30. Dezember 2018
Was vom Jahr bleibt 2018
Marie-Luise Angerer
Real Gestures
Hände überall – angefangen bei der Berlinale bis zur Ausstellung Throwing Gestures in Bethanien im Dezember dieses Jahres: Hände, Hände, Hände – berührend, protestierend, gestikulierend, unsicher, sinnlich oder im wahrsten Sinne ‹unter der Haut›.
Da sind die großen (übergroßen) Hände von Waldheim, wie sie in Ruth Beckermanns Waldheims Walzer (2018) immer wieder (riesig) im Bild zu sehen sind, und ich frage mich: Kamen diese mir damals, als er Bundespräsident in Österreich war, auch schon so unerträglich groß vor? Dann sind da die therapeutischen Hände in Touch Me Not von Adina Pintilie. Ein anderes unerträgliches Berührt-Sein. Die großen Hände der Karl-Böhm-Puppe im Stück Böhm von und mit Nikolaus Habjan während der Bregenzer Festspiele. Marionettenhände im konkreten Sinn. Hände als Fäuste mit Smartphones in Fauda (israelische TV-Serie, auf Netflix), Hände, die die Mimik der Frauengesichter einmal mehr unterstreichen, in dem sie ständig den Hidschab in Al Hayba (einer arabisch-libanesisch-syrischen TV-Serie, die auch auf Netflix läuft) festhalten, zurechtrücken, und schließlich Hände zum Protest erhoben, fuck you, in Roma Armee von Yael Ronen im Gorki – ja und dann noch die Hände, die zu Ästen von Bäumen werden in Annihilation (dt. Auslöschung) nach dem Roman von Jeff VanderMeer. In Annihilation, dem Film (von Alex Garland, 2018), werden diejenigen, die in den Shimmer, einer aus ungeklärten Gründen gefährlichen Zone, eintreten, körperlich mit ihrer Umgebung gekreuzt, d.h. Bäume werden menschenähnlich, Menschen werden zu Bäumen, eben Arme zu Ästen, die unter der Haut wie Venen und Adern durchschimmern. Von den Händen und dem Mittelmeer will ich nicht reden......nicht von den Arbeiten von Forensic Architecture, die ausweglos beklemmend in Palermo bei der Manifesta zu sehen waren ... berührt werden, unberührt bleiben, ohnmächtig und eingekapselt in Berührungs- und Bewegungslosigkeit.
Zu viele Hände – zu viele Gesten: zu viele Bedeutungen, zu viel lose Enden. Beim Nachdenken über all diese verschiedenen Hände, die ich in diesem Jahr wahrgenommen habe, ob im Film, im Theater, auf TV-Bildern oder in Ausstellungen, ist mir durch den Kopf gegangen, dass man nicht nur Politik, nicht nur Bilder performativ erklären kann, sondern Ideologie als solche möglicherweise nochmals anders in diese einschreiben müsste.
Nach Althusser ist Ideologie konstitutiv für die Herstellung von Realität. Ideologie, schreibt er, sei nicht ein schemenhaftes Abbild einer vorgegebenen, außerhalb des Subjekts existierenden Welt, sondern ein kreatives, ein produktives Element, das diese bedeutungsvolle Welt erst hervorbringe. Ideologie sei – so seine berühmt gewordene Definition – das «imaginäre Verhältnis der Individuen zu ihren realen Lebensbedingungen». Vor dem Hintergrund der Hände meines Jahres 2018 (filmische Hände, Theaterhände, Polithände und viele andere Hände) würde ich etwas Anderes vorschlagen wollen: dieses imaginäre durch ein gestisches Verhältnis zu den realen Lebensbedingungen zu setzen. Denn diese Hände reden immer mit, sagen immer schon mehr und greifen zuvor schon in das ein, was wir als Realität erfahren.
Es war ein handgreifliches Jahr.
Sven Beckstette
Die politischen Auseinandersetzungen der Zeit schlagen sich einmal mehr in den Künsten und nicht zuletzt in der Musik nieder. Einige Beispiele: In England legt die Gruppe Sons of Kemet mit Your Queen is a Reptile ein Jazz-Album vor, in dem die diasporische Tradition des Black Atlantic gegen Nationalismus und männlich-weiße Geschichtsschreibung in Stellung gebracht wird. Aus dem Geist des Woman's March on Washington 2017 entspringt die feministische Hymne Pynk aus dem Album Dirty Computer von Janelle Monáe. Und Neneh Cherrys Platte Broken Politics trägt ihre Haltung bereits im Titel mit sich. Im Feld der Musikvideos sorgen vor allem drei Beiträge für Diskussionsstoff: Im Mai veröffentlicht Donald Glover aka Childish Gambino This is America, in dem alltäglicher Rassismus und strukturelle Gewalt in einem selbstzerstörerischen, afro-surrealistischen Albtraum übertragen werden, aus dem es kein entrinnen zu geben scheint. Eko Fresh und Samy Deluxe verwandeln in Aber den Schlagabtausch zwischen einem Rechtspopulisten und einem deutsch-türkischen Erdoğan-Anhänger in einen Battle-Rap, an dessen Ende Fresh die Vorurteile beider Positionen angesichts einer hybriden Identitätserfahrung als realitätsfern entlarvt. Im ÖVP/FPÖ-regierten Österreich eignet sich Hyäne Fischer mit Im Rausch der Zeit altbackene Heimatklischees und sexualisierte Weiblichkeitsvorstellungen an und wendet sie auf subversive Weise gegen sich selbst.
Am 16. August 2018 verstarb Aretha Franklin. Auch wenn ich einige Platten der Queen of Soul besitze, fiel mir beim erneuten Durchhören auf, dass ich mich mit ihrem Werk noch nie wirklich eingehend beschäftigt habe. Vor allem zwei Aufnahmen machen meiner Meinung die Größe von Franklin deutlich: Das Konzert-Album Aretha Live in Fillmore West von 1971 gibt es als Doppel-CD und ist ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Bühnenqualität: Schon der Anfang, eine voll hochgedrehte Version von Respect, ist maximale Beschleunigung aus dem Stand heraus. Auf der Höhe ihrer Kunst erweist sie sich in Dr. Feelgood: Wie sie hier Gospel, Rhythm'n'Blues und Funk miteinander verbindet, den Groove unterschwellig kontrolliert am Laufen hält, um das ganze dann explosiv in Spirit in the Dark zu entladen – das konnten nur James Brown, Curtis Mayfield, Donny Hathaway und Prince so intensiv und schaffen heute allein Erykah Badu, Raphael Saadiq und D'Angelo.
Noch intensiver ist nur ihr Album Amazing Grace, Franklins erfolgreichste Platte, mit der sie zu ihren Gospelwurzeln zurückkehrte. Auch diese Aufnahme ist als Doppel-CD erschienen, die beide Mitschnitte ihrer Auftritte 1972 in der New Temple Missionary Baptist Church in Los Angeles komplett enthält. Hier zeigt sich: Die Stücke sind eigentlich nur Anlässe für gesangliche Improvisationen von Franklin, die sie im Zusammenspiel mit dem Chor im Moment entwickelt. Die Konzerte wurden von Sydney Pollack auch mit der Kamera aufgenommen. Wegen technischer und rechtlicher Probleme ruhte der Film lange im Archiv. Es scheint, dass das Dokument nun endlich herauskommt.
Und noch kurz: Meine Lieblingsplatte 2018 haben Jean Grae und Quelle Chris mit Everything's Fine vorgelegt.
Johannes Bennke
Mein intensivstes Filmerlebnis in diesem Jahr hätte ich beinahe verpasst. Am Abend einer Konferenz zur Dokumentarfilmphilosophie in Tel Aviv verlor ich, Frischluft suchend, die Gruppe aus den Augen und stand mit einem Mal orientierungslos da, bis mich im labyrinthischen Gebäude zwei Teilnehmerinnen auflasen und im Auto durch den chaotischen Verkehr zum Festivalgebäude navigierten. Im bereits sich verdunkelnden Kinosaal ein Gesicht: Mrs. Fang von Wang Bing. Bereits im Buch The Vegetarian der südkoreanischen Schriftstellerin Han Kang stand eine Art weibliche Bartleby-Figur im Zentrum. In der sterbenden Mrs. Fang lebte eine solche nun filmisch auf. Etwas kopflos und konflikthaft kreist der Familientrubel um das sterbende Zentrum des Films – das ewig sich der Zustandsausdeutung entziehende Gesicht der Mutter, Schwester, Oma. Ein orbitaler Film, einer emotionalen Gravitationslogik folgend. Ganz anders eher zentrifugal eine Performance von Xavier Le Roy im Martin-Gropius-Bau, der das Publikum herausforderte, die gemeinsame Zeit mitzugestalten.
