalts an der US-Ostküste … neben den vielen Gesprächen und Diskussionen mit Freund:innen und Kolleg:innen, die es vor allem in diesem Jahr so in Deutschland nicht gegeben hätte (in Atina Grossmanns entnervten Worten: «In the German debate, it’s always about the Germans, not what’s actually going on»), bleiben die Ausflüge mit L und A, nach Bennington, Lake Kezar, Crane Beach, Nahant, Singing Beach, Joyful Garden, World’s End … Nach einem langen Sommer transkontinentaler Familienbesuche pünktlich zur zweiten Einschulung zurück in Berlin. Dort hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung – Motto 2024: «Zeit, für Freiheit zu streiten» – zwar kein einziges Wort über den Scholastizid in Gaza verloren, dafür aber in Zusammenarbeit mit der Bild-Zeitung schwarze Listen angelegt und mir per Post einen USB-Stick mit meinen personenbezogenen Daten zugeschickt. Im Hauptseminar arbeiten wir uns konzentriert und ohne jegliche Polemik durch philosophische Texte zu den Verschränkungen von Antisemitismus und Rassismus. Und in den Netzwerken, die sich formieren gegen Repression und Spaltung, das Schweigen und Zum-Schweigen-Bringen, geht es auch immer wieder mal um die Frage, wohin man gehen könnte.
Ansonsten: TRUE DETECTIVE: NIGHT COUNTRY (Issa López, HBO), UNCLE SAMSIK (Shin Yeon-shick, Disney+), THE ZONE OF INTEREST (Jonathan Glazer), DAHOMEY (Mati Diop), GREEN BORDER (Agnieszka Holland). KIZ. The Harlem Renaissance and Transatlantic Modernism im Met, Southern/Modern im Frist Art Museum, Potential Histories in der Zachęta. James Baldwin: Collected Essays, Patricia Williams: The Miracle of the Black Leg: Notes on Race, Human Bodies, and the Spirit of the Law, Adania Shibli: Minor Detail, Bảo Ninh: Hà Nội at Midnight, Anthony Passeron: Les Enfants endormis, Nathan Thrall: A Day in the Life of Abed Salama: A Palestine Story, Didier Fassin: Une étrange défaite: Sur le consentement à l’écrasement de Gaza, +972 Magazine, Jewish Currents, The Diasporist, Forensic Architecture, Makdisi Street … und alle anderen, die weiterhin sagen, was ist.
Rebecca Solnit, Orwell’s Roses: ein mäandernder biographischer Essay über George Orwell und die Bedeutung von Natur und Schönheit in seinem Werk.
Trotzdem sprechen (hrsg. v. Lena Gorelik, Miryam Schellbach und Mirjam Zadoff): dokumentiert deutsch-palästinensische und deutsch-jüdische Perspektiven und Erfahrungen seit dem 7. Oktober 2023.
Diedrich Diedrichsen, Don’t Cry Woke: von unbestechlicher Klarheit und darin ein rarer Lichtblick in einer völlig aus dem Ruder gelaufenen Debatte.
Jeanine Meerapfel, Im Lande meiner Eltern: ein filmisches Porträt von Jüdinnen und Juden in Deutschland aus dem Jahr 1980, darunter Sarah Haffner und Luc Bondy.
Am 26. Februar stirbt René Pollesch und am 29. Mai Thomas Heise, und weil der Tod früh und überraschend kommt, heißt es dann, dass sie jetzt fehlten; dabei ist es bei Leuten, die so prägend waren für die eigene kulturelle Sozialisation, das eigene Denken, Sprechen und Sehen, eher so, zeigt die Erfahrung durch das Jahr hindurch, dass sie noch da sind, man mit ihnen beschäftigt ist, neu sortiert. Bis hin zum langen Abend mit J. im Dezember, 25 Jahre paralleles Leben. Heimat ist ein Raum aus Zeit.
Am 14. November interviewt Jazlyn Guerra aka Jazzy’s World TV, eine 14-jährige Influencerin, Mike Tyson vor dem albernen Kampf für Netflix. Jazzy fragt nach der Legacy, was Tyson eher pessimistisch sieht beziehungsweise so philosophisch, wie sich das Tom Kummer früher für Stars ausdenken musste: «We’re nothing, we’re dead, we’re dust, we’re absolutely nothing. Our Legacy is nothing.» Das professionelle Kind daraufhin: «Thank you so much for sharing that.»
Am 24. März den Grand Slam of Mausoleen geschafft (wenn auch nicht in einem Jahr), nach Moskau (Lenin), Peking (Mao) und Pjöngjang (die Kims) schließlich in Hanoi (Ho). Größter Andrang, aber sehr gutes Warteschlangen Management.
Ein paar Reihen Hits
Filme: All of us Strangers, Love Lies Bleeding, allein für die Szene mit dem absinkenden Skulpturenkopf: La chimera, und der Re-release von Stop Making Sense. Dieses Jahr Julia Ducournaus Raw nachgeholt, topp Coming of Age-Film. Konzerte: Überragend war Vera Sola, die große Überraschung waren live die Beach Fossils. Skurrilste Konzertwoche: Team Scheiße, tags drauf im Doppel Erregung öffentlicher Erregung und Die Mausis, dann Robbie Williams. Ziemliche Banger: Lambrini Girls: Company Culture, English Teacher: Daffodil, King Hannah: New York, Let’s Do Nothing, Dummy: Soonish…, C Turtle: Melvin Said This. In wohliger Erinnerung bleiben die Alben von Cassandra Jenkins und Cola. Bücher: Deb Olin Unferths Vacation (ging lange bis ich verstanden hab, was ich da eigentlich lese). Mit mäßigen Erwartungen eine Lesung zu Parade von Rachel Cusk besucht, die mich aber gut abgeholt hat. Glücksgriff im Bahnhofsbuchladen: Ottessa Moshfeghs Lapvona, gute Mischung aus Humor und Verderben. Größte Sympathien für Uncharles, Tchaikovskys Protagonist in Service Model, der göttliche Prüfungen bestehen muss, aber nichts anderes als eine gut sortierte Task List ersehnt. Kelly Links herrlich absurde Kurzgeschichten Get in Trouble. Und zum Jahresende Alan Bennetts Killing Time.
Meinem Jahr gegenüber ist das wahrscheinlich etwas ungerecht, aber was diesmal vor allem bleibt, ist Verlust. Der Abschied, mit dem es begann, war dabei nicht nur als Verlust prägend, sondern auch für die Art, über Verlust nachzudenken. Marie-Luise Angerer ist am 2. März gestorben. Ihre Krankheit, die letzten Herbst schon überwunden schien, hatte 2022 und 2023 verhindert, dass sie wie sonst so ziemlich jedes Jahr die Was vom Jahr bleibt-Folgen eröffnete. 2021 hatte Marie-Luise ihren Rückblick mit «es geht weiter» begonnen und auch beendet. Der letzte Forschungsschwerpunkt, den sie gesetzt und auch zum Titel und Thema ihres letzten Textes (posthum im April veröffentlicht) gemacht hatte, hieß Verlustkonktrolle. Als ich mit ihr 2022 zum ersten Mal darüber sprach, konnte ich keine Ahnung haben, wie sehr ich 2024 durch die Linse dieses Begriffs sehen sollte. Die Schwierigkeiten, mit (drohenden) Verlusten klarzukommen, bestimmen persönliche Erfahrungen und zeigen sich gesellschaftlich und (geo-)politisch auf so vielen Ebenen in diesem Jahr, dass mir schon beim Mitzählen schwindelig wird. «Verlustkontrolle ist Symptom wie Unbehagen gleichermaßen», hatte Marie-Luise geschrieben, «adressiert die unterschiedlichen Themen sowie die entsprechenden Akteur*innen und betrifft alle, wenn auch nicht im selben Ausmaß: Klimakatastrophe(n), Artensterben, Künstliche Intelligenz, die Verschiebung globaler Machstrukturen sowie das Aushebeln demokratischer Parameter verweisen auf nicht steuerbare Verluste und blinde Horizonte.» Kriege, die Erfolge rechtsextrem-chauvinistischer Kräfte und das fortlaufende Entzweien derer, die etwas dagegen einzuwenden haben aber anstelle bzw. bei der Suche nach Gemeinsamkeiten an mangelnder Ambiguitätstoleranz verzweifeln, machen mein Maß voll.
Kann gut sein, dass ein Film im Frühling dieses Jahres auch deshalb für lange der schönste Lichtblick gewesen ist, weil ich mich darüber gern mit Marie-Luise unterhalten hätte. Wie Elene Naverianis Blackbird Blackbird Blackberry der großartigen Eka Chavleishvili Raum gibt und sich dieser Raum mit dem einer (ziemlich eigenen) Gesellschaft überschneidet, ändert alles: was Eka Chavleishvilis Etero sein und werden kann und wie Miteinander geht. Alleinsein auch. Die entschlossene Offenheit dieses Films hängt auch daran, dass nicht leicht zu sagen ist, wie der Film eigentlich (auf die Personen und ihre Gesellschaft) guckt.
Das exakte und bekloppt-gehypte Gegenteil dazu hatte dann passenderweise der Herbst zu bieten. Was als male gaze gelesen werden kann und wohl auch soll, wird von Coralie Fargeats The Substance so merkwürdig angebetet, dass ich lange an eine strategische Volte glauben will, das in irgendetwas anderes zu überführen. Da wird aber nix draus, weil sich die Unsicherheit der Inszenierung (immer wieder müssen Schlüsselsätze und -einstellungen wiederholt werden) an der Alternativlosigkeit eines ästhetisch-ideologischen Regimes festzukrallen versucht. Demi Moores «echter» Vorzeige-Body in der Design-Duschtasse bürgt für die Fallhöhe des Alterns (natürlich kritisch gemeint). Die Hölle, das sind die anderen Körper.
«Also bitte!» ist der Kommentar, den ich mir beim Verlassen des Kinos als Reaktion von Marie-Luise vorstelle; gefolgt von dem sehr vertrauten Lachen, das immer auch eine Art entwaffnendes Luftholen für eine entschiedene Positionierung gewesen ist. Bei mir setzt das Lachen erst ein, als ich nach ein paar Metern auf der anderen Straßenseite zwei Plakate entdecke. Besser wird’s nicht. Deren Nebeneinander – eine Installation zu den systemischen Gemeinsamkeiten von Körperpolitiken, die in diesem Film mit plastiniertem Ausstellungswillen zusammenkommen – ist ein kleines Kunstwerk der Kritik.
2024 war: Viel Tod. Viel Theater. Abtauchen in Bochum.
A
Die Anhörung von Lisa Gerig. Reenactment von Interviews im SEM (Staatssekretariat für Migration), welche die Grundlage für einen Asylentscheid in der Schweiz bilden. Besonders überzeugend ist die Umkehr der Rollen und damit auch das Aufbrechen von Machtasymmetrien. Befrager:innen spielen auch Befragte (und umgekehrt).
Antigone im Amazonas von Milo Rau und Ensemble, im Schauspielhaus Zürich. Nochmals ein Reenactment. Es geht um eine Landbesetzung. Rau hat den Antigonestoff in der Amazonas-Region Pará angesiedelt. Film+Sand=Bühnenbild.
B
Blackbird Blackbird Blackberry von Elene Naveriani. Erstmals verlieben und vögeln. Feministisch, queer, georgisch.
Don’t Worry Be Yoncé, im Schauspielhaus Bochum. Die Abschlussarbeit von Stephanie van Batum wird nach ihrem Tod von den verbliebenen Performerinnen als Dreierkollektiv weitergeführt. Seminar, Tutorial und a lot of fun.
C
Bruno Cathomas, Peiden in der Regie von Rafael Sanchez im Schauspielhaus Zürich. Die Familie meiner Mutter stammt aus dem Nachbardorf Tersnaus. Pflicht, dass wir einen kleinen Familienausflug in den Pfauen machten. Cathomas in Bühnendeutsch und Sursilvan (der Muttersprache meiner Mutter). Neben Cathomas ist auch noch der Rapid-Einachser zu erwähnen, auf dem zum Schluss das gesamte Bühnenbild verpackt und abtransportiert wird.
D
Dessertsuppe war meine kulinarische Entdeckung von 2024. Lena, Nik und ich entdeckten das KaiKai Dessert zufällig in Hongkong. In Erinnerung bleiben die schwarze Sesamsuppe und die Mangosuppe mit Sago. Es gäbe noch etwa 70 weitere Suppen.
Anlässlich der Alice Diop-Masterclass am Visions du Réel in Nyon auch Nous von 2020 entdeckt. Ein Wir wird mit der Kamera räumlich abgesucht, mitsamt den Friktionen.
E
Wir Erben von Simon Baumann über eine der heiligen Kühe in der Schweiz – dem intergenerationellen Vermögenstransfer. Simon Baumann (der Sohn) filmt seine 68er-Eltern, die mal zur Schweizer Politikprominenz gehörten und sich in Frankreich einen Bauernhof aufgebaut haben. Was bedeutet es Besitz zu vererben? Eine Zumutung? Und wenn ja, für wen?
EWS – Der einzige Politthriller der Schweiz im Neumarkt-Theater in Zürich von Piet Baumgartner und Julia Reichelt. Hinterrücks war sie, die Abwahl Christoph Blochers am 12.12.2007, die ich im Emergency Room in Chicago verpasst hatte. Nun konnte ich sie nachholen, mit einem Dutzend EWSs auf der Bühne. Ich hoffe doch, dass die implizite Regel in der Schweiz auch in Zukunft gelten wird: Wer im Bundeshaus zu viel Macht hat, wird abgesetzt.
F
Favoriten von Ruth Beckermann. Die Langzeitbeobachtung einer Klasse im Favoritenbezirk in Wien. Eine Hommage an die Lehrer:innen und im speziellen an Ilkay Idiskut.
Friedericke Mayröcker im Literaturmuseum in Wien mitsamt einer VR-Installation ihrer Arbeitswohnung. Noch bis 16. Februar 2025.
G
2 G von Karim Sayad. Gold-Extraktion in der Sahara. Nach einer langen Reise und Woche Arbeit bleibt den Männern aus Agadez der Gegenwert von 2 Gramm Gold.
H
Haaretz. Seit März 2020 abonniert. Wichtiger denn je. Zusammen mit dem Blog +972
Herrgottsbescheisserle im Grünen Gaul in Bochum. Simons Lieblingslokal in Bochum (ihm gefällt das Weinangebot). Mir hatten es die Herrgottsbescheisserle angetan. Weniger wegen der Speise an sich als wegen dem Namen. Katholikinnen sind einfach einfallsreichere Wortschöpfer.
K
Krähe. Trauer ist das Ding mit von Federn von Christopher Rüping am Schauspielhaus Bochum. Ein Stück über das Trauern. Und dann zum Schluss die Windmaschine, die die Asche der Mutter auf der Bühne rumwirbelt. Und nicht zu vergessen das schöne Ballett mit der rauf- und runtertanzenden Lichttechnik.
L
The Landscape and the Fury von Nicole Vögele. Audiovisuelle Bestandesaufnahme einer Transitlandschaft.
M
Mettler. Tod ist Arbeit. Peter Mettler hat die Arbeit gemacht. Seine Eltern mit Unterstützung der Kamera beerdigt. While the Green Grass Grows. Part 1 & 6.
N
Nemo Als eine Studentin mir vorschlug eine Seminararbeit über Israel und den ESC schreiben und am Rande der Sprechstunde sagte, dass Nemo siegen könnte, glaubte ich ihr das sofort. Sie sollte Recht behalten. Eine so coole Performance und eine so schöne Stimme und zur Entrüstung der Evangelikalen und der SVP hat Nemo auch noch die nicht-binäre Fahne reingeschmuggelt. Ein bischen Revolution im TV.
P
Les Paradis de Diane von Carmen Jaquier und Jan Gassmann. Der schönste Drifterfilm seit Sans toit ni loi.
Passo di Gana Negra. Vom Lukmanier nach Campo Blenio. Was für eine Landschaft. Schwarzen Felsbrocken auf grünen Wiesen in Bergsommerblüte. Und Karin hatte Geduld mit meiner Kurzatmigkeit.
Passo da Niemet. Vom Monte Spluga (nach einer Übernachtung im tollen Albergo della Posta) über den Passo da Niemet nach Innerferrera.
R
Roman Signer. Seesicht in Zug. Ab zehn Uhr bis zur Abenddämmerung. Das Grün ist immer anders. Geht hin. Aber Achtung: Es gibt eine Winterpause.
Rot Grätli, der Übergang von der Bannalp zur Rugghubelhütte SAC, gerade vor dem ersten Wintereinbruch.
Riefenstahl. Andreas Veiel hat es geschafft das durchkuratierte Archiv von Frau Riefenstahl gegen den Strich zu bürsten.
S
Stadtdörfer in Shenzhen, bevor die Wolkenkratzer kamen. Huanggang Village, Dafen Village etc.
Seidenraupen. Siang Shaoji’s Sea of the Cloud im SWCAC, Shenzhen. Die meisten Besucher:innen kommen übrigens nicht wegen der Kunst ins SWCAC, sondern als Influencer oder Hobby-Instagrammer.
Surfen auf Tahiti an den Olympischen Spielen. Mit einer Showeinlage eines Wals, der in die Luft sprang. Eine Glanzstunde des Livestreams.
Seinetwegen von Zora den Buono. Auch eine Hommage an Archive und Archivar:innen.
T
There is no There There im Museum für Moderne Kunst Frankfurt. Kunst von Arbeitsmigrant:innen, Exilierten und Geflüchteten in der DDR und in der BRD von den 1960er bis in die 1980er Jahre, nun im musealisierten Zustand.
W
Wertewirtschaft. Andrea Pichl im Hamburger Bahnhof. Geht doch noch hin (bis 4. Mai 2025). Ich war am letzten Museumssonntag im Dezember da. Das Volksmuseum als Prinzip. Dafür würde es sich lohnen zu kämpfen.
Z
Zone of Interest ist Alexandria Bystroń-Kołodziejczyk gewidmet. Die Vorlage für die mit einer Wärmekamera gefilmten Nachtszenen. Die weisse Figur im Schwarz versteckt Äpfel in der Nacht, eine Geste der Menschlichkeit in der Tötungsfabrik.
«Wenn ihr uns nicht ernst nehmt, nehmen wir Drogen» stand um 2004 und damit vor zwanzig Jahren in großen, roten Lettern jahrelang unübersehbar an der Fassade der Uni Bremen zu lesen. Wenn die Strassenbahn langsam ratternd auf den Campus einbog, machte sich dieser Schriftzug über lange zwei Minuten bis zum Halt der Bahn präsent. Damals, in den Bush-Jahren, lebte ich zunächst eine Weile in Kalifornien, dann zwei Jahre in Austin Texas. Jack Rose, Six Organs of Admittance und die damals noch komplett unbekannte Harfistin Joanna Newsom zirkulierten durch die unzähligen Live-Bars von Austins Sixth-Street, wo selbst Montagsabends aus den Türen Livemusik tönt.
New Weird America taufte der britische The Wire Autor David Keenan 2003 diese Formation, die ihre Referenzen aus der Folkmusik, der Country-Music und den Spielarten psychedelischer Musik mit all ihren esoterischen Affiliationen bezog.
Amerika in der Dekade Post-9/11: mitten im Orkan aus unilateralem imperialen Rausch, Evangelisierung und neoliberalen Vollabriss. Die Bilder von Abu Ghraib waren noch frisch, New Orleans gerade abgesoffen und die Bankenkrise von 2008 stand vor der Tür. Napster hatte dazu die Band als ökonomische Form erledigt und damit auch die damit verbundenen psychosexuelle Optionen kassiert. Pynchon, tantiemenrosengebettet, erinnerte seine strapazierfähigen Leser in Against the Day an die Arbeiterkämpfe und den Anarchismus Ende des 19. Jh. in den USA. Resonanzoptionen, die nach dem Ende der Geschichte & alternativer Gesellschaftsformen oder auch nur funktionierender Gewerkschaften für junge Menschen mit Musikbegehren wenig kopplungsfähig waren. Es waren nur noch Ich-Unternehmer ohne Bandballast im kulturellen Orientierungsbetrieb viabel. Eine Gitarre, vielleicht ein paar Effekte und eine Person mussten ausreichen, um zu erkunden, was Amerika war, ist, sein könnte.
Welche kulturellen Selbstverortungsunternehmungen der USA auf Trump II folgen, wird abzuwarten sein. Drogen nehmen die Kids jedenfalls historisch wenig. Stattdessen tun sich die Älteren hervor, die Kategorie «Death by Despair» in den Sterbetafeln, Bevölkerungsstatistiken und von dort aus allmählich im öffentlichen Bewusstsein zu etablieren. Fentanyl Narcofare hat sich in den Worlds of Welfare Capitalism bereits real zutiefst eingeschrieben, die Bücher dazu muss die vergleichende Sozialstaatsforschung erst noch beantragen. Ob Musk und sein Department of Government Efficiency den seit Goldwater wachen konservativen Traum des Zurückrollens des New Deals auf die Gleise bringt und Medicare und Medicaid der Privatisierung zuführen, wird sich zeigen müssen. Bei Death by Despair ist demographisch immer noch Luft nach oben und was nach der Fentanylökonomie kommt, ist offen. Aber vielleicht bleibt es dabei, hat sich ja biopolitisch bewährt.
Derweil geht es dem Planeten an den Kragen, bzw. an die Kruste. Drill, drill und so weiter. Taylor Sheridan, der mit Yellowstone, 1883 und 1923 die Gründungsmythen und Fragen, was Amerika war und ist, vieleicht wird, seit gut sechs Jahren im Serienformat episch und sicher nicht progressiv durchspielt, hat dabei wahrscheinlich eine mit gängigen medienwissenschaftlichem Besteck schwer zu greifende Form der IP-Bewirtschaftung zur Reife gebracht. Da kommen Finanzialisierung, Franchise-Verwertungskaskaden und Streaming-Wars in einer neuen Form zusammen und für Sheridan ist die Nation eine lukrative IP-Option. Wobei er sich derzeit die wohl größten Claims abgesteckt hat. Nach Frontierism, Viehwirtschaft und großer Depression nimmt er sich jetzt des Öls und zugleich der Drogen an. Im die Serie Landman eröffnenden Dialog zwischen dem Ölmanager Tommy Norris aka Billy Bob Thornton, der mit einem Abu-Graib-würdigen Sack über dem Kopf, seinem Kartellgegenüber die Gemeinsamkeiten der Petroleumindustrie und Drogenhandel erklärt, macht die Serie klar wohin die Reise geht: Amerika als Abhängigkeitsformation. Das ein IP-Laywer nicht im Bild ist, um die Gemeinsamkeiten von Kulturextraktivismus, Drogenhandel und Ölwirtschaft zu erklären, liegt in der kulturindustriellen Sache selbst. Immerhin besteht ja noch Hoffnung, das auch diese Rekursion noch mal zur Ausbeutung kommt. Die IP-Frontiers, die Sheridian bestellt und claimt, sind gleich doppelte Landnahmen: 1100 Quadratkilometer umfasst sein Landbesitz, 2023 hat er als Teil einer Investorengruppe mehr als eine viertel Milliarde in den Kauf einer historischen Ranch in Texas stecken können, um dort seinen writers retreat einzurichten. Schreiben lohnt sich.
Die Ohmachten des Schreibens waren währenddessen beim Besuch der Petrocultures 2024 in Los Angeles spürbar. Der Campus der UCS nach den propalästinänischen Protesten im Springterm 24 zu einer Festung ausgebaut. Zugang zum Campus nur an drei scharf kontrollierten Punkten. Dort 2 Meter hohe Bauzäune doppelreihig im Abstand von 3-4 Metern aufstellt und gut 30 Meter hintereinanderliegende Schleusen, die nach doppelter Ausweiskontrolle die Gäste in mit Bauzäunen abgegitterten Passagen zum Veranstaltungsort verteilten. Einmal dort angekommen, war freies Bewegen auf dem Campus zwischen der John Williams Scoring Stage und der oscarseeligen School of Cinematic Arts – Motto «Reality ends here» – nur mit Einschränkungen möglich. An irgendeiner strategischen Stelle war immer eine Barriere oder eine Schleuse eingezogen, um die realen Körper zu sortieren und zu blockieren.
Unter diesem Eindruck und dem Präsidentschaftswahlkampf in den USA diskutierten vier Tage lang AkademikerInnen aus aller Welt die Geschichte und Gegenwart von Öl in unseren Kulturen. Selten habe ich in den letzten zwanzig Jahren eine derart konzentrierte, gegenstandsgetriebene und inspirierende Atmosphäre erlebt. Man wähnte sich auf den Schwingen der Eule, die ihren Flug eben angetreten hat. Wahrscheinlich fliegt sie 2026 in Dresden vorbei, wo die nächste Petrocultures stattfinden soll. Im von VW-Krisen geschüttelten Verbrennerausautoland Deutschland hat jenseits der Pionierarbeiten von Klose/Steiniger die Academia von dieser Debatte bislang erstaunlich wenig mitgeschnitten. Dabei wird die Petrodämmerung uns nicht nur Trump und Putin sei Dank noch lange beschäftigen.
2024 kann man nicht nur deswegen das Drogen nehmen auch erst nehmen und sich ins Absolute Elsewhere wünschen, welches Musks Raketen nie erreichen werden. Oder etwas defensiver und vielleicht defätistisch auf die alten Tage die lokalen lost worlds zu besingen. Cool bleibt die extraktivistisch durchzeichnete Welt sicher nicht: «the band took their name from piles of chat, byproducts of lead-zinc mining which are commonly found throughout Northeastern Oklahoma.» Mindestens Mood Swings bleiben da nicht aus. Immerhin sind die Six Organ of Admittance immer noch da, lassen die Zeit Glas sein und machen nun ecosystem goth. In Deutschland ist währenddessen pünktlich zur Koalitionskrise Tocotronic und damit der ästhetische Wurmfortsatz des Dritten Wegs mit seinem Klang des Privilegs zurück. Das verheißt nix Gutes für 2025.
Immer noch shell-shocked (Paul Bettany): Zemeckis’ HERE hat mich getroffen wie wenig andere Filme in den letzten Jahren. Vielleicht ja auch, fällt mir erst jetzt auf, ein paar Wochen später, weil das Gefängnis, in das sich das Wohnzimmer-Set nach und nach verwandelt, eng verwandt ist mit den Sitcom-Gefängnissen, mit denen ich mich vor auch schon wieder einigermaßen geraumer Zeit recht ausgiebig beschäftigt hatte. Erzählt der Film am Ende gar die Geschichte der Sitcom-Generation? Eine jeglicher Komik weitgehend entkleidete Geschichte freilich… Die Sitcom-Häuslichkeit war nie mehr als Autosuggestion, ein Selbstbetrug, der funktioniert, so lange er funktioniert. Funktioniert er irgendwann nicht mehr, steht da nur noch ein einsamer KI-Tom-Hanks vor einem überdimensionierten Sofa und tut sich selbst leid. Die Frage, ob Sozialisation in der Moderne jemals mehr sein kann als Selbstbetrug, bleibt am Ende von HERE, scheint mir, auf ziemlich spektakuläre Weise offen.
Kurz vor Jahresende auch noch ein Volltreffer in Sachen deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Ein komplett unerwarteter außerdem, wobei ich gar nicht sagen kann, weshalb ich dem Universum Wolf Haas vorher stets ausgewichen war; Österreich und Krimigroteske, vielleicht schien mir das intuitiv etwas allzu naheliegend. Das Wetter vor 15 Jahren jedenfalls ist pures Glück, genau mein Ding, nicht Sitcom diesmal, sondern Screwball, filigrane meta-Screwball möchte ich sagen, aber Screwball ist vermutlich eh immer schon meta, deshalb einfach nur: große Oberflächenkunst. Das geht also auch auf Deutsch, manchmal. (Schöne, ganz anders schöne Bücher davor und danach gelesen von Marion Poschmann, Marlene Streeruwitz, Emine Sevgi Özdamar, Ronya Othmann, Deniz Ohde. Die eigene Komfortzone verlassen hilft, deshalb jetzt nicht gleich weiterlesen bei Haas.)
To whom it may concern: Empathie ist immer selektiv, weil Empathie eine Selektion ist; eine Form, die etwas bezeichnet und alles, was sie nicht bezeichnet, invisibilisiert. Auf die andere Seite der Form gelangt man nur durch eine neue Selektion, für die dasselbe gilt.
Irgendwann im Frühjahr 2024 bin ich nach langer Zeit mal wieder ins Kino gegangen, im Filmhaus Spittelberg wurde Stop Making Sense (1984) als nagelneues 4K-Digitalisat gegeben, ich dachte, okay, kann nicht schaden, das Kino wird leer sein und ich finde die Talking Heads immer noch nicht peinlich und ich habe den Film noch nicht gesehen. Bonus: Ms. K. kam mit (oder ich mit Ms. K.). Ins Filmhaus am Spittelberg bin ich sowieso immer gern gegangen, solides Arthouse-Programm, bequeme Sitze, funktionierende Klimaanlage, stets sehr spärlich besucht, weil die meisten Filme schon vorher in einem der anderen angeschlossenen Programmkinos gelaufen sind; seit der Pandemie finde ich es gut, wenn nur wenige Bio-Akteure mit mir im geschlossenen Raum sind, ich trage sogar 2024 noch Maske, ein sinnloses Statement, das diesmal wenigstens zum Filmtitel gepasst hat. Wir gingen also hin, haben als alte Onlinewesen die Karten natürlich übers Internet aufs Smartphone bestellt. Kluger Move, wie sich herausstellte, denn der Vorraum war knallvoll mit Menschen, die ungefähr so alt waren wie wir, aber nicht nur, ich stellte fest, die meisten Leute hier waren signifikant jünger und sie waren Fans der Talking Heads, im ausverkauften Kino herrschte Konzertstimmung, die Fans klatschten nach den Nummern, alles wippte im Geiste mit, making flippy floppy. Eine Bubble unheimlich guter Laune breitete sich aus, umgab uns alle, denn wir brauchten das gerade, diese Sehnsucht nach harmlosem Spaß transzendierte Altersschichten, Herkunft und Polit-Shit. Auf der Leinwand passierte Unheimliches: Während die Shots ins Publikum eindeutig eine Menge der 1980er Jahre zeigten, Haartracht, Mode, alles vintage Reagan-Ära-NYC, schienen die Personen auf der Bühne eher aus den 2020ern zu stammen. Die Background-Sängerinnen trugen sogar diese schlafanzugähnlichen Hosen mit betonten elastischen Bündchen, in denen die Milliennial-Kolleginnen so gerne rumlaufen. Die Zeit im Film war geteilt. Die Band war von heute und spielte für das Publikum von vor 40 Jahren. War das der Grund für die gute Laune? Dass sich das emotionale Investment in einen avantgardistischen David Byrne mit Stylezins und Stylezinseszins so offensichtlich rentiert hat? Für die jungen Menschen im Publikum konnte das nicht gelten, die fanden wahrscheinlich nur den Film und die Musik gut. Ein eklatanter Unterschied zu meiner eigenen Jugend in der Post-Punk-Ära, als wir Fans von Musik, die älter war als drei Wochen, einfach brutal abgesnobt hätten. Du stehst noch auf Pink Floyd und Electric Light Orchestra? Ahahahahahá! Früher war wirklich alles besser. Aber das nicht.
Die Retrospektive, zu der ich diesen Text beisteuern darf, trägt den schönen Titel Was vom Jahr bleibt. Viele schreiben hier über Filme und Serien, die sie beeindruckt haben, von neuer oder wiederentdeckter Musik, Konzerten und Theaterbesuchen, Reisen, besonderen Begegnungen und Ereignissen (im positiven wie negative Sinne) – Wegmarken des Jahres also, auf die man sich zukünftig beziehen kann, und die, notizenhaft festgehalten, für später bleiben werden.
Ich möchte auch etwas festhalten, das nach 2024 aber wahrscheinlich nicht bleiben wird, höchstens als Erinnerung, nicht im physischen Sinne. Ich möchte beschreiben, was akut zu verschwinden droht: ein kleines, regionales Filmfestival, das ich seit 2014 in unterschiedlichen Funktionen mitorganisiere und mitgestalte. Das blicke – filmfestival des ruhrgebiets zeigt aktuelle Filme aus dem deutschsprachigen Raum, meistens kurze oder mittellange, begleitet von kuratierten Sonderprogrammen, medienkünstlerischen Installationen, Gesprächsrunden und Diskussionsveranstaltungen. Thematische Klammer ist das Ruhrgebiet, wobei durchaus auch Filme ohne engen regionalen Fokus im Programm laufen.
Wer das Festival googelt, findet (noch) eine Homepage, einen Instagram-Account, eine Facebook-Seite, verstreute Presseberichte, einige Videos. Was es unpraktischerweise nicht gibt, ist ein Wikipedia-Eintrag (im Internet nach wie vor der beste Indikator für Relevanz und Strahlkraft). Das Fehlen dieses Artikels ist in gewisser Weise meine eigene Schuld. Ich wollte ihn eigentlich im Sommer 2024 schreiben, aber natürlich kam immer etwas dazwischen. Ich redete mir ein, dass ich den Text ja auch im nächsten Monat in Angriff nehmen könnte. Wozu auch die Eile, das Festival läuft ja nicht weg, so dachte ich blauäugig noch im Herbst. Doch dann kamen die Schockwellen der Kürzungen in den städtischen und landeseigenen Kulturetats. Viel wurde über die erschreckende Situation in Berlin berichtet, ebenso über die Lage in Köln. Aber es traf auch Kulturveranstaltungen im ganzen Bundesland Nordrhein-Westfalen, nicht unbedingt die Leuchtturmprojekte in den großen Städten, sondern auch Initiativen und Einrichtungen der sogenannten «freien Szene». Und damit auch blicke. Das heißt konkret: Das Festival erhält von der Landesregierung für das Jahr 2025 keine Fördermittel mehr. Auf einen Schlag brechen rund zwei Drittel des Budgets weg. Diese finanzielle Lücke kann nicht durch andere Fördertöpfe ausgeglichen werden. blicke wird nach der letzten Ausgabe im November 2024 wohl nicht mehr stattfinden – wenigstens nicht mehr in seiner bisherigen Form.
blicke, so heißt es in den Selbstbeschreibungen des Festivals, ist aus der Videobewegung entstanden. In den späten 1980er-Jahren fand sich in Bochum unter dem Namen Klack Zwo B eine Gruppe zusammen, um in Eigenregie ein regelmäßiges Videomagazin über das politische und kulturelle Stadtgeschehen zu produzieren. Die Beiträge wurden als alternative 20-Uhr-Nachrichten in einem lokalen Kino vorgeführt. Im April 1993 luden die Macher*innen erstmals zu einem Video- und Super-8-Festival namens blicke aus dem Ruhrgebiet ein. Es kamen politisch engagierte Videogruppen, Studierende der umliegenden Hochschulen, Dokumentarfilmemacher*innen, aber auch Personen, die man damals wohl «Amateurfilmer*innen» nannte, um sich gegenseitig ihre Filme über das Geschehen im Ruhrgebiet zu zeigen und miteinander ins Gespräch zu kommen.
blicke fand fortan jedes Jahr statt, zunächst noch im April, ab 1996 im November. Die Länge des Festivals wuchs auf fünf Spieltage. Es wurden zusätzliche Programmschienen aus der Taufe gehoben, Kooperationen mit anderen Festivals und Filmwerkstätten aufgebaut, Filme aus anderen europäischen Industrieregionen ins Ruhrgebiet geholt. Die leitende (und eigentlich sehr klassische) Festivalidee in den 1990er und frühen 2000er Jahren war, vor allem solche Filme zu fördern, die wegen ihrer Länge, ihres Themas oder ihrer Machart wenig Chancen auf eine kommerzielle Auswertung hatten, sei es im Kino oder im öffentlich-rechtlichen wie privaten Fernsehen. Deshalb kombinierte blicke das explizit regionale Filmemachen sehr früh mit experimentellen Arbeiten, ungewöhnlichen Längenformaten und Werken in der Tradition des politisch engagierten, beobachtenden Dokumentarfilms. Schon 1995 lief eine «autobiografische Werkschau» von und mit Werner Nekes im Programm. Es folgten Filme von Dore O., Fernseharbeiten von Hellmuth Costard, Dokumentarfilme von Klaus Wildenhahn oder Rainer Komers. 2009 zeigte das mittlerweile in blicke filmfestival des ruhrgebiets umbenannte Festival die ersten Filme von Christoph Schlingensief. Die anarchische Atmosphäre der Anfangsjahre lebte in einer «Super8N8» fort, legendären Spätprogrammen mit einem wilden Mix aus selbstgedrehtem oder gefundenem Super8-Material. Zeitzeug*innen berichten von einem Hamburger Duo, das zu ihren neuesten Super8-Kreationen gleich die passenden Schnäpse mitbrachte.
2014 bin ich selbst in die Auswahlkommission des Festivals hineingerutscht. Sichten bei blicke bedeutete: eine Woche im September kollektives Filmschauen und Diskutieren in einem Ferienhaus an der windigen holländischen Nordsee. Mit einer Unterbrechung durfte ich mich seitdem jedes Jahr mit vier oder fünf Kolleg*innen durch die stetig wachsenden Filmeinsendungen wühlen – zunächst tatsächlich noch durch haufenweise DVDs und Blu-rays, später durch Vimeo-Links in Google Spreadsheets – und aus 25 bis 30 Filmen ein Programm zusammenbasteln. Uns interessierten vor allem solche Filme, die sich ein Ruhrgebiet jenseits von Förderturmnostalgie und Currywurstromantik vorstellten. Ein Beispiel: Die 30. Ausgabe des Festivals eröffnete der Film NOTHING IN THIS WORLD CAN TAKE THE PLACE OF PERSISTENCE von Silke Schönfeld, gedreht in der leergeräumten Filiale des ersten McDonald’s in Herne. Die Regisseurin lässt eine Gruppe von Performer*innen mit braunen Papiertüten auf dem Kopf über Möglichkeiten diskutieren, das leere Ladenlokal zu einem hippen Kulturort umzugestalten. Zwischendurch probt eine Band, und die ehemaligen Betreiber erinnern sich, wie es damals, in den 1970er Jahren, mit der Systemgastronomie im Ruhrgebiet losging (Strukturwandel kulinarisch!).
Silke Schönfelds Film ist eine von mehreren Auskopplungen eines Kunstprojektes. Die Arbeit existiert auch als Installation, die in dem leergeräumten Ladenlokal in Herne gezeigt wurde. Das war in späten Festivaljahren nicht untypisch. Lineare Filme waren nur eine Variante einer umfangreichen künstlerischen Arbeit, die für verschiedene Aufführungsformate und -orte konzipiert wurde. blicke versuchte, zeitgenössischen Umgangsweisen mit bewegten Bildern auch jenseits des klassischen Kurz- oder mittellangen Films Raum zu geben – und mit Themen zu verknüpfen, die nicht nur im Ruhrgebiet relevant sind. 2018, als die letzte Zeche im Ruhrgebiet ihren Betrieb einstellte, zeigte blicke dokumentarische Langzeitprojekte des Filmemachers Jens Schanze, der rekonstruiert, wie der Kohleabbau für deutsche Kraftwerke auf der anderen Seite des Globus unvermindert weitergeht. 2019 gab es ein umfangreiches Sonderprogramm zu aktuellen Dokumentarfilmen aus Syrien (u. a. mit Beiträgen von Khaled Abdulwahed, Guevara Namer und Ali Al Ibrahim), die zu großen Teilen aus Smartphone-Footage montiert wurden. Zur letzten Festivalausgabe im November 2024 schließlich – geradezu prophetisch kuratiert – liefen zwei Programme zu Arbeitslosigkeit und Prekarität im Kunstfeld. Anspieltipps: die Nachmittagstalkshow-Investigation LOWER AMBITIONS von Irem Schwarz und die Coaching-Autoethnografie 40H, MAX. 2 MONATE von Stefanie Schroeder.
Ich verdanke blicke einen Großteil meiner eigenen Filmsozialisation. Das Festival hat mir und vielen anderen nicht nur ermöglicht, jedes Jahr einen verlässlichen Querschnitt des aktuellen (Kurz-)Filmemachens im deutschsprachigen Raum zu sehen, mit Programmideen zu spielen, Verbindungen zwischen Filmen nachzuspüren, mit Filmen über bestimmte Themen nachzudenken. blicke hat uns auch gezeigt, wie gut Film als regionales Medium funktioniert. blicke ist – oder war – eines der wenigen Festivals, bei dem das Publikum plötzlich vertraute Orte im Kino sehen konnte, aber natürlich nicht als simples Abbild, sondern immer ein bisschen anders, verschoben, leicht verfremdet wie beim Film über ein leeres Ladenlokal in der Herner Fußgängerzone. Was bleiben wird, sind Momente des unverhofften Wiedererkennens, des Verblüffens darüber, die eigene Lebenswelt auf einer Leinwand zu erleben. In seinen besten Momenten wurde blicke zu einem geradezu utopischen Begegnungsraum. Filmemacher*innen und Publikum konnten sich anhand von Filmen über die unmittelbare Umgebung jenseits des Kinosaals verständigen – darüber, was das Ruhrgebiet nach Jahren der extraktiven Schwerindustrie sein könnte, wohin sich die Welt entwickelt, in der sie gemeinsam leben.