Joana Pimenta`s & Adirley Quierós’ afro-brasilianisch-futuristischer Once there was Brasilia auf dem NYFF ist vielleicht produktionsästhetisch und narrativ etwas überambitioniert (kooperatives Filmemachen im Dienste von Zeitreise, Revolution, Agententhriller und paralleler Realität), aber als B-ethno-movie nimmt er Korruption und den grassierenden Faschismus in den Blick und ruft die Science-Fiction als metaphysisch-politische Widerstandssphäre auf. Erlebnisse eines Jahres zu bilanzieren, hat etwas Gedrängtes. Das aufzurufen, was sich sonst spontan – nach Art eines pathos – einstellt, muss hier etwas erratisch bleiben: Sebastião Salgados fotografische Hommage an das Leben nach Genozid, Krieg und Elend. James Benning´s übermalte Malereien. Stefan Kindermann´s passionierte (Film-)Analysen zur Schach-WM auf SZ-online. Kino- und Ausstellungsbesuche mit meinem Sohn.
Madeleine Bernstorff
Film ausstellen in Großzügigkeit, in der klugen Gestaltung von Eran Schaerf: Fluchtlinien und Fluchtpunkte, Räume in Räumen – niemals sind die Wände parallel: Die Günter Peter Straschek-Ausstellung im Museum Ludwig in Köln. Strascheks fünfteilige Serie zur Filmemigration, die noch auf mindestens eine Kinovorführung hier in Berlin wartet.
Cem Kaya’s hinreissende Clipshow, der Videoschnipselabend: wie das türkische Yesilçam Kino die Arbeitsmigration nach Deutschland betrachtet (hat) im Zeughauskino. Dieser heisse, freundschaftliche Sommer und die vielen Filme mit Peter Lorre: er spielt eine verdächtige prekäre dubiose zwielichtige transnationale Figur nach der anderen, von grandioser Präsenz allesamt. Und seine Stimme. DU HAUT EN BAS (G.W. Pabst) nach dem Drehbuch von Anna Gmeyner wieder zu sehen, ein feministischer Film von 1933, über Exilabstiege und Klassenfragen. Peter Lorre gibt den Bettler, dem die freundliche Hinterhofgeigerin die Hose zerreißt, damit er in seiner momentanen Profession besser reüssiere, worauf eine arme Schneiderin ihm diese Hose wieder repariert. Mit einem unglaublich leuchtend fragilen Lorre-Gesichtausdruck taucht er hinter dem Paravent auf, sieht und hört was geschieht, hangelt nach der großen Schere, zerschneidet nun seine Jacke und eilt davon. (In der von Frederik Lang bestellten Filmreihe im Zeughauskino)
Überhaupt verspüre ich jetzt in dieser Zeit einen besonderen Sog Hollywoods Antinazifilme anzusehen. Die staatsinneren Abgründe hinter dem NSU-Komplex verbinden sich in einer verstörenden Unschärfe mit diesen Filmen, in denen Exilschauspieler Nazis spielen, deutsch sprechen. In ALL THROUGH THE NIGHT (1942) ist der dramaturgische Auslöser, der Bogart und seine kleinkriminellen Wettbürokumpane auf die Spur der Nazi-Fünften-Kolonne bringt, ein mittelmässiger Käsekuchen.
Wochenlang gute Laune nach den vielen vollen Kinos in Bologna. John M. Stahls IMITATION OF LIFE (1934) mit der schwarzen Schauspielerin/Aktivistin Fredie Washington in Bologna. (Morgens um 9 im komplett gefüllten Arlecchino-Kino). Fannie Hurst, die Autorin der Romanvorlage hatte Zora Neale Hurston in die Südstaaten begleitet, als diese dort ihre kurzen ethnographischen Filme drehte. Auf Grund dieser zugespitzten Segregations-Erfahrungen schrieb Hurst den Roman. Bitterer konservativer Anti-Rassismus?
Die Studentin in Wien, die während ihres begeisterten Seminar-Referats zu Forugh Farrokhzads DAS HAUS IST SCHWARZ / KHANEH SIAH AST (1963) Gedichte von Farrokhzad auf die gegenüberliegende Hauswand projiziert.
Ludger Blanke
Eines der dann doch bemerkenswerten Ereignisse dieses im Vergleich so ereignisarmen Jahres war die Pressevorführung des Films Aus einem Jahr der Nichtereignisse von Ann Carolin Renninger und Rene Frölke im Mai morgens um 10 im Kino des Soho-House in Berlin. Draussen, wenn ich mich recht erinnere, einer der letzten Tage mit schlechtem Wetter, am nächsten Tag begann der endlose Sommer. Der Vorführraum die Treppe runter ein sehr gemütlicher, warmer, plüschiger, weinroter Uterus, in dem dann, nachdem es dunkel wurde, das flickernde Porträt eines alten Bauern über die Jahreszeiten alleine auf einem viel zu großen Hof irgendwo in Schleswig-Holstein für die nächsten 80 Minuten auf der Leinwand lief, geklebt aus verschiedenen Materialien, der Ton ähnlich zart, wackelig und unvorhersehbar wie das Bild – erinnernd an ein paar Sachen von Jonas Mekas, aber im Vergleich viel, viel besser. Denn Zeit, nicht nur das Vergehen davon, sondern auch dieser metaphysische Begriff als Gegenstand wird sichtbar und erfahrbar, wie ich es noch in keinem anderen Film gesehen habe.
Aber ein Nichtereignis kann ja dann entweder der Flügelschlag eines Schmetterlings irgendwo sein oder ein Sack Reis, der vielleicht in der türkischen Botschaft in London umfällt oder als T-Shirt übergeben wird. Diese Sache hätte gerne das Nichtereignis bleiben dürfen, das es war.
Andere, echte Nichtereignisse diesen Jahres: Hans-Georg Maaßen, Friedrich Merz und die Titelverteidigung der deutschen Männer-Fussball-Nationalmannschaft bei der WM in Russia, in Folge eben auch dieser Sache in London. Und gerade im Moment dieser ominöse Claas Relotius, von dem (Stand 27.12.2018) noch niemand genau weiss, ob er überhaupt existiert: zu ausgedacht und unglaubwürdig kommt einem alles vor, schon der Name wie aus einer Geschichte von E.T.A. Hoffmann, und was man so über seine angeblich erfundenen Geschichten hört, die zwar in meiner Welt niemand gelesen hat, woanders aber tatsächlich von jemandem geschrieben, gedruckt und sogar mit Preisen ausgezeichnet zu sein scheinen – die, da sie inzwischen wieder zurückgegeben oder aberkannt wurden, dann aber eben doch wieder nicht existieren. Genau so wenig wie Chris Dercon noch an der Berliner Volksbühne (stattdessen: Leander Haussmann, das haben wir jetzt davon!). Die Volksbühne ist auch so ein Fall: ausgerechnet in dieser inzwischen nur für einen Schmetterlingsflügelschlag existiert habenden Ära Dercon habe ich dort so viele geglückte Theaterabende gesehen, wie vorher schon lange nicht mehr: Albert Serra, Weerasethakul, Susanne Kennedy. Die 3 Milliarden Schwestern von Bonn Park vor 2 Wochen zähle ich einfach auch noch dazu.
Am besten, man stolpert über ein paar Dinge, die auf dem Boden herumliegen, ohne daß man groß danach sucht. Und hebt sie dann auf. Und überzeugt sich dann davon, daß es sie wirklich gibt. So ging es mir am Beginn des Jahres mit einer unvorhergesehen Reise nach Indien, wo ich nie hinwollte, fast vergessen hatte, mir ein Visum zu besorgen und wo ich, ohne daß es mein Plan gewesen wäre, von zwei Gurus gesegnet wurde – allerdings auch ohne daß dies weitere Ereignisse unmittelbar nach sich gezogen hätte. Immerhin habe ich mal in der Ferne Delphine springen gesehen, wobei, das war schon vor den Gurus. Und waren das wirklich Delphine? Und in dem Hotel in dem ich 2 Wochen lang hängengeblieben bin, befand sich eine zurückgezogene zwielichtige Type, die mit niemanden sprach, von dem die anderen behaupteten, er sei Ukrainer und arbeite an Übersetzungen… wohingegen ich bald zu der Überzeugung gelangte, er sei Russe und betreibe nachts auf dem Laptop in seinem Zimmer im Auftrag Putins vom Süden Indiens aus den Sturz westlicher Demokratien. Oder die Erosion der Begriffe von wahr und falsch. Womit man sich halt beschäftigt, in einem Jahr der Nichtereignisse.