Das alles wird es, so sieht es derzeit jedenfalls aus, 2025 nicht mehr geben.
Coda
2024 habe ich einen schönen Cartoon über den Sinn und Unsinn von Filmfestivals entdeckt. Zu sehen ist ein Bergdorf, kaum mehr als eine Ansammlung von windschiefen Häuschen mit Kirchturm, erreichbar nur über eine kurvenreiche Zufahrtstraße. «What this place needs is a film festival» steht unter der Zeichnung, die erstmals 1984 im New Yorker veröffentlicht wurde – also noch vor dem weltweiten Festivalboom, noch bevor Filmfestivals als touristische Kulturevents konzipiert und vermarktet wurden. Die Pointe des Cartoons ist denkbar einfach: Ein Filmfestival ist so ziemlich das letzte, was dieses verschlafene Örtchen gebrauchen kann. Aber was, wenn doch?
Hollywood 0, Silicon Valley 1: Wohl keine Kandidatin und kein Kandidat in der Geschichte der amerikanischen Präsidentschaftswahlen konnte mehr prominente Unterstützer:innen aus der Unterhaltungsindustrie hinter sich versammeln als Kamala Harris. Von den täglichen Unterstützungsbotschaften von zwei der drei Late Night Talk Show Hosts im Network TV waren – Jimmy Kimmel und Stephen Colbert –, über die Voice-over-Einsätze in Werbespots von George Clooney oder Julia Roberts, bis hin zu den Unterstützungsbotschaften von Bruce Springsteen, der musikalischen Inkarnation der Werte einer noch um Gleichberechtigung ringenden amerikanischen Arbeiterklasse, von Beyoncé, Eminem und anderen Rappern. Gewonnen haben das Geld und die Technik von Silicon Valley. Es ist so, als hätten viele amerikanische Wähler:innen verinnerlicht, was der britische Komiker Ricky Gervais vor einigen Jahren als Host der Golden Globes einmal sagte und damit in rechten Kreisen in den sozialen Netzwerken für Begeisterung sorgte: Wenn ihr einen Preis gewinnt, nehmt in an, bedankt Euch, und kommt bloß nicht auf die Idee, noch etwas zur Weltlage zu sagen; das interessiert nämlich keinen. Wenn aber der Sohn eines Minenbesitzers im Südafrika der Apartheid-Zeit und Besitzer einer Micro-Blogging-Plattform in einer deutschen Tageszeitung eine Wahlempfehlung für die AfD abgibt, gilt das denselben Kreisen als Triumph der freien Meinungsäußerung. Gervais, der das Anti-Woke mittlerweile zum zentralen Teil seines Geschäftsmodells gemacht hat, ist im Silicon Valley gut angekommen.
Hollywood 0, Podcasts 1: Eine der wichtigsten, wenn auch noch nicht hinreichend erforschten Verschiebungen in der Filmwirtschaft und Filmkultur der letzten 25 Jahren betrifft die Zusammensetzung und das Verhalten des Publikums für jene Filme, die das ökonomische Rückgrat der Hollywood-Filmindustrie bilden, die Blockbuster-Filme, die zunächst im Kino weltweit auf zehntausenden von Leinwänden gezeigt werden und danach den Gang durch Wertschöpfungsketten antreten, die auf unbefristete Dauer und unbegrenzte Ausdehnung angelegt sind. Bis zu Beginn der 2000er Jahre gingen die Marketing-Abteilungen der Hollywood-Studios davon aus, dass 75% des Kinopublikums unter 30 Jahren alt sind, dass die Menschen in der Regel in heterosexuellen Paarkonstellationen ins Kino gehen und dass die Männer die Kaufentscheidung fällen, gerechtfertigt durch Sekundärargumente, die sich an die Frauen richten und über Trailer und andere Werbemittel kommuniziert werde. Mittlerweile geht die Industrie davon aus, dass junge Frauen ihre eigenen Entscheidungen treffen. Das schlägt sich auch in den Filmen nieder, besonders in der Entwicklung der Figurenkonstellationen und Figurenprofilen der diversen «Universen» von Star Wars bis Marvel, die seit nunmehr bald zwanzig Jahren die Haupteinnahmequelle Hollywoods im Kino sind. Zu dem Wandel gehört aber auch, dass junge Männer, die mit dem Wandel und den neuen Protagonistinnen in ihren präferierten fiktionalen Welten nicht mehr zurechtkommen, sich vom Kino ab- und anderen Formaten zuwenden. Die größte Migration geht hin zu Podcasts und solchen Figuren wie Joe Rogan, die zwei große Vorteile haben, einen fürs Zielpublikum und eine für die Medienindustrie: Sie lassen sich im Unterschied zu Filmen im Fitnessstudio in allen Körperlagen konsumieren, und ihre Produktionskosten tendieren, wenn die Aufnahmegeräte einmal installiert sind, gegen null. Das Phänomen hat eine globale Reichweite. In Deutschland gehen Podcaster bekanntlich mittlerweile auf Tour und füllen Stadien, während der Bundestag der schönen Leiche deutsche Filmindustrie mit einem neuen Filmfördergesetzt neues Leben einzuhauchen versucht. Es bedarf kaum noch der Erwähnung, dass Podcasts, mittlerweile den Hollywood-Celebrities auch den Rang abgelaufen, was politischen Einfluss angeht. Gegen Joe Rogan, der Finanz- und Fitnesstips mit Dialogen mit Vertretern rassistischer Theorien verbindet, kam selbst Bruce Springsteen nicht an.
Das Comeback von Jiminy Glick: Vor etwas mehr als fünfundzwanzig Jahren erfand der kanadische Komiker Martin Short die Figur des Celebrity-Interviewers Jiminy Glick: Übergewichtig, uninformiert, übergriffig im Umgang mit seinen Interviewpartnern, erkennbar an seiner übergroßen Hornbrille und seiner Redeweise, die in charakteristischer Weise schrille hohe Stimmlagen mit tiefen Grummeltönen verbindet. Short erklärt die Erfindung der Figur aus seiner Faszination für «morons with power», Dummköpfe in Machtpositionen. Glick hatte einige Jahre eine eigene Show auf Comedy Central, Primetime Glick. Legendär unter anderem das Interview mit Mel Brooks. «What’s your big beef with the Nazis?» (Was hast Du eigentlich immer gegen die Nazis), fragt Glick; «They are rude», antwortet Brooks, nachdem er sich gefasst hat. In meinen Jahren als Filmjournalist in den 1990er Jahren habe ich Jiminy Glick mehrfach persönlich getroffen, wenn auch in der Gestalt von Figuren wie der des Filmkritikers und Celebrity-Interviewers der Wiener Kronen Zeitung. In einem Gruppeninterview mit Wolfgang Petersen zu einem seiner Hollywood-Filme fragte dieser, wie der Regisseur seine Karriereentwicklung seit Wir Kinder vom Bahnhof Zoo einschätze, einem Film, bei dem Uli Edel Regie führte. Die Kronen Zeitung hatte damals eine Auflage von einer Million Exemplaren; Petersen blieb höflich. Aus Anlass eines «guest hosting»-Gig für die Jimmy Kimmel Show in den Sommermonaten ließ Martin Short Jiminy Glick wieder auftreten. Besonders memorabel: Ein Interview mit dem Komiker Bill Hader. Hader bemüht sich seine Rolle als Celebrity-Gast zu erfüllen, bricht aber angesichts der Einfälle und der Darbietung von Short immer wieder in unkontrolliertes Lachen aus. Viereinhalb Minuten, die auf Youtube zu finden sind und für das Nachdenken über Komik und Macht in die Kategorie dessen fallen, was Hubert Damisch einmal so schön «theoretisches Objekt» genannt hat. Besonders in einer Epoche, in der «morons with power» mit Verbindungen zur Celebrity-Culture die politische Realität bestimmen, erscheint ein solches Nachdenken unausweichlich.
Die Reaktionen auf einen Vortrag von Stefan Gosepath über das Verhältnis von Politik und Moral im Sinne Kants in der Mainzer Akademie ließ bei mir die Einsicht reifen, dass die Bücher, die man heute lesen muss, um Deutschland zu verstehen, nicht die drei Kritiken sind, sondern Fichtes Reden an die Deutsche Nation und Der geschlossene Handelsstaat. Fichte, nicht Kant, ist der maßgebliche organische Intellektuelle im neuesten Deutschland.
Archival Assembly 3, Silent Green: Ein Festival mit Symposium, eine Woche Debatten, Laboratorien, Klanginstallationen und Filmvorführungen im Silent Green, Sinema Transtopia und Arsenal zum Thema Resounding Archives. Hier erwähnt seien nur: Die Präsentationen von The Ghost of Mae Nak, einem 16mm-Stummfilm von 1959 aus dem thailändischen Filmarchiv mit Live-Kommentar inklusive sämtlicher Dialoge von Dokkhamta, und von Edward Zwicks Blood Diamond mit Djimon Hounsou und Leonardo DiCaprio mit Live-Kommentar von VJ Junior, dem Superstar unter den ugandischen Filmerklärern. VJ Diamond hatte den Film ausgesucht. Sein Kommentar hatte drei Schichten: Filmerklärung im Modus der freien indirekten Rede; Analyse und kritisch-spöttische Kommentierung des Afrikabildes, das der Film transportiert; und eine vergleichende Analyse von Blood Diamond und Titanic, die schrittweise herausarbeitete, dass es sich im Wesentlichen um denselben Film handelt. Filmwissenschaftliche Vorträge werden ich in Zukunft an diesem Modell messen.
Die Veranstaltungsreihen Ein Auge für die Welt im Filmmuseum Frankfurt und India as method an der Goethe Universität, beide kuratiert mit Ritika Kaushik: Spezialist:innen erklären die Filme von Sayajit Ray und führen am nächsten Morgen in ihre aktuelle Forschung ein. Ein mehrmonatiges Fest von Kritik, Theorie und historischer Reflexion, getragen von der Annahme, dass, wer über Kino, Medien und Politik in Indien nichts weiß, für das, was uns in den nächsten Jahren ins Haus steht, nicht gerüstet ist. Die Vorträge zu Ray sind hier zu finden ; die Beiträge zu India as method erscheinen demnächst bei meson press.
Zwei Vorführungen von Confusion Na Wa in Berlin und Frankfurt: Kenneth Gyangs Langspielfilm-Debut Confusion Na Wa von 2013 ist ein Vielpersonen-Stück, inspiriert nicht zuletzt von Pulp Fiction, aber angesiedelt in der nordnigerianischen Großstadt Kaduna, mit Ali Nuhu, dem Superstar des Hausa-Kinos in einer Hauptrolle. Ermöglicht durch ein Anschubfinanzierung des Hubert-Bals-Fonds und durch die Mitarbeit von Ali Nuhu, wurde der Film zunächst mit Irritation aufgenommen, unter anderem, weil die Verkettung von Zufällen in der Story des Film am Ende keine moralische Lektion zulässt, ein Bruch mit einer zentralen Konventionen des Nollywood-Kino. Mittlerweile gilt der Film als Referenzwerk des neueren nigerianischen Kinos. Als Teil einer DAAD-Tagung im Oktober in Berlin und als Teil der laufenden Lecture & Film-Reihe Black Atlantic Cinema Ende November in Frankfurt kam der Film nun erstmals im Kino in Deutschland zur Aufführung, jeweils in Anwesenheit der Schauspielerin und Drehbuchautorin Tunde Aladese und in Berlin auch von Ali Nuhu. Die Qualität der Darsteller:innen und der Kameraarbeit von Yinka Edwards, dem stilprägenden Kameramann des neueren nigerianischen Kinos, zeigten, dass der Film auf die große Leinwand gehört und nicht nur auf digitale Bildschirme. Für die meisten im Kino war es überdies der erste nigerianischen Film, den sie überhaupt zu sehen bekamen. Die Weltkarte des Kinos verändert sich weiter.
Camp de Thiaroye von Ousmane Sembene und Thierno Faty Sow. Im zweiten Weltkrieg geriet eine größere Gruppe von «tirarailleurs sénégalais», von Infanteristen aus Senegal in der französischen Armee in Kriegsgefangenschaft. Nach Freilassung und Rückkehr wurden sie von den Franzosen in einem Lager bei Dakar festgehalten und sollten um ihren Sold betrogen werden. Es kam zu einem Aufstand, der in einem Massaker endete, das die Franzosen nachts an den Veteranen ihrer Armee verübten. Es hat bis Ende November 2024 gedauert, bis endlich ein französischer Präsident das Massaker zugab und die Verantwortung dafür übernahm. Bereits 1988 hatten Ousmane Sembene und Thierno Faty Sow das Masskaker zum Gegenstand eines historischen Dramas gemacht. Von französischen Leinwänden weitgehend ferngehalten, wurde der Film nun mit Mitteln der World Cinema Foundation von Aboubakar Sanogo und der Scorsese Foundation restauriert und in Bologna und in Cannes wieder aufgeführt. Bald auch wieder auf DVD/bluray greifbar.
Nan Goldin. Nicht bereit, die Ausstellung in der Berliner Nationalgalerie ihrerseits abzusagen und too big to cancel.
Ein Wochenende, zwei Ausstellungen, eine in Zürich, eine in Bern. Das Rietbergmuseum in Zürich verfügt über eine bedeutende Sammlung außereuropäischer Kunst, darunter ein großer Bestand von Benin-Bronzen, die bei der blutrünstigen Schleiffung des Königspalasts von Benin im heutigen Nigeria 1897 von britischen Brandschatzern eingesackt und später in London auf den Kunstmarkt geworfen wurden wurden. Einiges blieb in Großbritannien, vieles landete in Berlin, einiges in Zürich. Eine Maske aus dem Beutebestand des britischen Museum zierte etwa das Plakat für FESTAC 77, den bislang größten Kulturanlass auf dem afrikanischen Kontinent, der von Mitte Januar bis Mitte Febraur 1977 in Lagos und Kaduna stattfand. Die wohlfundierte Restitutionsforderung der nigerianischen Regierung unter Präsident Olusegun Obasanjo bliebt ohne Antwort, einer Logik folgend, die Bénédicte Savoy in ihrem Buch über die Geschichte der Restitutionsforderungen von zwei Jahren gerade auch für deutsche Kulturinstitutionen aufgezeigt hat. Das Rietberg-Museum will nun, dem Vorbild der sich mittlerweile ihrer Verantwortung bewusst gewordenen Deutschen folgend, seine Beutestücke an Nigeria zurückgeben und hat dazu eine Ausstellung ausgerichtet, welche die Sammlungs- und Ausstellungsgeschichte der Sammlungsbestände behandelt. Mit einem einzigen Satz erfährt man in der Ausstellung auch, wie das Museum zu den Objekten gekommen ist: Sie entstammen der Sammlung von Eduard von der Heydt, der mit der Schenkung seiner noch viel umfangreicheren Kollektion außereuropäischer Kunst an seine Wahlheimatstadt Zürich überhaupt erst die Grundlage für die Schaffung des Rietberg-Museums gelegt hatte. Menschen aus Nordrhein-Westfalen wird der Name von der Heydt vertraut sein, weil es in Wuppertal ein Museum gleichen Namens mit einer bedeutenden Sammlung von europäischer Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts gibt, darunter bedeutende Impressionisten und Postimpressionisten. Auch hier ist es eine Schenkung von der Heydts, die dem Museum seinen Grundstock verschaffte. Wer sich weiter einliest, erfährt, dass von der Heydt in den 1920er Jahren die treibende Kraft beim Bau eines Hotels im Bauhaus-Stil auf dem Monte Verita oberhalb des Tessiner Fischer- und Künstlerdorfes Ascona war. Zur selben Zeit begann von der Heydt, den Trends der Kunsthauptstadt Paris folgend, afrikanische Kunst zu sammeln, und die damals noch recht avantgardistisch anmutenden, aber im Wert rasch steigenden Impressionisten. Auf der Website des Rietberg-Museums erfährt man, dass es sich bei von der Heydt um einen Mäzen handelte, der aus Deutschland kam, aber Schweizer Staatsbürger wurde, und dessen Leben von biographischen Brüchen geprägt sei. Nicht verraten wird, um welche Brüche es sich dabei handelt. Von der Heydt war ein Bankier, der den Nationalsozialisten nahestand. 1933 trat er in die Partei ein; 1937, nach der Annahme der Schweizerischen Staatsbürgerschaft, trat er wieder aus, schloss sich aber umgehend einer «Vereinigung schweizerischer Bürger nationalsozialistischer Weltanschauung» an. Es steht ja nun außer Frage, dass von der Heydts Kunstvorlieben dem Entarteten galten und nationalsozialistischer Weltanschauung nicht bruchlos kompatibel waren. Gleichwohl würde man von einer Ausstellung, die sich so ostentativ dem Prinzip der intellektuellen Redlichkeit verschreibt, doch erwarten dürfen, dass sie die Mitgliedschaft des Mäzens in einer Partei zur Debatte stellt, deren Führer sich unter anderem dadurch historisch auszeichnete, dass er, wie Simone Weil wohl als erste festhielt und wie es Aimé Césaire im Discours sur le colonialisme wiederholte und nach ihm weiter Intellektuelle wie Mahmoud Mamdani, den Kolonialismus und seine Methoden nach Mittel- und Osteuropa brachte. Aber man will ja nicht «rude» sein zu den Nazis, auch wenn der Preis dafür eine Prise Zone of Interest ist.
Am nächsten Tag dann Bern, das Klee-Museum, eine Ausstellung über brasilianische Moderne. Bei jeder Gelegenheit verweist die Ausstellung auf Schweiz-Bezüge. So wird etwa hervorgehoben, dass es Blaise Cendrars aus La Chaux-de-Fonds war, der Oswald de Andrade zum anthropophagischen Manifest und zum Manifest zum brasilianischen Holz angestiftet habe, zwei Texten, die seit den 1920er Jahren in allen künstlerischen und intellektuellen Bewegungen in Brasilien bis hin zu aktuellen Arbeiten indigener Künstler Referenzpunkte darstellen. Man erfährt auch, dass Max Bill den großen Preis der ersten Kunstbiennale von Sao Paulo gewann und brasilianisches Design prägte. In der Ausstellung gibt es auch eine Auslage mit Erstausgaben der Romane von Clarice Lispector. Was man nicht erfährt: Dass Lispector als Gattin eines brasilianischen Diplomaten Ende der 1940er Jahre in Bern lebte und die Stadt bald leidenschaftlich hasste. In einem Text mit dem Titel Berne aus den frühen 1960er Jahren schreibt Lispector von der perfekten Schönheit der Schweizer Landschaft, die bald verstörend wirke. Die Schweizer, so Lispector, haben den Teufel über die Alpen verjagt und sind seither nur noch in schmerzhafter Anstrengung damit beschäftigt Oberflächen zu polieren. Kein Wort darüber in der Berner Ausstellung, die den Teufel so gleich noch einmal über die Alpen verjagt.
Oder, um einen alten Werbeslogan der Genfer Privatbank Pictet zu zitieren: «If you knew more about us we wouldn’t be so famous for our discretion.»
Was Kino nicht ist: Poor Things. Giorgo Lanthimos ist der neue Peter Greenaway. Das ist nicht als Kompliment gemeint.
# Zehn Filme: Colonos von Felipe Gálvez Haberle, The Zone of Interest von Jonathan Glazer, All of us strangers von Andrew Haigh, Auf trockenen Gräsern von Nuri Bilge Ceylan, Le Comte de Monte-cristo von Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière, Megalopolis von Coppola, L’histoire de Suleyman von Boris Lojkine, Miséricorde von Alain Guiraudie, Verbrannte Erde von Thomas Arslan, HORS SAISON von Stéphane Brizé.
# Fünf Serien, die mir 2024 in Erinnerung geblieben sind: Vier Staffeln FAUDA nachgeholt, samt der damit einhergehenden Depression, da die Drehbuch-Fiktion inzwischen auf grausamste Weise von der Realität eingeholt worden war. Die zweite Staffel FEUD: CAPOTE VS. THE SWANS mit dem großartigen Tom Hollander als Truman Capote. SCHWARZE FRÜCHTE, kaum zu glauben, dass das Team um Lamin Leroy Gibba dieses Serienprojekt bei der ARD Degeto durchbekommen hat. RIPLEY in seiner Schwarzweiß-Kathedralik hat mir am besten gefallen. Finde wirklich, dass Andrew Scott ein so extrem guter Schauspieler ist (wie auch schon in ALL OF US STRANGERS). Und nach langem Widerstand dann doch alle wahnsinnig anstrengenden Staffeln THE BEAR geschaut. Bin kein Fan geworden, aber kann die Begeisterung der anderen irgendwie nachvollziehen.
# Zehn Ausstellungen 2024: Gustave Caillebotte, Arte Povera, Jusepe de Ribera, Weegee, Barbara Crane und Chine – une nouvelle génération d’artistes in Paris. Chaim Soutine und Isaac Julien in Düsseldorf. Roni Horn in Köln. Alex Katz in München.
Aber der Tod des Pariser Freundes hat das Jahr dann doch ziemlich verdunkelt.
Ein Grund, weshalb es wieder einmal schwerfällt, diese Jahreslese vorzulegen, ist die nun endgültige und unabänderliche Abwesenheit einer der aktivsten Beitragenden zu dieser Sammlung. Die Stimme von Marie-Luise Angerer fehlt in diesem Chor. Auch wenn sie sich natürlich weiterhin vernehmen lässt (nur eben an einem anderen Ort, in einem anderen Raum als dem eines der Aktualität verpflichteten – wenn auch im Rückblick befangenen – Blogroll wie diesem). Außerhalb der von cargo gestifteten und gepflegten Community sind, wie eigentlich in jedem Jahr, noch andere (mir und vielen anderen) wichtige Stimmen von ihren physischen Körpern getrennt worden. Um nur drei stellvertretend für viele zu nennen: die von Marina Vishmidt und René Pollesch (beide viel zu früh), die von Fredric Jameson (in hohem Alter, doch deshalb nicht weniger schmerzhaft). Darüber hinaus blieben das massenhafte, gleichwohl überaus zählbare Sterben, das Töten und Getötetwerden in diesem Jahr eine alles beherrschende und verschattende Konstante, aus der das öffentliche (und vielfach auch private) Sprechen in gewohnter Weise eine die Opfer instrumentalisierende, objektivierende oder schlicht ignorierende rhetorisch-politische Währung zu machen wusste. Und, nein, der Mitverantwortung für solche Unangemessenheit im Umgang mit der Situation in Kriegsgebieten und allgemein in Welten des Mangels ist die eigene Wut, Empörung, Entgeisterung, Paralyse … nicht enthoben, selbst in dem Bemühen, Kritik an Selbstgerechtigkeit in den Umgang mit diesen Reaktionsmustern einzuarbeiten.
Eine der Konsequenzen, die aus der maximalen Vergröberung und Brutalisierung von allem gezogen werden konnte, bestand darin, sich intensiver mit dem Völkerrecht (oder dem, was von ihm, trotz der aktuellen Konjunktur, noch übrig ist) zu beschäftigen. Eine besonders stimulierende Veranstaltung dazu war ein von Margarita Tsomou kuratiertes Panel im HAU Anfang November. Es galt der Frage, wie das aktuell allgegenwärtige Interesse am Recht mit einer noch umfassenderen «Kultur der Straffreiheit» einhergehen kann, und was es eigentlich heißt, wenn Völkerrecht «à la carte» geordert wird (mit Matthias Goldmann, Kristina Hatas, Nahed Samour, Andreas Schüller und Armaghan Naghipour; dazu der Podcast On Justice). Eine andere Möglichkeit lag darin, sich dem (verwandten) Zusammenhang von Religion und Recht zu widmen. Dazu bot (und bietet) der Musiker und Philosoph (oder andersherum) Mohamed Amer Meziane (und dessen fulminantes Des empires sous la terre, 2021 auf Französisch und 2024 in englischer Übersetzung erschienen; ein Auszug aus einer offenbar monumentalen Dissertation zu Hegel, aus der ein weiterer 2023 veröffentlicht wurde: Au bord des mondes. Vers une anthropologie métaphysique) reichlich Anlass. Meziane schreibt (und spricht, in diversen online zu findenden Gesprächen) thesenreich und Widerspruch provozierend über den Zusammenhang von Säkularisierung, imperialité und Extraktivismus im Kolonialismus des 19. Jahrhunderts. Mit ihm lässt sich verstehen, wie «Religion» nie das ist, was «wir» darunter zu verstehen glauben, und dass die sogenannte «Säkularisierung» im Gefolge der Aufklärung alles Religiöse tendenziell den kolonisierten Bevölkerungen zuwies, die wiederum nicht dazu in der Lage scheinen, Religion von Politik zu trennen (denn das können nur «wir»). So geht das (die Rassialisierung des Islam usw.) bis heute. Und es bleibt dies nicht der einzige, historische wie gegenwartsnahe Gedanke in Mezianes vor Ideen strotzenden Texten. Denn er erkennt in der Abschüttelung der alten «Religion» durch den Westen auch eine para-religiöse Neu-Aufladung der (nunmehr gottgleichen) Herrschaft der kolonialen Imperien über die Erde und deren unterirdische Inhalte (denn das mit den Himmelsmächten hatte man – bis zum Einsetzen der Raumfahrt – aufgegeben). 2004 mutierte die imperialité, die Meziane analysiert, dann bekanntlich erneut – im Zuge einer grotesk-konkreten translatio imperii auf die «Mump Oligarchy» (Timothy Snyder).
Besorgnis ist angebracht. Zuversicht, Erhellung oder kunstvolle Verdunkelung dagegen stifteten (in sehr loser Folge): Medardo Rosso (mumok, Wien), Karl Polanyi (The Great Transformation), Lisa Robertson (The Baudelaire Fractal), Aber hier leben? Nein danke! Surrealismus + Antifaschismus (Lenbach Haus, München), Katasumbika (Petna Ndaliko Katondolo), Gustav Metzger (MMK, Frankfurt), Anne Weber (Ahnen, Bannmeilen), Elfriede Lohse-Wächtler (Barlach Haus, Hamburg), Oraib Toukan und Marwa Arsanios (Arsenal, Berlin), LRB Podcasts zu Gaza, Israel, Libanon (mit Mohamad Bazzi, Yezid Sayigh, Mairav Zonszein und Amjad Iraqi, Ghassan Abu-Sittah, Muhammad Shehada und Adam Shatz), Nilüfer Yanya (My Method Actor), «Kultur wozu?» (Streitraum, Schaubühne, mit Carolin Emcke, Joe Chialo, Menekse Wenzler, Jens Hillje), Lena Vandrey (Carré d’art, Nîmes), Ripley (Steven Zaillian, Netflix), The Cure (Songs of a Lost World), TJ Clark über Frantz Fanon (LRB), 070 Shake (Petrichor), Luise Meier (Hyphen), Gillian Rose (alles), Jurij Lotman (alles), Larissa Reissner (alles) …
Zurückblickend stelle ich mir bevorzugt vor, das Jahr sybaritisch verbracht zu haben. Ich lese Ponge, der versucht, nichts Bedeutsames zu sagen: «Wir haben erneut April (oder Oktober) zu sagen», schreibt er. Ich sage also April und habe nur mehr undeutliche Erinnerungen:
Der Kauf eines Astrolabiums am 12. April, ich kann nun in den Sternen lesen, aber finde auch dort nichts Bedeutsames, nur fernes Licht.
Am 07. April beginne ich mit einigen Aufzeichnungen zu Epiphyten, die ich gleich wieder verwerfe aus Mangel an Wissen.
Am 08. April fasse ich den Entschluss, nicht mehr nachzudenken, nie mehr nachzudenken. Stattdessen möchte ich Kawabata lesen, ich glaube einen wirklichen Grund dafür gibt es nicht, vielleicht diesen: Ich liebe dieses Bild, auf dem er eine Skulptur Rodins studiert. Ich sage mir: So möchte ich leben, so wie dieser Kawabata die Skulptur betrachtet.
Am 22. April beobachte ich eine Katze, die sich nicht traut, auf eine Mauer zu springen.
Am 02. April gefällt mir diese Idee aus Woolfs Orlando: Man verliebt sich und wird augenblicklich, in der Sekunde des Verliebens erwachsen.
Am 07. April betrete ich ein Hotel. An der Rezeption sind zwei Hunde, aber kein Mensch.
Am 12. April empfinde ich Ekel über die Menschen, die auf ihr Handy starren. Ich empfinde den Ekel, während ich selbst auf mein Handy starre.
Ebenfalls am 12. April sagt mir ein Freund, dass sich ein guter Film immer von etwas verabschiede.
Am 20. April stoße ich auf folgende Unterscheidung bei Tranströmer: Fußnotenmenschen und Titelmenschen.
Am 24. April meistere ich meine stimmliche Imitation eines Alphorns.
Ich höre einen Mann auf der Straße rufen: «Du bist wohl manoli!», ich glaube das war noch im April.
Filme haben mir wenig gegeben im vergangenen Jahr, aber ich erinnere eine Szene, in der einige Menschen nach einem Spaziergang im Garten schlafen, das sieht man im neuen Film von Pierre Creton und Vincent Barré. Und etwas aus einem anderen Film, das ich vergessen hatte: In Sternbergs Blonde Venus wird Ehemann Herbert Marshall zu einem Arzt nach Deutschland geschickt, der Holzapfel heißt. Ich zucke zusammen, als im Kino mein Name fällt, vielleicht ist es das, was die französischen Cinephilen meinten, als sie sagten, ein Film würde auf einen zurückblicken? Gelesen habe ich so manches, beispielsweise Austrocknen von Janko Polić Kamov, ziemlich famos übersetzt von Brigitte Döbert und im Guggolz Verlag erschienen. Das war es auch schon, es war ein Jahr wie viele andere gemessen an der Anzahl an Tagen.
Aus dem Gedächtnis
Musik
Die beiden Wild Beasts-Sänger mit zwei schönen Soloalben: Ness von Hayden Thorpe und Endless Rain von One True Pairing.
Mk.Gee und Dijon, die nicht nur tolle Platten rausgebracht, sondern auch noch bei YouTube sehr andere Liveversionen veröffentlicht haben. Virtuos, aber immer songdienlich, Mk.Gee erinnert dabei im besten Sinne an Blake Mills.
Arooj Aftab klingt immer mehr nach Sade, was als Kompliment gemeint ist.
Dass The Cure überhaupt noch einmal ein Album rausbringen würden, war ja nicht unbedingt abzusehen. Dass sie dann aber so ein schönes, trauriges Album, wie aus einem Guss rausbringen, war eine große Freude. Smiths Stimme unverändert.
Bill Laurance Bloom, orchestrale Freude.
Alan Sparhawks Trauerbewältigung White Roses, My God fordert raus, berührt, verwundert.
Floating Points hat mit Cascade die bessere Underworld Platte rausgebracht als Underworld selbst, wobei Strawberry Hotel auch tolle Momente hat.
Bücher
Wellness von Nathan Hill hat viele Chicagoerinnerungen bei mir hochgebracht. Das Buch ist aber auch mindestens so gut wie The Nix. Allein das Kapitel, in dem er erzählt, wie sich ein Rentner durch Googles und Facebooks Algorithmen langsam radikalisiert, ist dermaßen klug und lustig und sollte von möglichst vielen Menschen gelesen werden.
Lou Berneys Double Barrel Bluff führt endlich die Shake Bouchon Serie weiter, reicht aber nicht ganz an die davor ran. Immer noch ein großer Spaß.
Colson Whiteheads Crook Manifesto hingegen übertrumpft den Vorgänger Harlem Shuffle.
Heat 2 von Michael Mann und Meg Gardiner als Audiobuch – Peter Giles liefert nicht nur eine hervorragende Al Pacino Imitation ab, er liest alles großartig. Vorfreude auf den Film, der Roman unterhält wunderbar.
Pnin von Nabokov wiedergelesen, noch berührter gewesen, neben Pale Fire mein liebster Nabokov.
Große Wiedersehensfreude auch bei Dashiell Hammetts Red Harvest.
Fernsehen
Wenig gesehen. Ripley gefiel mit Stilwillen und vielen guten SchauspielerInnen, wahrscheinlich die Verfilmung, die dem Original am nächsten kommt.
Fallout abgebrochen, nicht reingekommen, obwohl ich die Spiele mochte. Gut gedreht alles, aber es schleppt sich so dahin, wie bei so vielen Serien. So wenig wird auf den Punkt erzählt, vieles plätschert, wiederholt sich.
Frankfurt sah bei Die Zweiflers toll aus.
Filme
Strange Darling und Smile 2 sehr schöne Horrorfilme, die mal wieder zeigen, wieviel noch in dem Genre möglich ist. Longlegs dagegen enttäuschend, die Vergleiche mit Schweigen der Lämmer wirklich lachhaft.
Challengers wahrscheinlich der größte Spaß, den ich im Kino hatte dieses Jahr. SchauspielerInnen alle toll, Soundtrack drängt sich auf beste Art nach vorne, tolle Inszenierung. Alleine der nächtliche Sturm, das muss man sich erstmal trauen.
Conclave auch unterhaltsam, hatte nach Im Westen nichts Neues nicht so viel erwartet, war dann überrascht, wieviel Stil der Film auch hat, und alle spielen mit großer, ansteckender Freude.
Bikeriders von Jeff Nichols, auf den ich mich gefreut hatte, war dann leider eine Enttäuschung, zog sich sehr langsam dahin.
Bester Film auf der Berlinale: Chime von Kiyoshi Kurosawa, 40 Minuten, meisterhaft inszeniert.
Furiosa gesehen, der Film davor aber mehr in Erinnerung.
Kinds of Kindness nach dem schrecklichen Poor Things wieder unterhaltsam, sehr lustig auch.
Ferrari – dass der Film nur bei Amazon zu sehen war, ist ein wahres Verbrechen. Wie gut Mann unterhalten kann, was Penelope Cruz mit dieser undankbaren Figur macht, kaum zu glauben.
Theater
Nur einmal gewesen. Liliom am Burgtheater, mit einer großartigen Stefanie Reinsperger. Sehr schöner Abend, ich sollte öfter ins Theater.
Anfang Februar Kali Malone und Stephen O’Malley an der Orgel der Berliner Gedächtniskirche, kraftvoll und verstörend # Der Fuchs, der an der Museumswarteschlange vor dem Hamburger Bahnhof vorbeilief # Vom Halten und Drücken warmer Hände # Anri Sala, The Long Sorrow (2005); der Free-Jazz Saxophonist Jemeel Moondoc (1945-2021) steht und spielt an der Fassade eines Hochhauses in der «Langer Jammer» genannten Siedlung in Berlin Reinickendorf, im 18. Stockwerk; Anschnitte von Schmerz, Fremdheit und Kraft # Bereits vor Covid unterrichtete man in Berkeley mitunter online über Zoom, wegen der Waldbrandluft # mars kumari, Chuquimamani-Condori und Actress in San Francisco; Sound-Ziselierung in der tech-bro-induzierten Verödung und Verelendung der US-Westküste # People happen # Thomas Metzingers Der Elefant und die Blinden: Auf dem Weg zu einer Kultur der Bewusstheit # Im völlig abgedunkelten Saal in Krems (Feuerwehr not amused) brachten Autechre viele, viele Körper in mitvibrierende Begeisterung, die dann noch in tanzbar aufgeheizte Soundströme der französisch-ghanaischen DJ PÖ (Pauline Bedarida) sprangen # Es gibt tiefsitzenden Enthusiasmus # Neue Freundschaften # W.W. Young, Alice in Wonderland (1915), live vertont von Philipp Quehenberger in den Breitenseer Lichtspielen # The Necks in der Kremser Minoritenkirche # Die diesjährige Notaufnahme # Kali Malone und Stephen O’Malley an der Orgel des Doms in St. Pölten, verhalten # In Prag (Workshop) im Museum Danica Dakić, Isola Bella (2007-2008), Videoarbeit mit langjährigen Bewohner*innen des Heims Pazarić (bei Sarajewo), 1947 für Waisen und geistig-körperlich behinderte Kinder gegründet; Inszenierungen ihrer selbst erzählten Geschichten, viktorianische Masken auf den Gesichtern, die so erstaunlich nahtlos zu den Menschen gehören, die sie tragen # die Bekanntschaft mit Sensorien erweitern # Bildwandlergestützte Infiltrationen # In den Hamburger (Workshop) Deichtorhallen Charles Stankievechs Eye of Silence (2022), in Zeitlupe gefilmte und vertikal gespiegelte Vulkan- und Höhlenlandschaften, Meteoritenkrater, in Namibia, Island, Japan, Utah und Alberta, gleich daneben Abbas Akhavan curtain call, variations on a folly (2021), auf Greenscreen platziert ein Strohlehm-Nachbau von 19 Kolonnaden, die zum Triumphbogen von Palmyra führten (2015 zerstört vom IS, mithilfe eines 3D-Modells vom British and American Institute for Digital Archaeology nachgebaut und zeitweilig am Trafalgar Square in London geparkt) # So viel Freude # Unter Messern # Die Erste Hochquellenleitung, 1873 eröffnet, fördert heute 220 Millionen Liter täglich nach Wien und ist eine reine Gravitationsleitung # Die Luft im September in Beijing, gell, fantastisch jetzt # Das Entziffern alter Handschriften, der Versuch, ihre Spuren in der Geschichte und deren Ausbleiben zu erkennen # Die großartige Werkschau des Fotografen Mo Yi im UCCA Center of Contemporary Art in Beijing, der sich über Jahrzehnte hinweg als Autodidakt im urbanen China und in Tibet an den Repräsentationsformen und Arbeitsweisen der Dokumentarfotografie abarbeitet # Ratlosigkeit # Die Bassspur der administrativen Steuerung und Begleitung eines Forschungsverbundes, mitunter bis ins Unterträgliche falsch gemischt # Die Flöte der Sara Zlanabitnig # Martina Hefters Hey, guten Morgen, wie geht es Dir?; das Ungeheuerlich-Unspektakuläre lange währender und schwerer Erkrankung # Vor der US-Wahl im Museum in Kopenhaen Wahlspots der vergangenen Jahrzehnte; das Wort «peace», sehr prominent über die Jahrzehnte, verschwand in den 1990er Jahren und ist bis heute verschwunden geblieben # Boris Mikhailov betrachtet man heute auch anders als in den frühen 2000er Jahren # Eine Lesung von und mit Hanna Engelmeier in Wien # Anne Weber, Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen; Gänge durch Paris jenseits des Périphérique, Protokoll einer Freundschaft # Enno Poppe, Streik für zehn Drumsets, Abschlusskonzert, Wien Modern # Das Tanzen an und mit imaginären Körpern # Der ukrainische Gastwissenschaftler konnte zwei Jahre nach erfolgter Einladung für einige Wochen nach Wien reisen # Radian in den Westbahnstudios, und das auch noch gratis # Das Tangentiale und das Periphere # Kraftlosigkeit ist das Letzte, was wir uns jetzt leisten möchten
Die Zeit trägt Rollschuhe. Und dennoch bleibt, sofern man Listen macht, eine Art Fülle. Aus der wird dann manchmal immerhin die Illusion von Beständigkeit.