Über was ich gestolpert bin und was ich hochgehoben habe: Kulenkampfs Schuhe von Regina Schilling, Call me by your Name als guilty pleasure, eine mit einer nächtlichen Prozession draussen verbundene Wunderheilung in einem Hotel in Piräus, zwei gute Serien: The Terror und Patrick Melrose, die ein Freund von mir gemacht hat, Anke Stellings Schäfchen im Trockenen, ein Konzert von Scritti Politti draussen auf der Dachterrasse des HKW in Berlin, das Indian Coffee House von Laurie Baker neben dem Bahnhof in Trivandrum, die unheimlichen Orte in Dortmund und in Kassel, an denen der NSU gemordet hatte, Harun Farockis zehn, zwanzig, dreissig, vierzig, der Internet-Radiosender NTS aus London, Zama.
Hannes Brühwiler
Überall stieß ich auch auf pechschwarze Zukunftsszenarien, im Kino, in Büchern, im Fernsehen: Dystopische Erzählungen schienen von allen Filmemacherinnen und Filmemachern, allen Autorinnen und Autoren geradezu eingefordert zu werden. Richtig überzeugend fielen dabei die wenigsten aus und ich war immer wieder überrascht, wie gerne man sich mit oberflächlichen Gesellschaftsanalysen zufrieden gab. Das mutige Fabulieren blieb dabei meistens auf der Strecke und ich musste oft an einen Satz von J. G. Ballard denken: «The celebration of the possibilities of life is at the heart of science fiction.» Wie sehr habe ich das in 2018 vermisst. Die Wiederbegegnung mit Ballards Büchern kam mir daher gerade recht. Seine böse Komik standen mir in diesem Jahr immer wieder bei. Zwei Werke, die mich jedoch überaus beglückten, waren Annihilation und vor allem die dritte Staffel von The Leftovers. Beide lassen jede Form der Utopie und Dystopie weit hinter sich.
Im Sommer gab es einen Abstecher nach Paris zu Chris Marker: Die Ausstellung in der Cinémathèque française war wie erwartet ordentlich und versammelte Reliquien aus Markers Karriere. Der Verdienst der Ausstellung lag jedoch darin, dass sie eine ganze Reihe von (Wieder-)Veröffentlichungen anstieß: Einen dicken Ausstellungskatalog etwa oder Markers legendärer Fotoband Coréenes. Zwei meiner schönsten Entdeckungen des Jahres waren seine 13-teilige Serie L'héritage de la chouette über den Einfluss des antiken Griechenlands auf unsere Gesellschaft und der Fotofilm Si j’avais quatre dromadaires.
Im Kino muss ich wohl viel verpasst haben, denn es bleiben überraschend wenige aktuelle Filme hängen: Suspira und The Phantom Thread, Leto und Ex Libris. Ganz am Ende des Jahres dann habe ich Masha Gessens bedrückendes Buch The Future is History gelesen. Und da war sie wieder, die Dystopie.
Robin Celikates
365 Tage mit A., ein Jahr dominiert von Kleinstem, das zugleich das Größte ist – der erste Frühling in Amsterdam (der erste Lachanfall), die Wanderungen durch den Böhmischen Wald (im Hotel die erste Krabbelstrecke), der erste Sommer in Warschau, Berlin, Istanbul und Ayvalik (das erste Mal im Meer, die Freude am Essen), der erste Herbst in Princeton (die erste Geburtstagsparty, das Erschrecken vor den anderen Kindern an Halloween, die ersten Schritte an Thanksgiving, das erste Augenzwinkern, die ersten Tanzbewegungen und so vieles Mehr).
Gelesenes/Gesehenes: Patrick Chamoiseau (nach Texaco, das von 2014 blieb): L'Esclave vieil homme et le molosse/Slave Old Man und Frères migrants/Migrant Brothers (hatte für mich auch Resonanzen mit The Otolith Groups Hydra Decapita); Richard Price: The Convict and the Colonel: A Story of Colonialism and Resistance in the Caribbean; Kate Manne: Down Girl: The Logic of Misogyny; Thi Bui: The Best We Could Do: An Illustrated Memoir; Fred Moten: consent not to be a single being; Achille Mbembe: Politiques de l'inimitié/Politik der Feindschaft; Zhao Tingyang: Tianxia --- The Terror, Killing Eve, Shetland, Bodyguard, La Mante, Cizreli Mehmet Ali'den Yeni Düet Ciao Adios ft. Anne Marie 2, Matt Damon als Brett Kavanaugh, Robert De Niro als Robert Mueller.
Catherine Davies
Von diesem Jahr bleiben wird ganz sicher die Erinnerung an den langen, heißen und trockenen Sommer. Damit verbunden haben sich mir drei (soweit ich das beurteilen kann) hervorragend recherchierte Artikel aus der New York Times eingeprägt, die mich ein wenig mit den auch in diesem Jahr zahlreichen Sünden der Zeitung versöhnen. Da war, erstens, der Artikel von Nathaniel Rich, der die Geschichte der amerikanischen Klimapolitik seit den siebziger Jahren nachzeichnete («Losing Earth: The Decade We Almost Stopped Climate Change», NYT Magazine, 1. August 2018), als eine weltweite konzertierte Aktion gegen den Klimawandel in greifbarer Nähe schien; zweitens, ebenso deprimierend, Abrahm Lustgartens Artikel über die Zerstörung des indonesischen Regenwaldes («Palm Oil Was Supposed to Help Save the Planet. Instead It Unleashed a Catastrophe», NYT Magazine, 20. November 2018); und schließlich Brooke Jarvis’ Stück über das große Insektensterben («Apocalypse is Here: What Does It Mean for the Rest of Life on Earth?», NYT Magazine, 27. November 2018 – er enthält, bei allen furchteinflößenden Zukunftsszenarien, die dort gezeichnet werden, auch sehr schöne Passagen über praktizierte Bürgerwissenschaft in einer rheinischen Kleinstadt). Aufgerüttelt haben mich alle drei und 2019 werde ich hoffentlich genauer wissen, welche Konsequenzen ich für mich daraus ziehe. Etwas mehr als das, was ich jetzt mache bzw. nicht mache, sollte schon drin sein. – An Gesehenem und Gelesenem werden außerdem bleiben: Corey Robins The Reactionary Mind, Chateaubriands Erinnerungen von Jenseits des Grabes, Ruth Beckermanns Waldheims Walzer, Luca Guadagninos Call me by Your Name, Kirill Serebrennikows Leto und Die sechs Brandenburgischen Konzerte in der Volksbühnen-Inszenierung Anne Teresa De Keersmaekers.
Matthias Dell
Das unsolidarische Ende von Mesut Özil in der Nationalmannschaft. Wie ein peinlicher Verband (Grindel, Bierhoff, Löw) und die unterreflektierten Kollegen (Neuer, Müller, Kroos) den – zudem elegantesten – Spieler aus ihrer Mitte zum Abschuss für die dumpfen Krakeeler von rechts freigeben, sucht sein Beispiel. Und dass kein DFB-Mensch sich fragt, was das fürs gesellschaftliche Miteinander bedeutet. Immerhin entschädigt die dürftige Performance der deutschen Mannschaft in den Spielen seither – der Herrgott straft nicht mit dem Stock, wie die Ungarin sagt.
Die Diskussion mit Teilen der Auswahlkommission vom Leipziger Dokumentarfilmfestival an der Hotelbar von halb eins bis drei Uhr nachts über die naive Begeisterung für Lord of the Toys. Die Diskussionsunlust des Moderators der Vorführung am selben Abend, die Bereitschaft, alle filmkritischen Einwände über Bord zu werfen, wenn nur geil Nazis gezeigt werden. Ich werde nie verstehen, wie man in einem Land mit einer Geschichte wie der unseren derart arglos zu Werke gehen kann.