Frische Entdeckungen, wiedergesehene Lieblingsfilme, und verspätet erst so recht Verstandenes:
BLONDE VENUS (1932 Josef von Sternberg) * | MERLUSSE (1935 Marcel Pagnol) * | MRS. MINIVER (1942 William Wyler) | SAN DIEGO, I LOVE YOU (1944 Reginald Le Borg) | ORIENT EXPRESS (1944 Victor Tourjansky) | THE RED HOUSE (1947 Delmer Daves) | D.O.A. (1949 Rudolph Maté)
NAVAJO (1952 Norman Foster) | NIAGARA (1953 Henry Hathaway) * | JEOPARDY (1953 John Sturges) | DORF UNTERM HIMMEL (1953 Richard Häußler) | RUMMELPLATZ DER LIEBE (1954 Kurt Neumann) * | BAD DAY AT BLACK ROCK (1955 John Sturges) | THE DALTON GIRLS (1957 Reginald Le Borg)
THE INTRUDER (1962 Roger Corman) | ERIC HOFFER: THE NATURE OF MAN (1963 Winifred Murphy) | WUNDERLAND DER LIEBE (1970 Dieter Geissler) * | LA RUPTURE (1970 Claude Chabrol) | PAT GARRET AND BILLY THE KID (1973 Sam Peckinpah) * | DEFEKT (1977 Lajos Fazekas) * | THE BUDDY HOLLY STORY (1978 Steve Rash)
BLOW OUT (1982 Brian de Palma) * | NATIONAL LAMPOON'S VACATION (1983 Harold Ramis) | VIRGINIA (1990 François About) * | TRAVOLTA ET MOI (1993 Patricia Mazuy) | FLATSCH (2000 Thomas Oberlies) * | IM NAMEN DES KÖNIGS (2015 Bruno Sukrow) * | BARB AND STAR GO TO VISTA DEL MAR (Josh Greenbaum, 2021)
MERKUR (2023 Johannes Lehnen) * | COUP DE CHANCE (2023 Woody Allen) * | LOHUSA (2023 Kıvanç Baruönü) *| WILL & HARPER (2024 Josh Greenbaum) | HENRY FONDA FOR PRESIDENT (2024 Alexander Horvath) * | THE DOCUMENTARY JOURNEY OF MADAME ANITA CONTI (2024 Louise Hémon) * | HERE (2024 Robert Zemeckis) *
* in Kinos, in Nürnberg, Gelsenkirchen-Buer, Mannheim, Oberhausen, Karlsruhe, Bologna, München, Brüssel und Köln
Albanien, ein Land, das mir immer ein wenig erfunden vorkam, ist wirklich real und doch Übertreibung. Tirana, die Hauptstadt, ist vertikal und verwegen wie ein zweites Amerika. Mit Hochhäusern, wie es sie gibt in lustigen Träumen. Das Land ist surrealistisch, quasi belgisch, also schön. In einem kunterbunten Kreisverkehr steht Woodrow Wilson in Bronze. Doch im größten Badeort, in Durrës, schwappt Meereswasser schwarz wie Tinte an den Strand. Irgendwas ging schief. Tausend schöne Ausblicke hat hingegen das Städtchen Berat. Dort ragt aus wilder Landschaft ein altes Hotel mit mächtigem weißem Kuppeldach. Das sieht aus, als hätten Siedler die Legislative samt Capitol mit hinaus genommen in die Prärie.
Es ist zwar traurig, dass Kleinbusse ein Bahnnetz ersetzen müssen, aber: Pakete, die jemand - unerlaubt - dem Fahrer mit auf den Weg gibt, werden vom Adressaten, einsam und allein im Nirgendwo am Feldrand stehend, routinemäßig erwartet. Zuverlässige Postkutschen! Vor passender Landschaft. Ein stolzer Albaner, der auf dem Rückflug neben mir am Notausgang saß, meinte, das tintenschwarze Meer bei Durrës werde bald, mit Algen gereinigt, vollkommen sauber sein. Und Durrës wird vollständig neu gebaut - von den Architekten Dubais. Auch das sagte mir der gutgelaunte Handwerker auf dem Weg zu seiner Arbeit in Deutschland.
Musik
They Might Be Giants: The Elements (2009) | Bobby Solo: Una Lacrima sul viso (1964) | The Lemon Twigs: My Golden Years (2023) | Dan Reeder: Feather (2022) | Adrianne Lenker: Sadness as a gift (2024) | Manfred Krug: Wenn du schläfst, mein Kind (1964) | Dion: My Love (1965) | Devo: It Takes a Worried Man (1979) | Dan Reeder: 52 Years Ago (2024) | The Who: You Are Forgiven (1968 in THE ROLLING STONES ROCK AND ROLL CIRCUS)
«I used to think I was like smart. I wish I still had that part of me.» (Shane Gillis)
Einer, der es mit eigenen Ohren gehört hat, versichert, dass die Wölfe in der Nähe des Grundstücks nicht heulen, es ist eher ein trockenes Bellen. Das war in diesem Sommer auf einem Dorf in Masuren. Da habe ich auch die missratensten Spaghetti meines Lebens gekocht. Brettspiele im Garten. Gesprengt noch monströs die Wolfsschanzen-Bunker. Auschwitz.
Totemtier Eule, die Diskrepanz zwischen Gamification-Firlefanz von Duolingo und dem irren Reichtum der Sprachen der Welt: auch schon wieder angemessen.
Ist das nun einleuchtend, oder gerade nicht: Dass Robert Zemeckis Here von Richard McGuire quasi eins zu eins aus dem statischen gezeichneten Comic in bewegte Bilder überträgt? Befreiung zur Bewegung, ja, aber auch Fesselung des Blicks, wie im Theater (bevor dort die Live-Kameras Einzug hielten). Am Ende in seinem Experimental-Populismus wirklich bewegend. Reine Freude: Challengers, ein Film, der aus voller Überzeugung ständig nur Quatsch macht. Was auch bleibt: nicht unbedingt die herzergreifend sinnlose Podiumsdiskussion, die ich moderiert habe, aber doch, irgendwie, das mittellange Abendessen danach mit Helke Sander in einer drittklassigen Tapas-Bar in der Langen Reihe in Hamburg.
Ja nichts ist okay haben wir noch vor René Polleschs Tod gesehen. Man hatte sich so an die ein, zwei, drei Polleschs im Jahr gewöhnt, mit mehr Murren als Begeisterung in den letzten Jahren, und dann merkt man hinterher erst, wie sehr sie zum eigenen Leben gehörten.
Ein Gedicht – Seite 20 – zwei Tage im Dezember – ein Buch
AROUND THE CLOCK
Federico / die Frühstückskerze
Los laberintos / que crea el tiempo
Se desvanecen / verschwinden
Die Zeitlabyrinthe / lösen sich auf
Nans schwarze Kaaba / ihr schwarzes Zelt
Die Schreie der Schwester
Das Trommeln gegen Türen
Die Kameraschwenks
Immer schneller / bis sie rasen
Das Gleis am Waldabhang
Kopf vom Leib getrennt / ein Geräusch
Se disuelven en la arena
Bronzeaffen hämmern die Stunde
Around and around / Stunde um Stunde
Die Gitarre / die Menora im Sand
Beim Stöbern im Bücherregal entdecke ich einen schmalen Band von Federico Garcia Lorca, darin auf Seite 20 das Gedicht Y después – Was bleibt. Es beginnt mit den Zeilen: «das labyrinth/aus zeitgeschöpftem/es löst sich auf.»
Am nächsten Tag in der Neuen Nationalgalerie: Nan Goldins Dreikanalvideo SISTERS, SAINTS, AND SIBYLS, gewidmet der früh verstorbenen Schwester Barbara, installiert in einem schwarzen, tuchumhüllten Septagon. Abends im Arsenalkino: A DAY’S PLEASURE, Clemens von Wedemeyers sechsstündiges «Kinohopping»-Programm mit BACK AND FORTH (1969) von Michael Snow. 52 Minuten Kameraschwenks, horizontal und vertikal, schneller und schneller, bis an die Grenze des Erträglichen.
Auf meinem Schreibtisch liegt das Buch Sohrab Shahid Saless – Film im Kopf. Der Autor, Filmemacher und Cineast Bert Schmidt hat es dem iranischen Filmregisseur gewidmet, der 1974 sein Land verlassen musste und nach Deutschland ins Exil ging. Dort entwickelt Saless seinen sezierenden Blick auf deutsche Zustände, der seine Geschichten über Fremdsein und Außenseitertum prägt. Zwischen 1979 und 1987 hat Bert für ihn als Regieassistent und Set-Fotograf gearbeitet.
Unter dem Titel «Fremd im eigenen Leben» habe ich das Buch in der taz vom 17.12.2024 besprochen: «Zu den Dreharbeiten von ORDNUNG und sechs weiteren Filmen, an denen er beteiligt war, hat Bert Schmidt ein reich bebildertes ABC des filmischen Handwerks – eine Rarität in der Filmliteratur – zusammengetragen. Er spricht mit dem Oberbeleuchter Sigi Gierich über die Zusammenarbeit mit dem Kameramann Ramin Molai, befragt Tonmeister, Ausstatterin, Schauspielerin, Cutterin, Drehbuchautor und Rechtsanwalt. [...] Diese Zusammenschau macht den komplexen Herstellungsprozess eines Films sinnlich erfahrbar.»
2024 wird für mich in Erinnerung bleiben als das Jahr, in dem ich einen neuen Rekord an ungeschriebenen Kommentaren in den sozialen Medien erzielt habe. Noch nie habe ich so oft der Versuchung widerstanden, mich an Diskussionen zu beteiligen, auf den Seiten von Freund*innen oder Unbekannten. Gar nicht mal nur bei politischen Themen, sondern bei allen möglichen Anlässen. Missverständnisse lauerten überall, mitunter wurde ich, so schien es mir zumindest, auch mit Absicht falsch verstanden. Es kam mir vor, als warteten die Leute nur darauf, einen Anlass für einen verbalen Schlagabtausch zu finden. Zugleich spitzten sich die Positionen immer weiter zu, es war wie beim Fußball: Für wen bist du? Mir wurde schmerzlich bewusst, wie voraussetzungsreich noch die kleinste Aussage ist und wie mühsam es sein kann, diese Voraussetzungen dort, wo sie fehlen, begreiflich zu machen. Nun ist das alles nicht neu, dergleichen Erfahrungen macht man in den sozialen Medien, seit es sie gibt. Es ist vielleicht auch naiv zu glauben, es könnte anders sein. Das war es aber, immer wieder, in der Vergangenheit. Diese Inseln sind merklich weniger geworden, und ich habe bei mir feststellen müssen, dass mir zunehmend die Energie fehlt, nach ihnen zu suchen. Daher diese Tendenz zum Schweigen, zum Achselzucken. Der Begriff Diskursmüdigkeit beschreibt dieses Phänomen wahrscheinlich am treffendsten. Insofern könnte ich auch einfach sagen: 2024 war das Jahr, in dem meine Diskursmüdigkeit chronisch wurde.
Es wird besser, die Flugangst ist zwar nicht völlig überwunden, Umgänge mit ihr wurden aber schon gefunden (Tavor, Gin Tonic, Games App der New York Times). Auch sonst war 2024 auf verschiedenen Ebenen ein Jahr der Exposition für mich. Drüben lehnen zusammengefaltet die Umzugskartons. Ich lasse sie an der Wand auf ihren Einsatz warten und mache Notizen.
1. Der Geschmack der gefrorenen Sahne unter dem Spaghettieis im Marler Stern.
2. Bevor der Sommer ganz «chartreuse» wird, wie es Jamie Gangel auf CNN beschreiben würde: Erika de Casier (STILL), Tami T (HEART OF A DOG), Little Simz (DROP 7), Shygirl (CLUB SHY).
3. Worüber wir sprechen, wenn wir von «some good fucking tennis» reden (CHALLENGERS, Luca Guadagnino); was einen soliden Kosten- und Finanzierungsplan ausmacht (BARBARA MORGENSTERN UND DIE LIEBE ZUR SACHE, Sabine Herpich); wie M., M. und ich nachts im Meer schwimmen und alles um uns herum so glitzert, als wären wir nicht diese drei Kulturwissenschaftler*innen, sondern Figuren aus der Disney-Verfilmung von CINDERELLA (Biolumineszenz vor Vancouver Island).
4. Die Mäuse, die in der Dämmerung das MIT übernehmen; der Hausmeister, der an einem Roman arbeitet, der sich selbst zerstört; die neugierigen librarians, die plötzlich mit mir suchen und Zettel hinterlassen; der Kellner, der mir kommentarlos ein Bier in die Hand drückt, als wir für einen kurzen Moment zusammen glauben wollen, dass Donald Trump tödlich verletzt wurde.
5. 69 Verhandlungstage in Avignon und dass wir nirgends sicher sind.
Außerhalb der Zählung, weil out of this world: Wie Lorde die Bühne im ausverkauften Madison Square Garden betritt (SWEAT, Charli XCX & Troye Sivan).
Den einen ist Jimmy O. Yang schon lange bekannt. Andere haben den Namen noch nie gehört. Wenn man leichte Unterhaltung und Asien mag, könnte man schon 2018 in Crazy Rich Asians auf ihn aufmerksam geworden sein. Wer Stand-up Comedy ertragen kann, hat vielleicht mitbekommen, dass man seine Shows auf Prime Video schauen kann. Dort bringt er sein Erfolgsrezept auf den Punkt: Trotz ehrgeiziger, natürlich typisch chinesischer Eltern verdient er sein Geld damit, dick jokes auf der Bühne zu reißen. Und selbst mit diesen ist er der einzige Comedian überhaupt, den ich persönlich nicht nur ausstehen kann, sondern den ich sehr liebenswert finde. Bemerkenswert war dieses Jahr Hulus Interior Chinatown mit Jimmy O. Yang in der Nebenrolle, die die Hauptrolle ist. Die Serie ist skurril mit auffällig surrealer Beleuchtung, kommt langsam in Fahrt, setzt ironisch auf ein paar Chinatown-Klischees. Sie ist nur bedingt originell mit ihren intertextuellen, teils metaleptisch anmutenden Referenzen auf Law & Order. Und auch das Narrativ, dass der unbeachtete Kellner davon träumt, jemand Besonderes zu sein, kennt man. Aber dass sein Traum darin besteht, in einem Kriminalfall als Zeuge auftreten zu dürfen, weil er eine Leiche gefunden hat, ist rührend zufällig, nebensächlich, unwichtig. Eine randständigere Rolle kann man sich wohl kaum ausdenken, wenn man von etwas ganz Großem träumt. Nun wird die Figur Willis tatsächlich in einen Kriminalfall hineingezogen, wobei dieses Narrativ surreal bleibt. Willis ‹ermittelt› mit seinen Möglichkeiten, indem er zum Beispiel Essen auf ein Polizeirevier liefert und das dortige Personal in Gespräche verwickelt. Der ‹Fall› könnte genauso gut in seinem Kopf stattfinden, aber Lieferjunge ist er wirklich, und mit seinem besonderen kommunikativen Elan verkuppelt er en passant zwei Polizeiangestellte, die ihrerseits, wie fast alle Figuren, nicht die Held:innen des Reviers sind. Die Serie ist dem profanen Alltag gewidmet und zeigt ganz nebenbei, was wäre, wenn alle jede Aufgabe wichtig nähmen und für andere wichtig wären und gesehen würden. Die intertextuelle Überfrachtung, die sowohl ästhetisch in der Gestaltung der Serie als auch psychologisch als Filmträume der Figur zum Tragen kommt, sorgt aber dafür, dass man schon Action und ein bisschen Spannung geboten bekommt, sodass man die Hauptsache der Serie – nämlich den programmatischen Fokus auf die Nebensachen und die Brechung der Diegese – vergisst und man einen ganz seichten Chinatown-Krimi genießen kann. Keine große Serie, aber auch nicht ganz das mittlerweile etablierte (und natürlich bewährte) Netflix-Serienrezept.
Geschichten, die bleiben. 16 Jahre alt war Walid Raad, als er aus seiner Heimat floh. Das war im September 1983, und im Libanon herrschte Bürgerkrieg. Ost-Beirut, wo Raads Familie wohnte, wurde von den Forces Libanaises kontrolliert, einer christlich-nationalistischen, von Israel unterstützten Miliz, die kurz zuvor die allgemeine Wehrpflicht eingeführt hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Raad zum Militärdienst gezwungen würde. Das Schiff, das ihn dann nach Zypern bringen sollte, gehörte, wie er viele Jahre später erfuhr, einer Firma, die sich im Besitz von Hans Heinrich Thyssen-Bornemisza befand – so zumindest berichtet Raad es uns, einer Gruppe von rund 25 Besucher:innen, an einem Septembernachmittag im Kunsthaus Zürich.
Thyssen-Bornemisza, der Schweizer Unternehmer, Kunstsammler und Erbe des deutschen Industrieimperiums, von Walid Raad meist nur kurz «Heini» oder auch «der Baron» genannt, bildet die Klammer all jener Geschichten, die Raad in seiner Ausstellung Cotton Under My Feet miteinander verwebt – in Fotografien, Collagen und Installationen, aber vor allem in einem rund eineinhalbstündigen, nahezu atemlosen Monolog, mit dem er uns von Raum zu Raum hetzt, von Geschichte zu Geschichte, als ob die Zeit nicht reichen würde, sie alle zu erzählen.
Zuvor haben wir schon von allerhand Merkwürdigkeiten jener Kunstsammlung erfahren, die «Heini» angeblich dem Museum vermacht hat: Gemälde gäbe es da, auf deren Rückseite man, just ebenfalls im Jahr 1983, eine Reihe von Wolkenstudien entdeckt habe und deren Vorderseite seitdem, so die Verfügung des Barons, niemand mehr anschauen dürfe; ebenso einen Teppich, der, obwohl er nur 21 Kilogramm wiege, doch so schwer sei, dass kein Mensch ihn anheben könne. Auch haben wir gehört, dass sich auf den Gemälden in «Heinis» Sammlung ebenso viele Engel wie in der Bibel befinden, nämlich genau 285, und dass diese keinesfalls restauriert werden dürften, sondern sich vielmehr unter bestimmten Umständen selbst reparieren würden.
Dutzende weitere Geschichten werden im Laufe dieses Nachmittags dazu kommen, wahre und fiktive und solche irgendwo dazwischen, und am Ende wird uns ganz schwindelig vor lauter Namen, Orten und Jahreszahlen. Nicht selten sind es dabei die seltsameren Geschichten, die sich, bei der anschließenden Recherche im Netz, als wahr herausstellen – etwa die Geschichte von Thomas Kaplan, einem Schulfreund von «Heinis» Sohn Lorne Thyssen-Bornemisza, der in den 1990er-Jahren, als mit der Digitalisierung der Fotografie die bislang größte industrielle Nachfrage nach Silber wegzubrechen drohte, gegen jede herkömmliche ökonomische Rationalität auf steigende Silberpreise setzte – und damit Millionen machte.
Sein Vermögen investierte Kaplan nicht nur in die bedeutendste Rembrandtsammlung der Welt, sondern auch in die Lobby-Organisation United Against Nuclear Iran (UANI), deren größter politischer Erfolg wohl in Donald Trumps Kündigung des Iran-Atomabkommens 2018 bestand – Trumps damaliger Sicherheitsberater John Bolton war ein Gründungsmitglied von UANI. Der junge Thyssen-Bornemisza wiederum, der schon zu gemeinsamen Schulzeiten auf einem Schweizer Internat mit Kaplan über den Nahen Osten gestritten haben soll und angeblich mit Raad denselben Geburtstag teilt, konvertierte schließlich zum Islam und drehte mit Millionen aus seinem Privatvermögen einen Spielfilm über den libanesischen Bürgerkrieg, den kaum jemand gesehen hat.
All diese Geschichten, in denen sich die Welt der Kunst und die Welt der Geopolitik vermischen und die immer wieder zu seiner eigenen Biografie zurückführen, hat Raad schon Dutzende Male erzählt. Die Zürcher Ausstellung ist bereits die dritte Auflage eines Projekts, das ursprünglich für das Museo Nacional Thyssen-Bornemisza in Madrid entwickelt wurde. Die Dramaturgie ist also eingeübt, die Pointen sitzen, der Wechsel der Räume und Stimmungen scheint genau kalkuliert. Nur in wenigen Momenten gerät der Erzählfluss kurz ins Stocken, und Raad lässt in Nebenbemerkungen durchscheinen, dass etwas anders ist an diesem 28. September. Seit drei Nächten habe er nicht geschlafen, sagt er an einer Stelle. Einmal summt sein Telefon – Raad drückt es weg, es sei, so kommentiert er knapp, wohl die Verwandtschaft aus Beirut. Am 17. und 18. September waren dort mehrere Tausend Pager der Hisbollah explodiert, es folgten eine Reihe von Luftangriffen. Am 30. September, zwei Tagen nach unserem Ausstellungsbesuch, beginnt die Bodenoffensive israelischer Truppen im Südlibanon.
Viel war in diesem düsteren Jahr von Kunst und Aktivismus die Rede und ob und wieviel die beiden miteinander zu tun hätten. Walid Raad, der atemlose Geschichtenerzähler, scheint seine eigene Antwort auf diese Fragen gefunden zu haben. Und an diesem Nachmittag Ende September ließ er uns spüren, welche Kraft sich daraus gewinnen lässt, der großen Geschichte, «die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft», die eigenen Geschichten entgegenzustellen, die wahren und die fiktiven und all die irgendwo dazwischen.