Das Treffen mit dem so herrlich erzählenden Klaus Buhlert an einem Sommernachmittag in Berlin, um endlich der komplexen Geschichte des rätselhaftesten Tracks vom Natural Born Killers-Soundtrack auf die Spur zu kommen: «History (repeats itself)».
Jan Distelmeyer
Vor alles, was hier diesmal an Erinnerungen Platz hätte, schiebt sich immer wieder eine sehr merkwürdige und/weil hochalltägliche Erfahrung aus dem Sommer. Sie zu bezeichnen – das Gemisch aus Videos, GIFs, Texten, Bildern, Hintergrund und Plattform-Ordnung – ist schon schwer genug (und Teil meiner Erinnerungsschleife). Vielleicht einfach so: Twitter-Komplex. Einen Tag nach der Pressekonferenz von Helsinki mit Trump und Putin am 16. Juli, bei der Trump zur Frage der Wahl-Hacker-Attacken erklärt hatte, er sähe keinen Grund, warum es Russland gewesen sein soll, veröffentlichte der offizielle Twitter-Kanal des Weißen Hauses das 2 ½-minütige Video einer gar nicht mal so gut abgelesenen Erklärung des Präsidenten, er habe heute bemerkt, was er gestern gesagt hat. Und er hätte das Gegenteil gemeint. Nämlich: «I said the word ‹would› instead of ‹wouldn’t›». Darum: «The sentence should have been: ‹I don't see any reason why it wouldn't be Russia›. Sort of a double negative.»
So verstörend bekloppt die Szene auch ist, als ob das Weiße Haus damit die Selbstauflösung twittert: Viel mehr beschäftigt(e) mich das Nebeneinander dieses Videos mit den unzähligen Kommentaren, die in Form von Collagen, Texten und Video-Botschaften vor allem harsche Ablehnung (mit diversen politischen Implikationen) platzierten. Das Miteinander dieser Form von Mitteilungen, ihre Unverbundenheit, die keine Dialoge dafür aber eine komplette Verbundenheit in der Sache Twitter (traffic, traffic, traffic) ergibt, stellt einer Kultur- und Medienkritik, die das ernst nehmen will, heikle Fragen. Wie kann möglichst viel davon bemerkt, auseinandergehalten und neu zusammengefügt werden, ohne aus der Zeit zu fallen? Oder wäre genau das die Lösung? Aber wohin dann?
Die einzige Chance, Schritt zu halten und also auf eine Intervention «am Puls der Zeit», «auf Augenhöhe» und wie das sonst noch so heißt, wäre wahrscheinlich ein Retweet oder irgendein Post (gewesen), womit der Teufelskreis dieser Strukturen des Plattformkapitalismus sich wieder perfekt schließt. Das scheint die Geste dieser betont «neuen» (in memoriam New Media mit dem ewigen Neuheitsanspruch und dem Update-Dogma einer gesicherten Futur II-Existenz) Form medialer Regierung und Kritik zu sein. «Sort of a double negative.» Meine Überforderungserfahrung vom Juli bleibt mir darum nicht nur als eine Zeitfrage erhalten (oh, Beschleunigung), sondern vor allem als Frage nach den Strukturen von Gemeinschaft. Aus unterschiedlichen Anlässen und Perspektiven denken darüber gerade viele nach; ich auch.
Monika Dommann
Ein alter Lesebefehl zum Jahresanfang. Bernd Stiegler hatte mir aus der Bring-und-Abhol-Bücherkiste der ETH vor einiger Zeit zielsicher ein Buch herausgefischt und mir quasi einen Lesebefehl erteilt. Eineinhalb Jahre später nahm ich im Süden Sri Lankas endlich das bereits schon ziemlich zerlesene Buch aus dem Koffer. Tage der Toten von Don Winslow ist ein verdammt harter Politthriller, der in die Iran-Contra-Affäre, die Folterkeller der amerikanischen Geheimdienste und der mexikanischen Drogenkartelle und des War on Drugs führt. Die Palmen auf dem Cover des Suhrkamp-Taschenbuches waren nach der 72-Stunden-Dauerlektüre am Strand noch etwas blasser geworden. Ich war mindestens so ausgelaugt wie damals, als ich durchgehalten hatte bei Dominik Dachs und die Katzenpiraten, und mit dem ersten Bad Guy meines Lebens, dem Roten Tom, Bekanntschaft geschlossen hatte.
Im Jahr des Doppeladlers. Nach Ostern verreiste ich mit meinen Jassfreundinnen für ein paar Tage nach Albanien. Im Gepäck die Leseempfehlung von Martin Bossard von der Volkshausbuchhandlung: Hana, von Elvira Dones, im Zürcher Verlag Ink Press in deutscher Übersetzung erschienen. Die Geschichte der einstigen Literaturwissenschaftsstudentin Hana, die in den Bergen im Norden Albaniens in den 1980er Jahren zum Raki trinkenden und kettenrauchenden Mark Doda wird, und nach einem Jahrzehnt als burrnesha bei Verwandten in der amerikanischen Hauptstadt DC sich wieder an ein Leben als Frau herantastet, war ein guter literarischer Einstieg ins Land. Nicht geahnt hatte ich während dieser Reise, dass zwei Monate später der Jugoslawienkrieg die Schweizer Fussballfans während der WM am Fernseher heimholen würde. Die Doppeladler-Geste von Granit Xhaka und Xherdan Shaqiri (nach wunderbaren Toren im Spiel gegen Serbien!), rief den Zuschauerinnen und Zuschauern in Erinnerung, dass Menschen in Schweizer Trikots spielten, deren Eltern aus einem Krieg in Europa in die Schweiz geflüchtet waren. Eine mutige Geste war das übrigens. Und sie machte manifest, dass ein Großteil der Schweizer Öffentlichkeit kein schweizerisch-albanisches Crossover duldet.
Zürich ist eine coole Movie Location! Lisa Brühlmanns BLUE MY MIND (2017) habe ich im Januar 2018 an den Solothurner Filmtagen gesehen. Ein beklemmender Horrorfilm, der mir da am nebligen Samstagmorgen entgegenschlug. Metamorphosen, welche die hormonellen Erschütterungen der Protagonistin auch in meinen Blutbahnen triggerten. Die erste Menstruation, zusammengewachsene Zehen, Flecken, Schuppen und plötzlich ein gigantischer Fischschwanz. Dieser Special Effekt dürfte ein großer Brocken des Budgets dieses Debüt verschlungen habe! Hervorragend auch die Locations: Die Teenager bewegen sich an Ecken Zürichs, die nie in Imagefilm verwendet würden, wie etwa bei der unterirdischen Tierspitaltramhaltstelle oder dem Sihlcity. Auch WOLKENBRUCHS WUNDERLICHE REISE IN DIE ARME EINER SCHICKSE von Michael Steiner (mit einem großartigen Joel Basman) wartete mit phänomenalen Locations in Wiedikon und der Enge auf.
Der Sommer war sehr gross! Es war das Jahr des Schwimmens. Jeden Tag eine neue Badi! Am Morgen im Letzibad von Max Frisch im 50 Meter Becken. Abends schwimmen im Utoquai, der alten Holzbadi mit dem schönsten Frauendeck der Stadt, den spektakulärsten Sonnenuntergängen und den letzten Sonnenstrahlen des Tages. Im August während des Filmfestivals in Locarno Schwimmen in der Maggia bei Ponte Brolla. Noch nie war das kalte Wasser so warm und erlaubte derart ausschweifende Schwimmtouren in den Canyons! Zudem habe ich mich im September erstmals in der grünen Aare durch Bern treiben lassen, mitten durch die Stadt, unter der Eisenbahnbrücke durch, bis zur Lorraine Badi. Auch der Bergsommer meinte es gut mit uns. Im Frühling erwanderten wir das Mittelland und landeten plötzlich an einem Ort, dessen überdimensionierte Kirche uns schon von Weitem irritiert hatte. Abends in der Pizzeria in Plaffeien verriet uns der Wirt, dass das ganze Dorf mitsamt gigantischer Kirch 1906 nach einem Brand komplett neu aufgebaut worden war. Von italienischen Maurern notabene. Spektakulär dann im Juni die Route zur Sardona Hütte und am nächsten Tag steil runter nach Weisstannen, mit der besten Linzertorte zum Abschluss im Garten des Hotels Alpenhof. Und das Saisonende von Il Fuorn nach S-charl. Am Morgen eiskalt, in der Sonne dann so mild wie im Spätsommer, und am Abend köstliches Wildessen im Gasthaus Mayor.