April, Frankfurt
There is no there there im MMK. Gezeigt wird Kunst von Menschen, die in den 60er, 70er und 80er Jahren nach Deutschland gekommen sind – in die BRD und in die DDR. Manche als Arbeiter*innen, andere mit einem DAAD-Stipendium, andere als Kunststudent*innen, wieder andere als politische Flüchtlinge zum Beispiel aus Chile. Besonders gut gefallen mir die Masken aus Pappmaché von Manuela Sambo, die Installation Hopscotch von Vlassis Caniaris gleich am Eingang, die lebensgroße Figuren ohne Köpfe versammelt, gefertigt aus Maschendraht, gehüllt in abgetargene Anzüge und mit Koffern ausgestattet, Akbar Behkalams Gemälde von fliehenden Menschenmengen, der Kurzfilm Hausordnung von Zelimir Zilnik, die respektlosen Karikaturen von Drago Trumbertas, die bedruckten Stoffe von Hamid Zenati und einiges mehr. Angenehm zurück halten sich die erläuternden Texttafeln, sie verzichten auf Interpretation und ideologischen Überbau. Es geht ihnen um die Arbeiten, deren Kontext, deren Materialität und weniger darum, Thesen in die Welt zu pflanzen.
Juni, Bonn
In der Akademie der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit im idyllischen Bonn-Kottenforst lerne ich Suaheli. Es ist der zweite Tag des Kurses, ich freue mich an den Silbenkombinationen, beherrsche bereits Gegenwart, Zukunft, Perfekt und Imperfekt, jedenfalls solange mir der Blick auf die Konjugations-Tabelle gestattet ist. Entfernt erinnert mich das an die Lateinstunden meiner Teenager-Jahre: Ninapenda, unapenda, anapenda, tunapenda, mnapenda, wanapenda. Am Nachmittag erfahre ich, dass die Proteste in Kenia eskalieren. Ein neues Haushaltsgesetz mit neuen Steuern bringt die Leute auf. Sie haben ohnehin Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen. Das Parlamentsgebäude wird gestürmt, die Polizei setzt scharfe Munition ein. Offiziellen Angaben zufolge werden fünf Menschen erschossen; der Sicherheitsbeauftragte der Botschaft spricht von 15. Angeblich soll, so der Stand an diesem Tag Ende Juni, die Polizei auch Leute verschleppt haben. Ein Verdacht, der sich später erhärtet. Es kommt zu Plünderungen in der Innenstadt, eine Ausgangssperre wird ab 18:30 Uhr verhängt.
Wochen des Protestes folgen. Mal auf der Straße, mal online, ohne sich an der in Kenia so relevanten Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu orientieren, ohne vertikale Strukturen, ohne dass sich der Oppositionsführer Raila Odinga den Protest aneignen könnte. «No stones, just phones» ist der Slogan der Stunde; die Forderungen sind in großen Teilen vernünftig und wichtig: mehr Demokratie, weniger Korruption, keine Steuererhöhungen ohne spürbare Verbesserungen in der Infrastruktur, andere Modalitäten der Schuldentilgung, ein Ende der Polizeigewalt.
August, Nairobi
Ein Vormittag im Langata Women’s Prison, wo das Amka-Literaturforum in Zusammenarbeit mit uns (das heißt: dem Goethe-Institut Kenia) einen Schreibworkshop veranstaltet. Die Häftlinge – sie nennen sich «clients» und tragen blau-weiß gestreifte Kittelkleider – schreiben vor allem Gedichte, die sie der Reihe nach vortragen. Oft sind die Texte erbaulich; Religion spielt eine große Rolle, durch dunkle Tunnel führt der Weg ins Licht. Bisweilen finden sich dichte, beschreibende Passagen, aus denen hervorgeht, wie die Lebensumstände im Gefängnis sind und wie die Umstände draußen waren. Eine junge Frau zum Beispiel schreibt darüber, wie sich eine Ich-Erzählerin um ihre jüngeren Geschwister zu kümmern versucht und daran scheitert. Neben mir sitzt J., die ein Gedicht vorträgt, in dem das lyrische Ich jemandem das Leben nimmt, nachdem der es offenbar bedrängt hat; der Vers beginnt mit «I can’t breathe». Sie erzählt nach der Lesung, dass sie ursprünglich zum Tode verurteilt wurde, die Strafe aber auf 20 Jahre reduziert wurde. Sie hat ein Fernstudium aufgenommen. Irgendwann wird sie Juristin sein.
Oktober, Nairobi
An einem Sonntagnachmittag fahre ich nach Eastlands, um mir in der Kaloleni Social Hall zwei Filme im Rahmen des NBO Film Festivals anzusehen. Der erste, After the Long Rains, ist ein kenianischer Kinderfilm, dessen Plot viele Haken schlägt. Im Saal sind außer mir fast ausschließlich Kinder. Sie staunen, wollen wissen, ob meine Haare echt oder eine Perücke seien, ob ich mit dem Goldzahn zur Welt gekommen sei, ob ich Kinder habe… Der Schreck im Gesicht eines Mädchens, als ich die Frage verneine, bleibt mir im Gedächtnis.
Die Kaloleni Social Hall war, wie mir später Sheba Hirst, die Leiterin des Festivals, erzählt, kurzzeitig Sitz des kenianischen Parlaments und außerdem ein wichtiger Ort für die Unabhängigkeitsbewegung. Der Gewerkschaftsführer Tom Mboya etwa hielt hier Reden, andere Politiker, die für die Unabhängigkeit eintraten, auch. Heute ist das Gebäude in einem tristen Zustand. An den Umstand, dass es ein wichtiger Ort für die Unabhängigkeit war, erinnert nichts. Aus zwei Zeitungsartikeln, die die besondere Rolle des Ortes hervorheben, erfahre ich etwas mehr über die Geschichte des zu Kolonialzeiten segregierten Nairobis. Hier im Osten der Stadt befanden sich die Wohngebiete der kenianischen Arbeiter, zellenartige Zimmer; die Männer sollten ohne Familie in die Stadt kommen und nur dann, wenn sie ein festes Arbeitsverhältnis hatten. Im jungen, eben erst von den Briten gegründeten Nairobi sollten keine Arbeitslosen leben und keine Angehörigen, so verfügten es die Kolonialherren. Wer Zugang zur Stadt hatte und wer nicht, wer sich in welchem Viertel bewegen durfte und wer nicht, war am Prä-Apartheid-Südafrika geschult. Erst in den 30er, 40er Jahren des letzten Jahrhunderts änderte sich das, der Zuzug der Familienmitglieder wurde möglich. In Kaloleni wurde eine Siedlung nach dem Vorbild der Gartenstadt angelegt, man sieht die kleinen, eingeschossigen Steinhäuser mit den Gärten drumherum noch heute.
Der zweite Film ist The Empty Grave, ein tansanisch-deutscher Dokumentarfilm von Cece Mlay und Agnes Lisa Weber. Es geht um von deutschen Kolonialherren zu Beginn des 20. Jahrhunderts geraubte Gebeine. Während des Maji-Maji-Aufstands griffen antikoloniale Kämpfer die Deutschen an, sie wurden verhaftet und hingerichtet, die Schädel nach Deutschland gebracht. Der Film ist solide, verlässt sich sehr auf die Musikuntermalung. Vielleicht würde ich ihm in meiner alten Funktion und in Berlin nicht allzu viel Relevanz zuschreiben, sieht man von der inhaltlichen ab. Doch in meiner neuen Funktion und in der Kaloleni Social beeindruckt er mich sehr. Mein Blick auf Filme verschiebt sich, merke ich. Ich bin zufrieden, wenn ein*e Regisseur*in Geduld und ein gutes Gespür für Räume sowie für die Montage hat, und das haben Cece Mlay und Agnes Lisa Weber besonders bei den Übergängen von Tansania nach Berlin und zurück. Und ihr Film ist sensibel, die Akteure werden nicht bedrängt, die Kamera bleibt zum Beispiel auf einem Gang stehen, während die Angehörigen eines vor mehr als hundert Jahren Getöteten in einem Berliner Archiv in eine Kammer gehen, um dort aufbewahrte Schädel anzuschauen.
Auf dem Rückweg verfährt sich der Taxifahrer zunächst ein bisschen auf den nicht-asphaltierten, schmalen Straßen, es ist wie ein Labyrinth, und es ist eine Lebenswelt, die mit dem, was ich sonst von Nairobi sehe, nichts zu tun hat. Am Straßenrand sind vor allem Hütten, teils sind es Läden, ein paar Friseure arbeiten noch, es ist viel los auf der Straße, die Dunkelheit wird von nicht allzu vielen, dafür umso helleren Lichtquellen interpunktiert. Irgendwo brennt ein kleines Feuer.
November, Köln
Eine Ausstellung zu Ehren Udo Kiers im Kunstverein. Sie ist hinreißend, weil die Zeit der respektlosen Bricolage aus heutiger Sicht so verführerisch erscheint, wie etwas, dessen Verlust schmerzt. All diese No-Budget-Transgressionen, die Gedärme im Filmprojektor, die fröhliche, polymorphe Sexualität, das Faible für Quatsch und Trash und Camp… Das ist so anziehend in einer Zeit, in der Kunst so oft im Agitatorischen und Bescheidwisserischen aufgeht, und die gesellschaftspolitische Lage so düster ist, weil die Freiheiten, die in den 70er errungen wurden, unter so großem Druck stehen. Klar ist zugleich, dass es den Weg zurück zum Status quo ante nicht gibt. Die Transgressionen der 70er und 80er lassen sich nicht reanimieren. Es braucht neue Formen.
Noch gar nicht erzählt: Oktober 2023, in San Francisco, dienstlich. Die Kollegin und ich gehen die Market Street entlang, es zieht sich. «Warte, bald müssten wir da sein, oder sind wir schon vorbei?» Sind wir. Vorbei an der alten Twitter-Zentrale, mit dem ikonischen langen Firmenschild gleich vorne an der Straße. Denn man erkennt sie nicht mehr, kein Zwitschervogel nirgends und auch kein X, das Schild haben sie einfach weiß abgeklebt, Arschlöcher. Wollen nicht mal zeigen, dass sie (die Arschlöcher) jetzt hier sind. Am Nebengebäude, wenn man in die Seitenstraße reingeht, dann doch noch ein Vogel; wirkt fast, als hätte man ihn vergessen abzuknallen.
Lustig oder traurig? Wir streunen durch den Supermarkt unten im Firmengebäude kaufen dies und das, vielleicht wollen wir aber auch vor allem doch noch irgendwie irgendwas mitkriegen von diesem Ort, von dem aus sich so lange ein großer Teil unserer Leben entfaltet und regiert hat. Ein Foto vor diesem leeren Scheißschild machen wir aber noch. Wir waren hier! Nichts da!
Bild noch schnell zum Profilbild gemacht, vielleicht noch den ein oder anderen Tweet geext, das weiß ich gar nicht mehr (ich glaube aber nicht). Die App war eh längst gelöscht. Ausgeloggt, nie (?) wieder eingeloggt. Ist jetzt 14, 15 Monate her. Sollte ich mal einen Text drüber schreiben, könnte gleich den Titel meiner Dissertation von 2016 nehmen: «Was war Twitter?», aber keinen Bock. Oder zumindest könnte ich mal die Accounts löschen (auch keinen Bock).
Ich habe in diesem Jahr ein kleines Buch über die Fernsehserie Ein echter Wiener geht nicht unter (1975 - 1979) geschrieben – ein Schlüsseldokument für eine zweite (oder dritte) Modernisierung Österreichs. Ich war mehrfach auch länger in Wien, noch mehr Zeit aber habe ich im Wienerischen verbracht, in den den vielen Konstruktionen des Viennensischen, vor allem sprachlichen. Über Reinhard Schwabenitzky, den Regisseur der ersten 13 Folgen der Serie, habe ich herausgefunden, dass er als Kind einmal in Ost-Berlin war, um seinen Vater Gerhard Klingenberg zu besuchen. Er traf in den DEFA-Studios auch auf Wolfgang Staudte. Im Juni saß ich in Berlin am Arkonaer Park in der Küche bei Jenny Erpenbeck und sprach mit ihr über ihre Geschichte mit der DDR und der Sowjetunion, der einstigen «Friedensmacht», auf die im 20. Jahrhundert viele Hoffnungen auf Fortschritt gerichtet waren. Das Gespräch verhalf mir zu einem etwas besseren Verständnis dafür, was historische Verluste sein könnten. Wir standen dann noch eine Weile in Jenny Erpenbecks Bibliothek, und sie legte mir ein Buch ans Herz, das ich später gelesen habe: Selbstbefragung von ihrer Großmutter Hedda Zinner. Ein Bericht von zwanzig Jahren in der Sowjetunion, auf dem Höhepunkt von Stalins Macht. Eine Rückschau auf diese Zeit, die sich nicht von den großen Erwartungen dispensieren will, die damals den Blick auf den Terror trübten. Im Juli saß ich mit einer Gruppe von Fans im Arkonaer Park, und feierte den Geburtstag des Fußballclubs Hertha BSC, der 1892 an diesem Ort gegründet worden war, durch Unterschriften zweier Brüderpaare. 1960 drehte Gerhard Klingenberg nach einem Drehbuch von Hedda Zinner den DEFA-Film Was wäre, wenn ...? Mein Mundl-Buch, wie ich das Projekt nach dem Protagonisten der Serie, Edmund Sackbauer, immer nannte, war schon fast fertig, als ich auf die Geschichte von Reinhard Schwabenitzky und seinem Besuch bei der DEFA stieß. Am 18. Juni 2024, also erst heuer, ist Gerhard Klingenberg in Villach in Österreich gestorben, zwei Jahre nach seinem Sohn. Alles hängt mit allem zusammen.
Kaum biegt man im Leben drei Mal um eine Ecke, ist das Kind 18 geworden, schreibt eine vorwissenschaftliche Arbeit und bereitet sich auf die Matura vor. Kinder, wie die Zeit vergeht! Und irgendwann auf dem Weg Richtung Matura sagt sie: Ich werde im Herbst ein Jahr nach Frankreich gehen, als Au pair. Meldet sich bei einer Agentur an und matcht mit drei ersten Familien. Caen in der Normandie! Wahnsinn! Aber die nehmen sie nicht, weil sie keinen Führerschein hat. In der Nähe von Paris – «strinctly vegan regime», darauf wird geschissen. Brest! Eine Arztfamilie mit zwei Buben, Ferienhaus im Süden, in den Alpen und was weiß ich wo noch – unsympathisch! Dann telefoniert sie mit Delphine in Marseille, und sie verstehen sich. Marseille also! Sie erlaubt mir, sie mit zwei Riesenkoffern dorthin zu bringen, es war Ende August, und dann verabchiedete ich sie in der Nähe des Cinéma Le Prado in ihr neues Leben.
Ich selbst habe seit langem ein Gedicht im Ohr, das ich liebe: Having a coke with you von Frank O’Hara, es fängt so an: Having a Coke with you is even more fun than going to San Sebastian, Henndaye, Irun, Bayonne, Biarritz … Seither habe ich diese Idee, diese Orte, die sich im französisch-spanischen Grenzgebiet am Atlantik konzentrieren, zu besuchen und überall eine Coke zu trinken. Ich fuhr mit dem Zug hinüber und checkte in einem kleinen Hotel in Henndaye ein, dann ging ich über den Brücke des Flusses Bidassoa hinüber nach Spanien nach Irún, das waren meine ersten zwei Cokes in Angedenken an den früh verstorbenen Dichter. Am nächsten Tag fuhr ich von Henndaye aus (quasi vom Internationalen Bahnhof ab) nach Donostia, so nennen die Basken ihre Stadt San Sebastian. Ich sage oft: Das schöne an meinem Leben ist, dass ich noch nicht überall war wie die ganzen Kunst- und Kulturwappler, die ja ständig im Flieger sitzen, irgendwo kuratieren und irgendwann alles gesehen haben. Mir hingegen fiel auch mit 58 noch die Kinnlade hinunter, als ich vom Bahnhof Amara kommend durch die Calle de Easo gehend vor der Playa de la Conocha stand. Hat man so etwas schon gesehen? Ich nicht! Darauf also ein paar Gläschen Txacoli! (Und eine Coke)
Am nächsten Tag fuhr ich nach Norden hinauf, kaufte in Bayonne einen der Magneten, die meine Tochter sammelt, sowie eine Coke to go und fuhr weiter nach Biarritz. Am Bahnhof angekommen dachte ich mir: Naja, Biarritz! Wie weit kann es da vom Bahnhof aus schon bis zum Strand sein? Fing also an, zu Fuß von dort aus Richtung Westen zu gehen, kam dem Strand aber nicht wirklich näher. Ich hüpfte in einen Bus, von dem ich dachte, der werde schon irgendwo an einen Strand fahren. Und dann hielt der auch vor dem Casino in Biarritz. Dort fiel mir wieder die Kinnlade hinunter, denn: Das ist schon nicht schlecht, von dort aus auf die Wellen hinauszuschauen, für die Biarritz ja u.a. berühmt geworden ist. Die Hotels sind ansprechend gewaltig, man bekommt eine Ahnung davon, wie das früher mal gewesen sein mochte, als sich noch der Jet Set hier umtat und nicht die ganzen Proleten, die mittlerweile jeden Aufenthalt an jedem Ort der Welt zur Plage machen. Ich trank eine Coke und fuhr wieder zurück nach Henndaye.
Die Rückfahrt nach Marseille machte mich dann noch einmal richtig glücklich. Im Licht der untergehenden Sonne raste der Zug die Küste entlang hinunter auf Meeresniveau, zur rechten Hand der Hafen, links und rechts die Quartiers Nord. Dann stand ich abermals vor dem Bahnhof St. Charles und schaute auf diese Stadt, ging die Treppe zum Boulevard d’ Athène hinunter und fühlte mich … zuhause. Zurück zuhause in Wien kaufte ich mir die drei Marseille-Krimis von Jean Claude Izzo, und beim nächsten Besuch schon ging ich wie ein alter Seemann durch viele Straßen zu den vielen Orten, die er darin beschreibt. Marseille, schreibt er, gehört immer denen, die dort ankommen. Denen, die vor 50 Jahren French Connection dort gedreht haben und die Autos am Samaritaine vorbeirasen ließen, und denen, die 50 Jahre später dort sitzen und sich mit gutem Weißwein ansaufen.
Merci, ma chère fille, dass du dich entschieden hast, nach Frankreich zu gehen! Je t’aime!
It grows on you: Evil Does Not Exist (Ryusuke Hamaguchi, 2023) | Untergründig verwobene & dennoch frei mäandernde Erzählformen sind nicht erst im rechtslibertären Argentinien Mileis so vernünftig wie Banküberfälle: Los delincuentes (Rodrigo Moreno, 2023) | Auch (aber nicht nur) in memoriam Thomas Heise: No Other Land (Basel Adra, Yuval Abraham u.a., 2024) | Ähnlich unzweideutig ein Film des Jahres: Critical Zone (Ali Ahmadzadeh, 2023) | Eine Experimentalfilmhyperbel in Sachen «kinetic beauty» (auch sonst eine Adaption von David Foster Wallaces Nerd-Essay Federer as Religious Experience, bis hin zur subvertierten «symbology of war»): Josh O’Connor wie immer jede Sekunde sehenswert & Zendaya antwortet Stanford mit einem I Told Ya Jersey (Challengers, Luca Guadagnino, 2024) | Dardennes Rosetta als verbalmobilisierte Klassenkampfheroine in Brighton Beach: Mikey Madison, im Joe Pesci-Gedenkstil antioligarchische Invektiven austeilend (Anora, Sean Baker, 2024) | In Leni Riefenstahls faszinierend selbstdesavouierendem Privatobsessesionsarchiv spricht der Anrufbeantworter fließend, als wollte er mit jeder Sprachaufzeichnung Die Unfähigkeit zu trauern der Mitscherlichs als zeitgenössischen Referenztext heraufbeschwören, BRD sehr noir (Riefenstahl, Andreas Veil, 2024) – und wie das im zeitgeschichtlichen Kontext gesamtgesellschaftlich rückgekoppelt war, erzählen Sarah Haffner und Luc Bondy in Jeanine Meerapfels Im Land meiner Eltern (1981, Berlinale Retrospektive) || Heimkinoretrospektive des rechtsphilosophischen Flügels im natürlich dennoch in Running On Empty (1988) rechtsstaatskritisch gipfelnden Werk Sidney Lumets: Andy Garcias «Having faith in the law»-Schlussmonolog in Night Falls on Manhattan (1996) und die sich in Bewusstwerdungsechtzeit entwickelnden Polaroids, die den Anwalthustler und «ambulance chaser» Paul Newman ihn spirituell revitalisiernde David Mamet-Theaterpathossätze sagen lassen, die aus gegenwärtiger Perspektive ziemlich geerdet klingen: «We become tired of hearing people lie and after a while we become a little dead» (The Verdict, 1982) | Vittorio De Setas ethnografische Miniaturen in CinemaScope auf der Duisburger Filmwoche: Parabola d’oro (1955) und, nochmals beeindruckender in seiner elegisch ritualisierten Gewaltförmigkeit, Contadini del mare (1956) || Ermittler der Herzen: Inspector Ravini in Steven Zaillians intelligent zerdehnter Highsmith-Serie Ripley (2024) || Stand-Up Specials: More Feelings (Ramy Youssef) | Love You (Adam Sandler / Josh Safdie) || Turner: Three Horizons (Lenbachhaus, München) | Frans Hals – Meister des Augenblicks (Gemäldegalerie, Berlin) || Zwei Spätsommerabende im all-time favourite St. John (London) || Das ganze Jahr viel Kompakt gehört, zuletzt: Michael Mayer – Feuerstuhl (The Floor is Lava, 2024) || Die für mich lehrreichsten Reportagen zur Ukraine schreibt auch dieses Jahr James Meek in der LRB – vor Beginn des Frühjahrs und im Herbst || Die Tagebucheintragungen des schon damals deutlich deutschnational blinkenden Syberbergfans Martin Walser nach der für ihn suboptimal gelaufenen Habermas-Geburtstagsparty im Jahr 1979 in Starnberg, für die er sich extra ein seiner Meinung nach überlegene Virilität ausstrahlendes Goldkettchen angelegt hatte, was unter anderem Gershom Scholem eher überhaupt nicht beeindruckt, weshalb Walser frühzeitig & wehleidig die Heimreise antritt: «Ich schloß den Hemdkragen. Wir waren sowieso schon am gehen.» (Philipp Felsch, Der Philosoph: Habermas und wir, 2024)
Die Oper im Revier spielt Kaija Saariahos Innocence. Es geht um die Folgen des Amoklaufs an einer Schule in Finnland. Wer das Stück nicht hören und sehen kann, kann auf dem Plakat lesen, was in der Gelsenkirchner Aufführung zu erfahren ist: Das Gegenteil von Unschuld ist nicht Schuld, sondern: No/Scene. Oder auch: No/Sense. – Die Musik von Julius Eastman kommt im Rahmen der Konzertreihe Erased Music der Ruhrtriennale endlich auch in der Bochumer Provinz an. Die Stücke sind wie jene Bomben, die nach ihrem Abwurf nicht explodierten und 50 Jahre später gefunden werden. Jetzt müssen sie sofort entschärft werden. Die Ankündigungen der unaussprechlichen Titel der Stücke delegiert das Ensemble Wild Up an Eastman selbst: Es wird eine Aufnahme von Eastmans eigener Einführung in seine Stücke abgespielt. – Familientag im Amsterdamer Stedelijk-Museum. Die Patti Smiths der Stadt treffen ihre queeren Enkel bei der Diashow von Nan Goldin, der eine Retrospektive unter dem Titel This Will Not End Well gewidmet ist. Die Stimmung ist gelöst und heiter. Der Fortschritt ist auch für die Enkel nicht zu übersehen. Kann, wer will, mittlerweile sich nicht sogar gegen Aids impfen lassen? Vorerst scheint der Titel der Ausstellung widerlegt. – Das Bochumer Schauspielhaus wartet auf Godot in der Inszenierung von Ulrich Rasche. Der Text ist um einige Anspielungen auf die Verfolgung und Ermordung der Juden in Paris («Hand in Hand hätten wir uns vom Eiffelturm runtergestürzt») kupiert. Bühnenbild ohne Baum. Stattdessen die unablässig laufende Drehbühne, auf der Steven Scharf und Guy Clemens die Zeit des Wartens in ständiger Bewegung verbringen und trotzdem nicht vom Fleck kommen. So wie einst in Zürich Helene Weigel als Mutter Courage den Karren durch den dreißigjährigen Krieg zog. Damals hieß es: Dialektik im Stillstand. – Pierre Bismuth hat das Gefuchtel von Jacques Lacans linker Hand während eines Vortrags (L’âme et l’insconcient, 1963) als eine Lichtspur sichtbar werden lassen, die nach und nach den Videobildschirm von «innen» beschlägt. – Piet Zwarts Fotografie von Anton de Kom. Kom wurde 1933 von der Kolonialverwaltung in Suriname nach den Niederlanden deportiert. Als er in IJmuiden eintrifft, wird er von «several thousand communist comrades» begrüßt. Später leistet er Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Er wird in das KZ-Neuengamme deportiert. Er stirbt am 24. April 1945 in Neuengamme, wie es heißt: an Tuberkulose. – Das kommende Buch: In Norbert Wehrs Schreibheft, Nr. 102 spricht Erhard Schüttpelz mit Ulrich Blumenbach, der an der Übersetzung von Finnegans Wake sitzt. – Düsseldorf. Mike Kelley, Ghost and Spirit. «Die Schlussfolgerung ist: dass das Leben dort, wo es am ‹realsten› ist, wo es mit den Institutionen der Macht in Berührung kommt, mit dem, was dich kontrolliert, dass es dort zugleich auf dem Gebiet der Kunst liegt, auf dem Gebiet des Erfundenen und Fiktionalen.« (Missing Time: Works on Paper 1974-1976) – Die Gedichtbände von CAConrad. – Meryl Tankard hat in Wuppertal mit acht weiteren Tänzerinnen und Tänzern der Uraufführungsbesetzung von Pina Bauschs Kontakthof die Fassung Kontakthof. Echoes of ’78 erarbeitet, in der sie mit und zu Filmaufnahmen des Stücks tanzen, die vor 46 Jahren entstanden sind. Neben mir sitzt ein Mann, Anfang 70: Er weint während des gesamten Stücks, vor und nach der Pause.
Challengers im Bambi. Es ist gut gefüllt, viele Paare jünger als wir. Als der Film zu Ende war, ist nur bedingt nach der Jacke gekramt oder das Handy wieder angemacht worden. Was ich hörte, war lachen. Nicht nur eins, mehrere. Kein verächtliches, eher ein erleichtertes Lachen. Ein Aufatmen als Lachen, als ob sich zwei Stunden lang in diesen jungen Brustkörben Luft gestaut hat, die jetzt raus darf. Das Lachen schwoll etwas zu plötzlich an und danach war es für den Augenblick einer Sekunde zu still. Es war ein Lachen als Druckausgleich.
Hielt ich damals ganz egoistisch für ein Zeichen pro Kino.
Häufig im Kino gewesen, Sehtagebuch geführt. Eine chronologische Auswahl von 20 Kinogängen, zwischen dem 5. Januar und 21. Dezember: Analogkino – Wir lassen uns das Singen nicht verbieten (1985) von Tillmann Scholl (Hofbauerkongress, Nürnberg): Im Titel steckt Trotz, ein Und-Dennoch; «Wir», das sind die Stammgäste des «Schauermanns», einer urigen, ständig geöffneten Kneipe in St. Pauli; Scholl begleitet sie beim Absturz und dem Wiederaufstehen; das ist mal zärtlich mal schroff – und nie von oben herab; ein unerschrockener Kiez-Epitaph. // Analogkino – Double Agent 73 (1974) von Doris Wishman (Wild Weekend, Wien): Im Filmarchiv Austria gab es beim diesjährigen Wild-Weekend mit «Tough Girls» einen Fokus auf weiblich dominiertes Genrekino aus aller Welt; komplette Outsider-Art flimmerte mit Wishmans traumwandlerischem Agenten- und Softsexstreifen über die Leinwand, ein Film voll autodidaktischer Cheap Thrills, 70’s-Tapetenmusteroverkills; auch eine Lehrstunde, wohin man einen Film mittels Voice-Over-Suggestion alles lenken kann. // Analogkino – Titanic (1997) von James Cameron (Hackesche Höfe, Berlin): Das Highlight der Berlinale-Zeit hatte nicht das Festival selbst, sondern die 35mm-Schiene in den Hackeschen Höfen zu bieten; endlich dieses inbrünstige, spektakulär handwerkliche Katastrophenmelodram auf Film gesehen, dazu noch in einer Lautstärke, dass einem der Eisberg quasi im Gesicht zerschellte. // Analogkino – The Right Stuff (1983) von Philip Kaufman (Arsenal, Berlin): American Myth-Making auf 70mm, dem «Stoff, aus dem Helden sind»; nicht weniger als ein megalomaner Exzess in Bild und Ton (letzteres finde ich bei 70mm fast noch eindrücklicher als das Bild); schonungslose Medienkritik wie bei Altman, Heldenfeier und zugleich -abgesang wie bei Ford. // Analogkino – Horst Schlämmer – Isch kandidiere! (2009) von Angelo Colagrossi (STUC, Berlin): Nachdem ich mich 2023 an den «Stählernen Filmclub» mit dem Besuch der Otto-Retro herantastete, war ich 2024 komplett dabei; was soll ich sagen? – eine filmarchäologische Tour-de-Force zwischen Beglückung, Erschöpfung und Entsetzen; mir fällt sonst kein Ort ein, an dem man Kerkelings Film (auf 35mm) «nachholen» könnte, so viel penetranter Anti-Humor, dass ich mich geschlagen gab. // Analogkino – Impressions of a Sunset (1975) von Suzuki Shiroyasu (Kurzfilmtage Oberhausen): Kinogewordene Kinoliebe; Shiroyasu zeigt uns in rauen 16-mm-SW-Bildern, wie er sich eine Kodak 16 besorgt, um nicht mehr nur über Filme zu reden, sondern sie auch zu machen; statt Diary-Film-Einerlei humoristische Ansprachen ans Publikum; radikal nach außen gestülpte Obsessionen. // Analogkino – Der Felsen (2000) von Dominik Graf (Filmrauschpalast, Berlin): Die Beschreibung einer Insel in einer alle Bildelemente gleichmachenden Mini-DV-Matschigkeit (und das auf 35mm); Graf ist, das wird mir im Kino wieder klar, ein Meister des unangestrengt entfesselten Erzählens: alles ist so treibend, so eruptiv emotional, und doch bekommt man nie den Eindruck, hier stellt einer bloß sein Können unter Beweis. // Analogkino – Singin’ in the Rain (1952) von Stanley Donen (Il Cinema Ritrovato, Bologna): Die schönste Kinogemeinschaftserfahrung des Jahres: am letzten Tag des Il Cinema Ritrovato gab’s beim Sonntagvormittagsscreening eine atemberaubende Technicolor-Kopie des Musicalklassikers; applaudiert wurde nicht nur (wie schönerweise in Bologna üblich) zum Filmende, sondern nach jeder Tanz- und Gesangsnummer. // Analogkino – Hairspray(1988) von John Waters (Luru Kino, Leipzig): Es soll Stimmen geben, die in Hairspray den Beginn einer zahmen, an Mainstreamerfordernisse angeschmiegten Werkphase von Waters erblicken, möglich, aber wenn das ein Kino bedeutet, das Underground-Wackiness mit Sirkschen Blumenbouquet-Bildern und der Sexiness von Minellis Tanzeinlagen vereint, dann ist das genau mein Kino. // Analogkino – Skaterdater (1966) von Noel Black (Zeughauskino, Berlin): Die spannendste Kinoreihe 2024 hat für mich Philipp Stiasny mit «Sammelt Filme!» im ZHK zusammengestellt; Einblicke in klandestine bis semi-institutionelle Sammlungspraxen; die Carte Blanche des Münchner Werkstattkinos präsentierte mit Skaterdater eine Zeitkapsel: wortlos schlängeln sich Kids auf ihren Boards die steilen Straßen LAs hinunter; erste Liebe flammt auf, nicht nur ein Film der Bewegung, auch einer der tiefen Blicke. // Analogkino – Las Chicas del Tanga (1983) von Jess Franco (Terza Visione, FFM): Eine Strandurlaubs- und Discokomödie hatte ich bis dato nicht auf dem Schirm, wenn ich ans Kino des Exploitationveterans Franco dachte; eine lässig episodische Comedy of Manners inmitten des brutalistisch bebauten Benidorm, an manchen Stellen gar ein Architekturessay zum südspanischen Nicht- und Sehnsuchtsort. // Analogkino – Harlan County, U.S.A. (1976) von Barbara Kopple (Zeughauskino, Berlin): Mir ging erst bei dieser Vorführung so richtig auf, dass man Kopples Film gut und gerne als Musikfilm begreifen kann; Folklore verbindet sich mit Politik, Sprach- mit Schnittrhythmus; der geglückte Versuch sinnlicher Agitprop; Which Side Are You On? Which Side Are You On? // DCPkino – Ein Schloss für alle (1997) von Rainer Komers (GEGENkino, Leipzig): Das Porträt einer Seniorenbegegnungsstätte im Mülheimer Stadtteil Styrum, dem «Tal der langen Messer», wie es andernorts zum ungläubigen Staunen vergnügt resoluter Rentner:innen geschimpft wird; ein grenzenlos warmherziges Film über Land und Leute, formal nicht Komers ambitioniertester, dafür sein Crowdpleaser. // Analogkino – Child’s Play (1988) von Tom Holland (Luru Kino, Leipzig): Minimal Art, Kino purer Suspense-Effizienz: Der Film lebt ganz von der Publikumsfrage, wann Chuckys Gesicht, das im Prolog Leben zeigte, sich abermals in Bewegung setzt, wann es seinen Dämon preisgibt; sobald dieser scheint, kennt der Film kein Halten mehr; ich wünschte, ich hätte ihn als Kind gesehen. // Analogkino – Eisensteins Mexico Film: Episodes for Study (1955) von Sergei Eisenstein & Jay Leyda (Arsenal, Berlin): Die Bearbeitung von Eisensteins legendär gescheitertem Mexikoprojekt durch den Filmhistoriker Jay Leyda ist dezidiert kein Versuch einer «vollständigen» Fassung, sondern eine Studienfassung; epische Länge, ich musste zum Zug, saß auf heißen Kohlen – und da schaut mich plötzlich Sergei im Outtake vom erhöhten Ruinenportal aus zum Abschied an. // Analogkino – Ronin (1998) von John Frankenheimer (Karacho, Nürnberg): Der Plot hauchdünn, die Inszenierung opulent: Einsame, herrenlose Krieger (eben die titelgebenden Ronin) schieben und ballern sich durch ein bewölktes Frankreich pittoresker Ladengeschäfte, enger Gassen und überfüllter Tourispots; sie suchen einen Koffer und den Sinn ihrer Existenz. // Analogkino – Stripped to Kill 2: Live Girls (1989) von Katt Shea (Pleasure Dome, Berlin): Die große Entdeckung der 1. Ausgabe von Pleasure Dome, eine 35mm-Genrekino-Reihe im ehrenamtlich betriebenen Filmrauschpalast Moabit, die ich mit Freund:innen seit Juni veranstalte: ein Mehr-80er-geht-nicht-Erotikthriller im Stripteasebarmilieu, der sich ganz der Traumlogik hingibt, ein blau-roter Fiebertraum, ohne eine Spur von Welt außerhalb seines Bildkaders. // Analogkino – Asyl (1985) von Friedrich Klütsch (Zeughauskino, Berlin): Nochmals «Sammelt Filme!», diesmal eine Auswahl von Filmen aus der Sammlung des Instituts für Medienwissenschaft Paderborn; Asyl trifft mich mit seinem gradlinigen Zorn wie ein Saless-Film; gespenstische SW-Bilder eines gefühlskalten Deutschlands, auf der Tonspur berichten Asylanwärter vom Leben. // DCPkino – Twilight of The Warriors: Walled In (2024) von Soi Cheang (Luru Kino, Leipzig): Pure Hongkong-Kinetik, die man heute kaum noch im Kino sehen kann; Actionmeister Cheang entführt uns in die Kowloon Walled City, HKs Stadt-in-der-Stadt der 80er; ein Film voller barocker Texturen und wüster Kicks, auch eine Allegorie auf die gegenwärtige Gefährdung HKs und den Widerstandsgeist seiner Bewohner:innen // Analogkino – «Balla Balla» Doppel (Schauburg Filmpalast, Gelsenkirchen): Mein Gelsenkirchen-Debüt; der «Geheimnisvolle Filmclub Buio Omega» hat zum geheimnisvollen 35mm-Double-Feature im altehrwürdigen 20er-Jahre-Kino geladen; über die gekrümmte Leinwand des Riesensaals zieht ein australisches Musical und ein US-Psychiatriethriller-B-Picture, im Anschluss Weihnachtsfeier-Charade; so herzlich wie hier wurde ich das ganze Jahr nicht empfangen – Komme wieder!
You are my destiny
They say that 2024 was a weak year in terms of cinematic achievements. But for me, that’s far from the truth. This year, I had the chance to watch at least two great films that will undoubtedly go down in history. Neither of these films won the top awards at the world’s greatest film festivals, yet they returned with consolation prizes. For the epic, three-hour-long The Brutalist by American director Brady Corbet, it was the Venice Silver Lion for Best Director. Meanwhile, the dazzling musical Emilia Perez earned the Cannes award for Best Ensemble Female Performance, given to all the actresses in the film.
At the end of the year, these films are catching up, competing in all major categories for the Golden Globes. And in the coming year, I believe, they are destined for the Oscar race.
The Brutalist, a film about the Hungarian architect László Tóth, who survived the Holocaust during World War II, is so monumental that it’s hard to write or speak about. Adrien Brody returns to the screen with a role comparable to The Pianist by Roman Polanski. He portrays a broken, drug-addicted, talented man who fled the Holocaust to America only to face the harsh realities of capitalism. This is a great film, mirroring the history of the 20th century with its humiliations and downfalls. It is a story about power in all its manifestations and how it cannot break the human spirit.
In The Brutalist, the artistic, social, political, religious, and sexual elements intertwine. It’s a film that stays with you long after the credits roll. As the year draws to a close, one melody continues to echo in my mind as the leitmotif of the entire story: «You are my destiny… That’s what you are.»
Emilia Perez is also rich in memorable musical numbers, and for an unprepared viewer who doesn’t know what to expect, it might come as a surprise when Zoe Saldana starts singing in the very first minutes of the film. She plays a lawyer hired by the head of a Mexican drug cartel to ensure the secrecy of his gender transition. In his new identity, the drug lord becomes the stunning Emilia Perez. However, he realizes he cannot imagine life without his children and hires the lawyer again to organize a new life for him.
No one expected such a breakthrough from 72-year-old Jacques Audiard. The Palme d’Or winner for Dheepan has essentially reinvented the musical genre, blending the unblendable – LGBTQ+ themes and drug cartels. The result is a legal musical thriller where romance coexists with violence, and revenge with mercy.
This year, instead of 10, I have 15 favorite films: The Brutalist (Brady Corbet), Emilia Perez (Jacques Audiard), A Complete Unknown (James Mangold), The Empire (Bruno Dumont), A Traveler’s Needs (Hong Sang-Soo), Scorched Earth (Thomas Arslan), In Limbo (Alina Maksimenko), Kinds of Kindness (Yórgos Lánthimos), Grand Tour (Miguel Gomes), The Apprentice (Ali Abbasi), Dear Beautiful Beloved (Juri Rechinsky), Veni Vedi Vici (Daniel Hoesl), The Sparrow in the Chimney (Ramon Zürcher), All We Imagine As Light (Payal Kapadia), Abiding Nowhere (Tsai Ming-liang)
Sattelzeit 2024 – Drei rote Fäden und drei Filme
1. Das Jahr getaucht in einen Vernichtungskrieg ohne Ende. Kriegsverbrechen, live gestreamed und ver-memed von ausübenden SoldatInnen. Dazu ein Echtzeit Info- und Bilderkrieg auch in Deutschland, betrieben von Groß-, Klein- und Staatsmedien, namhaften Beauftragten und fanatischen OpportunistInnen, sowie einem strategisch zurückhaltenden Rechtsextremismus. Die innere und äußere Militarisierung der Staatsräson brachte lange vorbereitete Umschuldungs-Allianzen zur Entfaltung, und ihnen gelang mindestens die Zerschlagung einer neuen postmigrantischen Protestbewegung, die gegen deutsche Zustände und internationale Auswirkungen auf die Straße ging. Die Folgen sind zuviele, um sie zu nennen, vielleicht reicht das hier: es war das Jahr, in dem Viele ein auswendiggelerntes «Gegen jeden Faschismus» oder «Kritische Theorie»-Vokabular zur Denunziationsmaschine umbauten, um sie gegen Neukölln, die Vereinten Nationen oder Nan Goldin zu richten. Das gelang mit für mich überraschender Leichtigkeit, Diskussionen dazu finden mehrheitlich in privaten Chats statt. Im Ganzen entstand das Gefühl, einer großen Drehung der innerdeutschen oder internationalen Stellschrauben beigewohnt zu haben. Dazu dreimal Judgment at Nuremberg (Stanley Kramer, 1961) auf Amazon geguckt, um zu verstehen, wie der deutsche Fanatismus weniger in dokumentarischen Beweisbildern der Gräuel, sondern vor allem im anklagenden Reenactment (Maximilian Schell) sichtbar wird.