Restitution! Es war das Jahr der Debatten um Provenienz und der Frage, welche Schlüsse die prall gefüllten Museen in Europa daraus ziehen müssen. Die kulturwissenschaftliche Avantgarde der 1990er Jahre sah in der Person des einst agendasetzenden Horst Bredekamp schwach aus. Das Deutsche Historisches Museum in Berlin macht übrigens noch bis 3. Februar vor, wie man Provenienzforschung als kluge Intervention in die Dauerausstellung integriert: «Rückansicht. Die verborgene Geschichte eines Gemäldes von Adolph Menzel».
Daniel Eschkötter
Ein Jahr mit Robert Mueller. Der Vorsatz war mit «Fire and Fury» schon nach wenigen Tagen im neuen Jahr dahin: Ein weiteres Jahr also mit dieser Daily Soap und ihren (Fernseh)Satelliten, den Abendsendungen der Kabelnews im Youtubemorgenprogramm, very guilty, not too much pleasure, R. Maddows mäanderndem Storytelling und heiterem Gerichtsprotokollverlesen, C. Hayes’ juveniler Zivilgesellschaftsapostrophe, A. Coopers Gaslightanthologie. Ari Melber, der in seinem «Beat» immer notorisch Rapschlagerlyrics einstreut. Für Book- & Courtsmartness ist nicht nur beim Juristen Melber eine Legion von legal analysts zuständig, denn wo Recht ist, wo Recht sein soll, da muss kommentiert werden; und dieser Kommentar, der beim Beat auch mal spektakuläre Liverechtsberatung sein konnte (die Tage des Sam Nun/mberg), war ein Soundtrack dieses Jahres. Dabei oft abwesendes Zentrum: Washingtons quiet man, the tall silent type: Schweigen und ‹speaking indictments› des R. Mueller, die eben nochmal zum Sprechen gebracht werden mussten. Dazu Mueller-Spotting in der Genius Bar, Mueller, Style Icon, Muellers wohl gestärkte [!] Button-Down-Hemden und Casio in Troy Pattersons Mythologie des FBI-Alltags ( – vom Chefredakteur gab’s bei Seth Meyers den Chef’s Kiss dafür, zurecht). An diesem (völlig, naturgemäß) Imaginären einer strikten und unnachgiebigen By-the-Bookness muss, so schien es, das Seelenheil vieler hängen. TDS, they call it.
Ein Jahr der kurzen Wege, der kurzen Lektüren, die langen meist nur im Ohr, eben auf den kurzen Wegen und den längeren, zuletzt Maria Ott liest Witiko, allein hätte ich das nie geschafft, und ins Böhmische Dorf und Umgebung passt’s ja. Andere Reportagen: Boston-Rap-Clubs mit Mark Costello und D.F. Wallace oder, unter so vielen großen, eine paradigmatische kleine Recherche, mit Jenny Odell in ein Online-Shopping-Kaninchenloch. It’s Always Sunny’s revisionistische Staffel, The Americans’ 2-Song-Finale, Atlanta’s Dispersionsästhetik, Lodge 49’s kalifornische Verschuldungsparabel. Coltrane 55 Jahre später (klar), Why?’s «Alopecia» 10 Jahre später (jetzt passt es), Noname-Blood Orange-Marlowe-Chris Orrick heute (auch klar).
Ein, vor allem, Jahr der kurzen Sätze (die immer länger wurden). Ein Jahr wie (k)ein zweites.
Günter Hack
Weihnachtsmarkt Schönbrunn, ich und meine Kamera und elektrisches Licht und Dunkelheit. Kinder spielen auf einem winzigen Haufen aus Schneeschmutz, einer Mikroklimakatastrophe. Mein Finger betätigt den Auslöser und später erst sollte ich sehen, dass eins der Kinder einen Davidstern in die Mütze eingestrickt hat, blau auf weiß. Die Gäste trinken. Ich drifte in die Geometrien des Parks, wo Baumzuschnitte toter Herrschaft huldigen. Die Vögel sind in den wilden Teil des Parks verschwunden. Es bleiben die Neonjogger, die auf den Fiakerwegen traben. An den Joggern ist nur je ein einzelnes Kleidungsstück neonfarben: Mütze, Schuhe, Hose. Gilet Jaune, Quietschesneaker, Neonmützenbommel, Kleidungsstücke wie sublimierte Artefakte von Schockmomenten. Ich bin unbunt, weil meine Kamera mich schützt. Sie tut sich mit den Neonfarben entsprechend schwer, quetscht sie in ungeeignete Farbräume. Die buntesten Menschen, die ich in diesem Jahr gesehen habe, waren Cyberhippie-Frauen in Zürich. Neon-Sneakers waren dort de rigueur, aber am besten trug frau dazu noch glänzende Neon-Leggings und makellos weiße Fransenlederjacke, alles aus der Formenwelt eines Jeff Koons, also komplementär zum kompensatorischen Empire-Stil der Neo-Autokraten. Vor mir glüht das Schloss, hinter mir die Gloriette. Herrschaft sieht wieder aus, wie Herrschaften sich das vorstellen. Aber hinter den Fensterfronten blühen schon erste neonfarbene Flecken.
Maren Haffke
2018 war lang. Es fing gut an, mit Mykki Blanco (im Hochzeitskleid) im Berghain, die ersten fünf Minuten waren also vielversprechend. Dann wurde es anspruchsvoll und blieb so. Ich glaube, das war auch gut. Auf jeden Fall war immer was los. Verschärft vor allem die räumliche Situation. Triangulierungen zwischen Berlin, Bochum und Köln und eine neue Art der Pendlerdemenz: Ich kann nicht genau sagen, wie viele Akkuladegeräte ich 2018 kaufen musste (drei? vier?), in diesen komisch dezentrierten Apple-Shops ohne Kassen, wo die Angestellten mit ihren Tablets an der Seite stehen und darauf warten, dass man sie durch eine fragende Körpersprache aktiviert. Überhaupt: Unterwegs gewesen. In Manhattan haben wir in einem YMCA geschlafen, in dem Menschen wohnten, die morgens von dort aus zur Arbeit gingen, mit perfekt gebügelten Anzügen und völlig kaputten Schuhen. Mit dem Zug nach Boston sind wir durch das Amerika von 2018 gefahren, die Landschaft wie eine National Geographic Reportage, schön. Tagelang hatte ich einen Ohrwurm vom Wort Bildungskredit. Sonst wurde dieses Jahr besonders gute Musik veröffentlicht. Blood Orange´s Negro Swan ist schlicht ein Meisterwerk. Wunderschön das Video zu Jewelry: die tanzenden Männer im Park, die schöne Frau, die stolz und gerade die Straße entlanggeht, die fast schmerzhafte Musikalität. Georgia Anne Muldrow´s Overload. Immernoch schreibt sie die besten Lieder über Langzeitbeziehungen. TIRZAH habe ich sehr gemocht, ‚Devotion‘ vielleicht der Track meines Jahres. Auch Mica Levis Platte mit Eliza McCarthy, Slow Dark Green Murky Waterfall, ist toll. Eartheater´s IRISIRI, Heather Leigh´s Throne, Yves Tumor´s Safe in the Hands of Love, Sarah Davachi´s Gave In Rest. Im Nah- und Fernverkehr habe ich diese Musik gehört, im BahnComfort-Bereich und im M41, mit den Noise-Cancelling-Headphones, die sich dieses Jahr alle Kolleginnen gegenseitig empfohlen und angeschafft haben. (Gegen den BahnComfort-Bereich? Gegen den M41?) Viel im Theater und im Museum gewesen. Dass Julien Ceccaldi im Kölnischen Kunstverein ausgestellt war, hat mich gefreut. Und gestreamt habe ich. Natalie Wynns ContraPoints-Channel auf YouTube macht Hoffnung, dass diese Internetsache noch nicht völlig erledigt ist. Augenöffnend das Video über Incels, großartig, wie sie Jordan Peterson ungerührt immer wieder «Daddy» nennt. Sonst habe ich Horror für Erwachsene geguckt: The Haunting of Hill House und Sharp Objects, präzise und zutiefst unheimliche Serien über Elternhäuser und die toxischen Seiten der Mutterliebe. Im Zug griff ich gerne zu Stand Up. Blieb ich aus Versehen zu lange mit der Onlineausgabe der New York Times wach (noch so eine 2018-Sache), auch mal zu Zeichentrick. Ronja Räubertochter von Gorou Miyazaki ist aber nicht nur zur emotionalen Dekompression empfehlenswert: sentimentale Männer («Potz Pestilenz!»), stoisch kompetente Frauen und schöne, gefährliche, alberne Fabelwesen. Am besten und lustigsten war es 2018 mit den Freundinnen im Alltag – in der Bibliothek, im Büro, in der Mensa, im Park, selbst im Nah- und Fernverkehr, gerade im BahnComfort-Bereich. Und in Helsinki, natürlich. Aber das versteht sich vielleicht von selbst.
Stephan Herczeg
Eigenartig zersplitterte Erinnerungen an 2018. Direkt in der Neujahrsnacht wegen eines dummen Sturzes mit Gehirnerschütterung in der Notaufnahme gelandet, so fing das Jahr an. Im Anschluss zweiwöchiges rekonvaleszentes Herumliegen. Als verhaltenstherapeutische Maßnahme im Februar nach Paris gereist, um mir zu beweisen, dass ein sturzfreies Leben nach drei Gin Tonic weiterhin möglich ist, auch im Ausland. /// Ein Sommerfilm, der dort im Winter anlief: Mektoub, my love: Canto Uno von Abdellatif Kechiche. Drei Stunden mit jungen Menschen am Strand, im Café, im Schlafzimmer, im Club. Ich fand den Film super, ist in Deutschland leider nie angelaufen, vielleicht auch weil Kechiche vor ein paar Monaten wegen sexueller Nötigung in die Schlagzeilen geriet. /// Noch ein toller französischer Film (ich finde sogar, der beste des Jahres), bis jetzt auch noch ohne deutschen Verleih: La douleur von Emmanuel Finkiel, frei nach dem gleichnamigen Roman von Marguerite Duras. Paris während der letzten Monate der Nazi-Besatzungszeit. Duras, Mitglied der Résistance um Mitterand, versucht, ihren zunächst «nur» verhafteten und später deportierten Ehemann zu retten. Bedrückende Treffen mit einflussreichen Gestapo-Beamten, das Paris der Kollaborateure, alles sehr gut gespielt und in Szene gesetzt. Vielleicht konnte bei mir auch deshalb Petzolds ungefähr zur gleichen Zeit angesiedelter Transit so gar nicht punkten. /// Der nächste Sommerfilm: Call me by your name von Luca Guadagnino, schönster Märchenfilm dieses Jahrzehnts. Ich konnte mich wochenlang vor Begeisterung überhaupt nicht mehr einkriegen, so gelungen, perfekt und wunderbar deprimierend fand ich diesen Film, der vor allem überhaupt kein typischer Guadagnino-Film war. Meine Begeisterung hat inzwischen wegen Überreizung merklich nachgelassen, und ich bin nur noch in den Vater und nicht mehr in alle Filmfiguren verliebt. /// Im Spätsommer, während einer Reise in und durch das Burgund, in eine Art Romanik-Rausch geraten, den man vielleicht nur als Kunsthistoriker ertragen kann. In jedem zweiten abgelegenen burgundischen Kaff steht eine abgerockte romanische Kirche aus dem 11. oder frühen 12. Jahrhundert. Insgesamt gibt es im Burgund wohl über 240 romanische Kirchen, die die Französische Revolution überlebt haben. Total super! Ich werde mich nur noch für Romanik interessieren! /// Im späten Herbst dann in Paris die grandiose Kubismus-Ausstellung gesehen, die man vielleicht nur als Kunsthistoriker ertragen und großartig finden kann. Bin noch immer mega geflasht, sogar von dem Merch-Tablett aus gepresstem Kunststoff mit kubistischem Motiv von Juan Gris. Ich werde mich nur noch für Kubismus interessieren! /// Und noch ein paar Filme, die mir in Erinnerung geblieben sind: Phantom Thread von Paul Thomas Anderson, No God’s Country von Francis Lee, Florida Project von Sean Baker, Les garçons sauvages von Bertrand Mandico, Plaire, aimer et courir vite von Christophe Honoré, Sauvage von Camille Vidal-Naquet, High Life von Claire Denis.
Tom Holert
Nach einem Jahr wie diesem, nach einem erneuten Jahr wie diesem, nach einem Jahr, das kein Ende nehmen wollte und dann auch noch kurz vor Ende mit Santa Claas und seinen Spekulatius aufwartete, in dem also alles Dichtung und Wahrheit zugleich war, Fiktion und Sagen-was-Ist-Sagen, Migrationspakt und Digitalpakt, ein geronnenes, verkrustetes, abstoßendes Jahr also, in dem sich die Macht weiter verdüsterte, die Entsolidarisierung konsolidierte, die Erdrettung stockte, die Natur rebellierte und die Infrastruktur zuverlässig nachgab («Jahrhundertsommer», Genua, Deutsche Bahn AG, Pleasure, Anak Krakatau ...); ein Jahr, in dem Resilienz ihre Rolle als Leittugend ausbaute, während Resistenz hierarchiefrei in Signalwesten paradierte und polizeilich gepolsterte Nazis in Berlin-Mitte, Kandel, Chemnitz usw. demonstrierten; nach diesem Jahr noch eine Auswahl zu treffen aus der persönlich-personalisierten Timeline der Ereignisse, Begegnungen, Lektüren, Gespräche, Krisen, Empfindungen, Konsumakte und Interessenschübe zieht nicht nur – zurecht – Eitelkeitsvorwürfe auf sich, sondern erscheint insgesamt ein bisschen mehr noch als bisher wie das Pfeifen im Walde.
(Die Bilanz von Elizabeth Schambelan auf artforum.com zeichnet eine besonders bittere, implizit faschismustheoretische Linie in das Jahresgewebe, von George Grosz’ «dadaistischem Tod» zu «the mascot of 2018 ghastliness»: Tiny, «the guy in the PINOCHET DID NOTHING WRONG! T-shirt who danced to the ‹Cha Cha Slide› with some Proud Boys in August at a demonstration in Portland, Oregon.»)
Und, also, war da noch was?
Ja.
Die sinnvollste Manifesta seit Bestehen dieser European Nomadic Biennial: «The Planetary Garden. Cultivating Coexistence» gastierte 2018 in Palermo, der Stadt, die von Leoluca Orlando nun schon in der vierten Amtszeit (mit zwischendrin längeren Unterbrechungen seit den mittleren 1980er Jahren) regiert wird. Dieser hartleibig-benevolente Mafiagegner, auch «wandelnde Leiche» genannt, hat die sizilianische Metropole, getragen von über 70 Prozent Zustimmung, zur offenen Stadt erklärt, zum leuchtenden Gegenmodell der nicht nur italienischen, sondern gesamteuropäischen Migrationspolitik. Die Manifesta hat sich an diesem Projekt beteiligt, sehr umsichtig, die unterschiedlichsten Parteiungen und Interessenlagen berücksichtigend, vielleicht sogar tatsächlich nachhaltig, das wird abzuwarten sein.
Auch im Jahr der letzten gedruckten Spex gab es Musik: House als unerschöpflicher Steinbruch für die Materialität der Nacht, auch dann, wenn so konzeptionell bearbeitet wie von Nicolas Jaar a.k.a. A.A.L. (Against All Logic) (2012-2017, Other People). Noise als De-Facto-Architektur: nur live so viszeral nähergebracht durch Puce Mary (d.i. Frederikke Hoffmeier aus Kopenhagen), beim Donaufestival in Krems (kurz nach der majestätisch-smarten Laurel Halo auf der größeren Bühne vor halbleerem Saal). Und à propos Musikjournalismus: Tobi Müller und Jens Balzer haben viele gute alte und manche neue Eigenschaften des Prinzips Popmusikzeitschrift auch 2018, und noch einmal pointierter und unterhaltsamer, in ihrem «Pop-Salon» im Deutschen Theater in die mündliche Rede und auf das Podium übertragen.