2. In 2024 hat die Memefizierung der Politik einen Sättigungsgrad erreicht – der berechenbare Höhepunkt die allseitige Meme-Explosion, die US-Wahl genannt wurde. Wir schauten jede Trump-Rally und screenshotteten jede Unglaublichkeit, denn die US-Politik war – wieder und wahrscheinlich zum vorerst letzten Mal – the best sideshow in town. Im Dezember noch hat sich Trump in Gladiatorenpose gepostet und gefragt «Are you not entertained?» Natürlich, und derzeit beginnen die Flügelkämpfe, während ich und viele andere sich fragen, was bedeuten «mass deportations» im Land der MigrantInnen? Die Frage von Jesse Plemons in Civil War (Alex Garland, 2024) war das Meme, das zu diesem vibe shift passte – «What type of American are you?» (rote Brille, Gewehr im Anschlag, Massengrab im Hintergrund). Pünktlich zum Jahresabschluss diskutieren die schlimmsten Menner der US-Öffentlichkeit genau diese Frage auf X.com.
3. Zuletzt die zwanglose Etablierung der AfD durch clickorientierte Infamie: Die Correctiv-Recherche im Januar mit angeschlossener Demo-Foto-Op war so erfolgreich, dass nicht nur alle Landtagswahlen erfolgreich abgeschlossen wurden und die CDU alle Programmpunkte übernahm, sondern Elon Musk noch im Dezember seine Wahlempfehlung in der WELT publizieren kann. Was da zu sehen war, erinnert an den gar nicht schlechten Wicked (Jon Chu, 2024): der Film zeigt das farbenfrohe Kennenlernen von Mainstream-Witch und Außenseiter-Hexe, als Rückblick vom bereits vollendetem Tod der einen und der Korruption der anderen aus erzählt. Die ZuschauerInnen wissen, wer auf wessen Leiche weiterlächelt und -singt, und auch jetzt weiß man: das mehrheitsdeutsche Ausweich-, Abwehr- und Kooptierungsdrama mit der Faschisierung spielt in einer Sackgasse, die nur einen Ausgang hat. Dazu passend wurde ich informiert, dass die Rechtsextremismusforschung der AfD keine Angriffsflächen bieten sollte, was ich schlicht mit «Es ist Sattelzeit» übersetze.
das bleibt vom jahr 2024: ein film, ein buch.
der film, gesehen im arsenal: jalsaghar / das musikzimmer / the music room / le salon de musique von satyajit ray s/w 1958
frieda grafe schreibt in “«was den elefanten tanzen läßt. satyajit ray. zur retrospektive der viennale 1999«:
«kunst, im ursprung opfer, war immer luxus, unproduktive verausgabung, verdrängung von realem leiden – aus ihr eine besondere art von erkenntnis zu machen, könnte sehr wohl der vorstellung entspringen, daß es nutzloses nicht geben darf. der zamidar, der ruinierte feudalherr in jalsaghar, hat seinen ehemals fabulösen reichtum verspielt mit seiner leidenschaft für prächtige musikveranstaltungen.
mach keinen unsinn, ermahnt der radscha seinen scheidenden sohn, und mit densel-ben worten scheidet auch die ehefrau von ihrem gemahl. der, kaum hat sie den rücken gekehrt, die letzten juwelen umsetzt in eine großartige musiksoirée.
der reich gewordene geldverleihersohn hat, um seinen gesellschaftlichen status dazu-tun und zu zeigen, daß auch er ein herr ist, sich ebenfalls einen musikalon eingerichtet. nur, was sein geld ihm nicht erlaubt zu kaufen, ist das vergnügen, das aus kennenschaft rührt. ratlos sitzt er unter den verzückten anderen teilnehmern, die bei bestimmten tournüren des sänger oder der tänzerin verständnissinnige blicke tauschen. der fast blinde, hochherrschaftliche spiegel, der die festversammlung vage zurückwirft und die kunstveranstaltung wie in einen schoß eingebettet erscheinen läßt, macht aus ihm, trotz seines sehr indischen aussehens und gehabes, die verkörperung unserer westlichen ignoranz.
der zamidar reitet zum schluß, benebelt vom ‘lärm des lichts’ und von unmäßigem hennessy-konsum, makellos weiß gekleidet, auf einem weißen pferd gegen die aufgehende sonne in den tod. als ob das licht der eigentliche feind der von ihm geliebten kunst wäre.»
in der totale, die auch den in den tod reitenden glamourös ausstaffierten zamidar umfaßt, im hintergrund, ein elefant.
wohl die erscheinung des elefantengotts ganesh in einer mir unvergißbaren letzten einstellung.
das buch: niemals wieder ist eine insel weiter weg gewesen von elisabeth schlebrügge.
prosa 2024
zum buch, der klappentext:
«[es ist] der titel eines films, gemeinsam mit kurt mayer, erkundungsfahrt im echoraum des mittelmeers, recherche, was ins blickfeld gerät an den rändern, im schleppnetz verschiedene texte, aus verschiedenen zeitschichten, die dem film vorausgehen, ihn antreiben und begleiten, umkreisen; manche eingang gefunden, manche ein nachhall, oder sich öffnend in neue projekte. hier, keiner anderen ordnung unterworfen als der des alphabets.«
und hier, beispielhaft: das prosa stück zavorra:
«zavorra: ballast; das überflüssige, das man nicht eleminieren kann; oder auch das gewicht, das das schiff sichert; seine lage im wasser.
schiffsbauch, mit sand und steinen gefüllt, die griechen haben es so gemacht und diomedes die zerbrochenen mauern von troja dafür verwendet.*
sich wehren gegen die aufbewahrungspflicht und den erinnerungszwang; wie fest die gegenstände verlötet sind mit den wörtern.
aufräumungsarbeiten, die zweifel, skrupel, ob man berechtigt ist, dinge wegzuwerfen, sich ihrer zu entäußern, eine erinnerungsspur zu kappen. schatzkisten fremder erinnerungen, angeschwemmt - ob es ein sakrileg ist, die erinnerung an die erinnerung der anderen zu veruntreuen.»
*arrigo bocchi, cenni intorno alla natutica degli antica, venezia 1837
diese, zu gleicher zeit luxurierende wie ‹to-the-› prosa, verfaszt in einer eigenen schreibweise, toll interpunktiert vom semikolon – ein wunderwerk der sprache.
Was vom Jahr bleibt sind Wände. Bis zu diesem Frühjahr sind mir Wände nie besonders aufgefallen. Sie waren weiß oder nicht, gerade oder nicht und in der Regel haben sie Räume umgeben, die letztlich doch meist interessanter waren als die Wände drumherum. Dann hat die beste Person der Welt beschlossen, dass das neue Zimmer ja vielleicht Lehmputz haben könnte und dass ich ein idealer Bauhelfer sei. Und so war zwei Wochen lang im April die wichtigste Frage, mit der ich mich beschäftigt habe, ob dieser Übergang zwischen zwei Schichten nicht noch ein bisschen glatter geht und wie weit jener Grat schon angetrocknet ist. Quasi Wand-Zen. Seither ertappe ich mich bisweilen dabei, über Wände zu streichen und (hoffentlich nur innerlich) wohlgefällig zu nicken oder unerfreut die Hand zurückzuziehen. Manchmal auch zu überlegen, was sich an dieser oder jener Wand noch machen ließe.
Angesichts dieser neu gewonnenen Wand-Liebe ist es nicht immer leicht, den überbordenden Möglichkeiten metaphorischer Verwendung zu widerstehen. Um nur ein mögliches Beispiel zu wählen: die Wand der Einhelligkeit, die Carlo Chatrians Abgang bei der Berlinale Anfang des Jahres begleitete, erschrickt mich bis heute.
Doch zurück zu konkreten Wänden: Ein paar Wochen bevor dieser Text entsteht, hieß es Abschied nehmen von vier Wänden (eigentlich sieben, wenn man den Projektionsraum mitdenkt), die mir über die Jahre lieb geworden waren: die rot bespannten Wände des kleinen Arsenalkino, der 2. Im Vorfeld fiel mir – während ich eine Deadline nach der anderen verpasste, um für die sozialen Medien des Arsenal einen Text über meine Erinnerungen an das aktuelle Kino zu schreiben als damals noch vorweg genommene Historisierung – auf, dass sich die wichtigsten Momente eigentlich hier ereigneten: Erika Richters Werkschau mit den Filmen von Ulrich Weiß, Cecilia Mangini im Rahmen der Reihe, die Cecilia Valenti, Serena Barela und ich organisiert hatten und bei der ich hoffnungslos hektisch frisch übersetzte Untertitel einklickte, oft genug ohne Aussicht, den Film je wieder einzuholen, ein Kurzfilmprogramm von Karola Gramann und Heide Schlüpmann, das mir Kenneth Angers lüsternen Autooberflächenfilm Kustom Kar Kommando das erste Mal auf der Leinwand geschenkt hat. Anders als das große Kino wird das kleine nach dem Umzug in den Wedding nicht wieder auferstehen. Es wird fehlen dieses Kino, in dem man sich ohne Mikrofon unterhalten kann, in dem kleinere Formate strahlen können, das sich immer ein wenig nach Sichtung mit unbekannten Mitstreiter_innen anfühlte als nach Kinoglamour.
Das Kinojahr? Gefühlt vor allem schnell vorbei. Sehr schön wars bei Niels, Carmen, Wolfram und Sebastian vom Dokka in Karlsruhe in einer tollen Jury mit Gereon Wetzel und Lydia Heller. Ich habe selten so viel gelernt. Ansonsten: Averroès & Rosa Parks (Nicolas Philibert) // Berlin, Bahnhof Friedrichstrasse 1990 (Konstanze Binder, Lilly Grote, Ulrike Herdin, Julia Kunert) // Charulata (Satyajit Ray) // La chimera (Alice Rohrwacher) // Critical Zone (Ali Ahmadzadeh) // Goldrausch – Die Geschichte der Treuhand (Thomas Plenert) // Hinter den Farben (Julia Groteclaes) // In Public (Jia Zhang-ke) // Landschaft und Wahn (Nicole Vögele) // Lizzy (Susanna Wallin) // Mond (Kurdwin Ayub) // Omen (Baloji) // Robert (Takashi Kunimoto) // Salvatore Giuliano (Francesco Rosi) // Star Trek: Lower Decks (Mike McMahan) // Der Tod wird kommen (Christoph Hochhäusler)
Es bleibt das Letzte: Robert Eggers Nosferatu-Remake auf 35mm am sogenannten Heiligen Abend im New Beverly Cinema. Im Zeitalter der kinematischen Vorgeschichte hat endlich auch Ellen an Kontur gewonnen, sei es auch nur deshalb, weil ihr Begehren ein Jahrhundert nach Murnau nun biografisch verankert wird, und nicht etwa, weil sie an Handlungsfähigkeit gewonnen hätte. So manche Details, die mir bei Murnau schon immer unklar gewesen waren, klären sich in Eggers Interpretation: Wie genau Herr Knock aus seiner Zelle entkommt beispielsweise, was genau er mit dem Wärter anstellt. Andere Feinheiten werden nicht wieder aufgegriffen. Von Murnaus verblüffenden Spezialeffekten – die Kutsche im Zeitraffer; die sich wie von selbst stapelnden Särge; Orlok, der durch Türen und Wände geht, im rechten Winkel aus seinem Sarg aufsteht – bleibt allein die Schattenhand des Vampirs. Schön wäre es gewesen zu sehen, wie ein Regisseur im digitalen Zeitalter mit solch primitiven und dennoch effektiven Tricks umgeht. Andere narrative und visuelle Eigenheiten bei Murnau, die sich unweigerlich eingeprägt haben (jene Hyäne, die ein Wolf sein soll; der moderne Städter Hutter, der sich in seinem transsilvanischen Herbergszimmer über die religiösen Eigenheiten der Einheimischen amüsiert; der Kapitän, der sich am Steuer festbindet), verschwinden ersatzlos und reißen Löcher vor allem auch deshalb, weil überhastet hinzugefügte Handlungselemente (eine Horde von Vampirjägern, die Orlok anscheinend eine junge Frau opfern; Friedrich als verzweifelnder Rationalist; die Freundschaft zwischen Anna und Ellen; Willem Dafoes vom Wissen und von der Vernunft abgefallener ehemaliger Universitätsprofessor; Ellens und Orloks gemeinsame Vergangenheit, die bis in Ellens Kindheit zurückzureichen scheint) mehr Fragen hinterlassen als etwas erklären. Orlok selbst, dessen deutlich sichtbare Gestalt bei Murnau durchweg für den größten Schrecken sorgt, ist bei Eggers bis zum Finale allenfalls als Schatten präsent und macht so richtige Angst auch deshalb niemandem – erst recht nicht mit struppigem Schnurrbart. Gut anzuschauen, auch unterhaltsam ist das alles in Ansätzen durchaus, und ohne Murnaus Original als Vergleichsmaterial könnte dieser Nosferatu sogar glänzen. Hätte ein Weihnachtsfilm jedoch, der die Wissenschaft („Real people are dying out there!“) bewusst gegen Aberglauben und Sinnlichkeit („I am an appetite, nothing more!“) ausspielt und letztlich auch Dafoes Hexenmeister zwar viel Aufwand betreiben und dennoch nichts erreichen lässt, von einem derart schrecklichen Jahr bleiben dürfen? Auf keinen Fall.
SO VIEL VON MIR zeichnet sich durch einen lakonischen Humor aus, der zu einer wunderbar-vielschichtigen Meta-Komödie über das Leben und die Kunst führt. Der Briefwechsel mit einer Schriftstellerin bringt einen kurzen Film hervor, der unvorhersehbare Haken schlägt. Eva Könnemann überlässt sich dem Zufall und formt daraus einen Essay, der die Herausforderungen, Mutter zu sein und Filmemacherin zu bleiben, beschreibt.
Zwei ineinander verschlungene Körper atmen schwer. Die beiden jungen Männer streicheln einander, während sie im Weltraum zu schweben scheinen… doch diese Weite entpuppt sich als enger Tunnel einer unterirdischen Kohlemine. Truong Minh Quys dritter Spielfilm VIET AND NAM wurde in seinem Heimatland verboten. Der Film bietet ein tiefgründiges 16-mm-Panorama des jungen, wirtschaftlich benachteiligten und queeren Lebens im Vietnam der Nachkriegszeit. Viet (Duy Bao Dinh Dao) und Nam (Thanh Hai Pham) verkörpern die ineinander verliebten Bergarbeiter, die von einem anderen Leben träumen und versuchen, die Kriegstraumata in ihren Familien zu überwinden. Auf feinfühlige, intime Weise vermisst der Film eine historische, sozioökonomische Landschaft, in der sich zwei Liebende aneinander festhalten müssen, um nicht fortgerissen zu werden.
FRAGMENTS OF ICE besteht aus privaten Videoaufnahmen eines Vaters, der zu Sowjetzeiten als Eiskunstläufer mit dem ukrainischen «Ballett auf Eis» um die Welt reiste. Der Film endet mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022. «Das Ende der Geschichte hat nie stattgefunden», fasst Filmemacherin Maria Stoianova treffend zusammen: «Sie ist eingefroren und holt uns erst Jahre später wieder ein.» FRAGMENTS OF ICE gelingt es, die komplexen Verflechtungen der ukrainischen Geschichte zu entfalten. Der Film bringt uns Menschen aus der Ukraine näher und fordert uns auf, sie in ihrem Wunsch nach freier Entfaltung zu unterstützen.
MISÉRICORDE (Barmherzigkeit) geht über die Frage der Vergebung hinaus, der Film verkörpert eine Idee von Empathie und Verständnis für andere, die moralische Grenzen überschreitet. Dabei ist das Werk leichtfüßig und komisch wie ein Boulevardstück. Inspiriert war Alain Guiraudie – die Geschichte des Films ist ein Ausschnitt aus seinem Roman Rabalaïre – von der griechischen Tragödie. Anlässlich der Beerdigung seines Bäckermeisters besucht Jérémie dessen Frau. Er bringt den Sohn um und nimmt den Platz des Vaters ein. Ähnlich wie beim Ödipuskomplex. In Guiraudies Filmen schlafen immer alle miteinander, im Gegensatz zum wirklichen Leben, in dem keiner mehr miteinander schläft. Explizite Sexszenen wie in Guiraudies L’INCONNU DU LAC von 2013 sucht man hier allerdings vergeblich (bis auf eine kurze Szene, in der man wohl mit dem schönsten Ständer der Filmgeschichte belohnt wird). Claire Mathon führte die Kamera, und die Klarheit der Auflösung erinnert an ihre letzten Arbeiten bei Sciammas PORTRAIT DE LA JEUNE FILLE EN FEU oder Diops SAINT OMER. Die Entscheidung, das Begehren in den Blicken zu lassen, führt dazu, dass Zuschauer:innen sich fragen, wer hier eigentlich wen ersehnt.
Kohlestift
Nach der Hightech-Diaspora im Outer Space des Deutschen Pavillons, in dem Kabbala und teutonische Ästhetik durch Yael Bartana so irre ineinander verwoben wurden, gab es bei William Kentridge Handgemachtes, Kohlezeichnungen, animiert – oder bloß ruhig auf dem Papier. Wir hatten es erst am späten Nachmittag ins Kentridge-Screening geschafft, in diesen kleinen Galerieraum an der Lagune, der dafür während der Venedig Biennale mit Objekten aus dem Kentridge Atelier ausgestaltet worden war. Neun halbstündige Einheiten, begonnen während der Coronakrise, in denen der Künstler seinen kreativen Prozess spielerisch nach außen stülpt. Stalins Terror, das kurze Freispiel der russischen Avantgarden, eigenes Älterwerden, Kindheitserinnerungen und ihre Verbindung mit der Unrechtsgeschichte Südafrikas, alles moderiert, diskutiert, erstritten von dem sich selbst immer weiter vervielfältigenden Künstlerego im Inside-Out-Modus. Die freundliche Nachricht nach dem Ende der Vorführung war, dass alle versäumten Teile auf MUBI nachgestreamt werden können: SELF-PORTRAIT AS A COFFEE-POT.
Leichentuch
Gewinner meines Guilty-Pleasure-Contests: THE SHROUDS, mit Cronenberg-Look-a-like Vincent Cassel, der mutiplen Diane Kruger und schaurig-schönen, MRT-fähigen Leichentüchern. Auf dem digitalen Friedhof eines Industriefilmers gestatten die Shrouds den Angehörigen, sich jederzeit Schicht für Schicht durch die damit umhüllten, verwesenden Leichname ihrer Liebsten zu scannen. Trauern heißt hier, sich Wiederholungen, sezierenden Blicken auszusetzen, aber auch: wortreiche Paranoia, absurde Plotwendungen und ein abruptes Filmende, das daran erinnert (und auch betrauern lässt), dass dieses Werk die Pilotfolge einer gecancelten TV-Serie bleiben wird, die sich – auf Cronenbergsche Art – nationalen Begräbniskulturen widmen wollte.
Perlhuhn
Vielleicht hat ON BECOMING A GUINEA FOWL als Nachdenken über die möglichen Wege, in denen das Trauma sexueller Gewalt eine angemessene Symbolisierung erfahren kann, bei mir auch eine professionelle Resonanz ausgelöst. Aber die zairisch-britische Regisseurin Rungano Nyoni ist eine Meisterin des Hybriden, ständig öffnet sie in ihrem Film neue Ebenen, lässt Susan Chardy aus der futuristischen Glitzermaske zurück in die archaisch strukturierte Welt ihrer Großfamilie schlüpfen, in der sich der Ältestenrat der Frauen in die heimlichsten Zimmer drängt, um zuzuhören und zu sprechen, aber auch neue atavistische Kriege auszufechten. Wer kann noch sagen, Herr:in im eigenen Haus zu sein?