Die Sitzungen der Afropessimismus-Lesegruppe. Die Intensität der verstörend-konstruktiven Lektüren der Texte von Frank B. Wilderson III, Saidiya V. Hartman, Zakiyyah Iman Jackson, Christina Sharp, Huey Copeland usw. Wie bloß umgehen mit dieser provozierenden Theorie zur Anti-Blackness als alles andere Formen von Unterdrückung, Ausbeutung und Vernichtung überbietendes Gewaltprinzip? Beschwerlicher Einstieg in die rechtsphilosophischen Genealogien proprietären Weißseins und die «Erwartungen» an ein weißes, bereinigtes Territorium des Siedlerkolonialismus (Cheryl Harris, Brenna Bhandar usw.). Die gemeinsamen Versuche, Childish Gambinos This Is America-Video entsprechend einzuordnen. Auf YouTube zuhause viele jüngere und ältere Interviews und Podiumsdiskussionen mit bell hooks, Cornel West, Fred Moten, Sylvia Wynter usw. zur fortgesetzten Kalibrierung des Denkens. Auch Arthur Jafas Ausstellung bei Stoschek in Berlin, Tony Cokes’ Installation im ZK/U zur Berlin Biennale und die Filme von Skip Norman im Arsenal. James Baldwins Letter From a Region in My Mind. Coming of Age in Harlem (1962) in der «archival issue» des New Yorker: «Something very sinister happens to the people of a country when they begin to distrust their own reactions as deeply as they do here, and become as joyless as they have become.»
Überhaupt, der New Yorker: Das günstige Abo überfordert zwar in seiner unbarmherzigen Wöchentlichkeit, beglückt mich aber spätestens, wenn sich dann doch einmal die nötige Zeit findet, wie jetzt gerade, in diesen Tagen zwischen den Jahren (immer mehr ICE-Bahn-Fahrten mit Verspätungen helfen auch, den Berg abzuarbeiten). Zu entdecken: Zadie Smith als Kunstschriftstellerin (einige der Texte, etwa die zu Mark Bradford oder Lynette Yiadom-Boakye, sind in der neuen Essaysammlung Feel Free enthalten – hilfreich rezensiert in der LRB von Thomas Chatterton Williams). Vertrauenswürdig (bis auf ihre Jahrescharts vielleicht), Emily Nussbaum, die New Yorker-Fernsehkritikerin. Ich wünschte mir, Hilton Als würde nicht nur über Theater schreiben. Und: die beste Reportage über Ethereum, oder wie das heißt (von Nick Paumgarten).
Patrick Holzapfel
Alejandra Pizarnik
Bei mir bleibt Alejandra Pizarnik. Sie flüstert mir eisig zu, dass es immer ein Gedicht gibt, einen Text, den wir nicht schreiben. Dieser Text, den wir nicht schreiben, ist eine Verweigerung zu lieben. Niemand spricht. Man versucht manche Texte zu verdrängen, als hätte man Angst zu zweit zu sein. Alleine mit ihren Texten, das wäre vielleicht zu viel. Genau dort will ich sein. Ihre Gedichte hinterlassen einzig einen Geschmack, ich könnte und wollte keines rezitieren. Vielmehr finde ich ihre Worte und deren Abwesenheit im gesprungenen Glas meiner Fenster oder einem vergessenen Schal im Schnee auf der Straße. Man muss den Herzschlag öffnen, damit er langsamer wird, weil man sonst verpasst wie Alejandra zwischen den Zeilen atmet. Nie habe ich jemanden gelesen, der mich so sehr an das Schlucken erinnert, das man spürt, nachdem jemand von einem Menschen erzählt, den wir verletzt haben. Oder der uns verletzt hat. Sie spricht, um mich zu ignorieren. Wenn man einmal mit ihr gelernt hat, die Abwesenheit zu bewundern, dann wird es schwer die Realität zu akzeptieren. Sie lehrt mich, in die Sonne zu schauen.
Mondfinsternis
Ich habe nichts gesehen, was mich dazu gebracht hätte, die Augen zu schließen. Vielleicht die Mondfinsternis. Man fährt los, im Halbschlaf, weil man erst kurz zuvor davon erfahren hat; man fährt und sieht den Mond nicht, egal wohin man blickt, wo ist der Mond? Man muss begreifen, dass man sich vom Boden lösen muss, um den Mond zu sehen. Ab und an bleibt man stehen, wenn man ihn erahnt, weil mehr ist da nicht, ein blasses Rot bedroht von Wolken, vielen Wolken. Es gewittert während der Mondfinsternis in Wien. Ich denke an Adalbert Stifter und die Sonnenfinsternis, die er beschrieben hat («ein allmähliches Sterben des Lichts»). Die Blitze sind fast aufregender als der Mond und sein Verschwinden. Manchmal hat man ihn gar nicht gesehen, so blass war er, wie ein Rätselbild. Unheimlich viele Menschen waren auf der Straße, glauben die noch an den Mond? Auf dem Aussichtsturm im 16. Bezirk in Richtung Tulln oberhalb der Steinhofgründe standen sie Schulter an Schulter die Treppen hinauf. Man denkt sich, dass man doch eher alleine in der Mitte des Waldes stehen sollte, wenn der Mond verschwindet. Aber es tat gut zu sehen, dass es noch ein Naturschauspiel gibt und Zuseher dazu. Nur die Wolken kamen näher und näher. Viele sahen den Mond gar nicht, obwohl man ihn sehen konnte. Man war versucht, mit dem Finger auf den Mond zu deuten oder zu sagen: «Schaut doch, da ist er ja noch!». Aber dann studiert man doch lieber die fragenden, enttäuschten Gesichter, die fehlende Geduld für das Firmament. Jeden Abend in den Himmel zu schauen, das wäre gut.
Traubeneiche
Auf Krk oberhalb der Bucht Čavlena die Traubeneiche gefunden, die seit über vier Jahrhunderten dort steht. Es ist schon Abend als wir dort ankommen. Ich frage die Eiche, wie sie es geschafft hat , so alt zu werden. Sie antwortet mir nicht. Stattdessen nur das berauschte Surren unzähliger Insekten rund um den Baum, ein bedrohliches Rascheln aus dem Gestrüpp. Ich gehe um den Baum herum, sein Stamm ist endlos breit, die Äste wirken wie wuchtige Fausthiebe hinein in die Umgebung. Um den Baum herum lebt und verwest alles. Er selbst ist unbeeindruckt, selbst wenn schwarze Kiefer durch seine Haut dringen oder der Meereswind seine Krone erpresst. Alle anderen Bäume haben Abstand genommen, aber ich traue mich und frage nochmal nach dem Geheimnis des hohen Alters. Wieder keine Antwort. Stattdessen eine Sturheit, ein Bei-sich-Sein, ein Schweigen, das klingt als könnte es aus den Tiefen einer ungeborenen Leidenschaft den Himmel berühren. Ich denke, dass wenn die Insel eines Tages untergeht oder von englischen Touristen gekauft wird, dieser Baum stehenbleibt. Mitten im Meer und wer auch immer ertrinkt, möge sich an ihm festhalten.
Dominik Kamalzadeh
2018 war, um es einmal neutral zu formulieren, ein unübersichtliches Jahr.
Im März sehe ich Neil Beloufas Schau L’ennemi de mon ennemi im Palais de Tokyo in Paris, die mich gleichermaßen überrollt wie verblüfft. Was vermutlich auf dasselbe hinausläuft. Ich brauchte eine Weile, um zu durchschauen, dass die kleinen Roboterkisten auf ihren Bahnen mehrere Objekte der Ausstellung, einem Algorithmus folgend, ständig neu konfigurierten. An einen verbindlichen Weg durch den Raum war also nicht zu denken. Eine Ordnung war auch in der ständigen Bewegung nicht zu entdecken. Beloufa schuf ein Dispositiv, in dem man mit künstlerischen Artefakten und Kopien wahllos kollidierte. Der Ausstellungsraum als ein soziales Medium, in dem es nicht mehr um stabile Sinnzusammenhänge geht, sondern darum, der Diffusität von Positionen und Informationen Ausdruck zu verleihen.
Rund ein Jahr nach der Premiere in Venedig hole ich in einem Londoner Franchise-Arthouse-Multiplex Paul Schraders First Reformed nach. Die heimelige Künstlichkeit des Kinos nahe dem Picadilly Circus, das diverse Stile kulinarisch überblendet, versinnbildlicht das Boutique-Prinzip. Wie von einem anderen Stern dagegen wirkt Schraders gewaltiger Film über einen Mann, den auch ein Priester nicht von seinem Glauben an eine nahende Öko-Apokalypse abbringen kann. Die Szene, in der er seine Visionen ausbreitet, gehört zu den einprägsamsten Momenten dieses Kinojahres. Schrader erzählt dann aber, als einer der wenigen heutzutage, von einer wundersamen Heilung, die zwei, die sich entschieden haben weiterzuwursteln, gemeinsam (oder aneinander) erfahren.
Ein paar glückliche Entscheidungen führen mich in New York in eine Bar, wo ich neben Judy Hill sitze, der glamourösen Hauptdarstellerin aus Roberto Minervinis Dokumentarfilm What You Gonna Do When the World’s On Fire. Sie bestellt Whiskey on the rocks, ich zögere nicht und tue es ihr gleich. Sie erzählt mir davon, wie gerne sie einmal in New York auftreten und singen würde. Der Abend dauert nicht lange, die Bar schließt bald, aber ich behalte ihn in guter Erinnerung; auch weil meine Beschäftigung mit dem schwarzen Amerika hier plötzlich so lebendig und konkret wird. Die Menschen füllen ihre echten «Rollen» so überzeugend auf, dass ich den Eindruck nicht los werde, mit den Figuren eines Films oder eines Romans am Tisch zu sitzen.
In Duisburg setzt mir Werner Ruzicka gleich bei der Ankunft ein Harun-Farocki-Zitat ins Ohr, das dann tagelang weiter summt. Die paar Tage dort fühlen sich an wie eine Rückkehr nach einer längeren Reise. Nur dass ich nun auch Leuten begegne, die ich erst unterwegs kennengelernt habe. Das Diskurs-Festival ist in seiner Weigerung, zu einem weiteren Diskont-Festival zu werden, ein Vertrauter geblieben (und wird es, hoffe ich, weiterhin bleiben). In einem Duisburger Laden, in den ich nie reingegangen wäre, wenn es nicht ein guter Freund besser gewusst hätte, finde ich ich eine Platte von Mal Waldron mit Notenblatt. Sie heißt Free at Last.
Kurz noch ein Lieblingsbuch. Anna Lowenhaupt Tsings Der Pilz am Ende der Welt. Es ist gegen den Eindruck geschrieben, dass alles schlechter wird. Oder: Was man alles lernt, wenn man der Spur eines Schwammerls folgt.
Sarah Khan
1. Kapitalismus kaputt I
Viel von dem Gewohnten schien für die Ewigkeit zu gelten, zum Beispiel die Gewohnheit, dass Kaufhäuser vor Weihnachten voll sind. Zwei Wochen vor dem Fest war ich im Karstadt Berlin-Wedding und kaufte im Erdgeschoss zwischen Handschuhen und Parfümerie kleine Geschenke. Auf dem Weg zur Kundentoilette musste ich durch das ganze Haus gehen, dabei fiel mir auf, wie leer es war. Die Spielzeugabteilung – das reinste Totenschiff. Nicht einmal Personal schien sich noch aufzuhalten. Auch die Unterwäsche und Nachthemden waren nur noch die Fetzen einer Geisterparty. Zehn Jahre zuvor hatte ich inmitten des größten Gedränges Puzzle, Playmobil, Star Wars Merchandise und Puppenzubehör für die Kinder gekauft. Die Kinder sind nun Teenager, die sich Turnschuhe und Bargeld wünschen, wir können das Kaufhaus nicht mehr retten, aber warum tun es Andere nicht? Einige Abteilungen verschwanden schon Jahre zuvor – die Theaterkasse, der Sofort-Schuster, und die lebenden Kaninchen in der Tierhandlung im Untergeschoss, alles gone. Bald wird es die Spielzeugabteilung erwischen, danach kann eigentlich der ganze Laden dicht machen. Der Kapitalismus, wie ich ihn kannte, ist kaputt. Es trifft aber nicht nur Warenhäuser, gerade die Einzelhändler gehen jetzt kaputt. Der Gemüsetürke um die Ecke, der Bäcker, die Nachbarschaftskneipe sind in vielen Kiezen keine Selbstverständlichkeit mehr. Bin ich traurig deswegen? Natürlich, dem Handel haben wir viel zu verdanken, er gehört untrennbar zu unseren Mittelstandsbiografien, er finanzierte Studienabschlüsse und das gute Leben. Für viele Migranten war er die einzige Möglichkeit zum Aufstieg. Wenn der Handel keine Existenz mehr bietet, ob angestellt oder in der Selbständigkeit, dann stimmt etwas Grundsätzliches nicht mehr.
2. Kapitalismus kaputt II
In Moabit wurde ein nagelneues Einkaufszentrum gebaut, und im Spätsommer eröffnet. Es nennt sich Schultheiß-Quartier, aber Schankbier gibt es nirgendwo. Es ist leer, es ist deprimierend, hier kommen Filialen zum Sterben hin. H&M, ein Ort der Stille, eine Mahnung an den unkomfortablen Pullover. Bei Rituals nehmen die Aushilfen schon die Farbe der lila Tapete an. Nicht einmal Jugendliche wollen hier die Zeit totschlagen, auch nicht bei freiem Wlan, die rennen schreiend weg. Zwei Läden mit Ergänzungsnahrung für Bodybuilder haben nie geöffnet. Der Weihnachtsmarkt im Hof war ein Trauerspiel, ein Angebot ohne Nachfrage, ein Zombie ohne Zähne. Einzig das Krustenbrot in der kleinen Filiale von Butter Lindner verkauft sich. In Pankow wird gerade ein Einkaufszentrum geplant, das 2021 eröffnen soll, bei dem jetzt schon im Rathaus über den Abriss in zehn Jahren nachgedacht wird. In der Friedrichstraße stehen 35% der Geschäfte leer, Tendenz steigend, die Schaufenster werden mit Werbung abgeklebt, damit es nicht so ins Auge fällt. Abends ist die Gegend sowieso tot. Eine Initiative veranstaltete vor kurzem zwei autofreie Stunden auf dem Abschnitt zwischen den U-Bahn Stationen Französische Straße und Stadtmitte. Wir malten mit bunter Kreide unsere Namen auf die Fahrbahn und machten Fotos, ein Clown auf zwei Meter hohen Stelzen spielte Federball, der Held der Kreuzberger Mieterszene, Baustadtrat Florian Schmidt, zeigte Präsenz, und man konnte kostenlos Tretroller ausprobieren. Die genervten Fahrer in stecken gebliebenen Reisebussen und SUVs warteten sehnlichst darauf, dass wir endlich verschwanden.
3. Lesen
Das Beste, was ich 2018 las, waren die Krimis von Joe Ide um den Detektiv Isaiah Quintabe, den schwarzen Sherlock von South Central L.A. (bisher I.Q. und Stille Feinde, Teil 3 kommt 2019 bei Suhrkamp Taschenbuch). Die Comicserie Maggy Garrisson (bisher 3 Bände) von Lewis Trondheim und Stéphane Oiry ist so viel besser als jede (ja, jede) Netflixserie (bei Scheiber & Leser).
Rainer Knepperges
In Köln geschah im Jahrhundertsommer 2018 (im zweiten, nach 2003) etwas Unvorhersehbares. Die Wiederauferstehung des alten Brunnens am Ebert-Platz. Nach der Rückkehr der für immer geschlossen geglaubten Kinos an den Ring, nun dieses noch größere Wunder: Ein 30 Jahre lang trockener Metall-Baum hatte um sich herum wieder (wie damals, als ich in den 80ern nach Köln kam) diese Riesenfrüchte aus gewölbtem Wasser! Jeden Tag, weil ich es gar nicht glauben konnte, schaute ich mir den Ebert-Platz an. Den vermutlich (zumindest anfangs) meist fotografierten Platz der Welt. Die angebliche «NoGoArea» war über Nacht zur Sesamstraße geworden. Mit den Wassersphärenkugeln, in denen glückliche Kinder (oft paarweise) Verstecken spielen, schuf sich die Stadt ein neues Touristenziel, einen Garten Eden aus Asphalt, Beton, Metall, bewegtem Wasser und beglückten Passanten.
Ein paar Meter nur entfernt davon spielte Eugene Chadbourne seine Version von Jimi Hendrix’ May This Be Love: «My worries seem so very small / With my waterfall», im King Georg, Ende August.
An einem Juliwochenende wurde im Frankfurter Filmmuseum eine sensationelle Entdeckung gemacht: Alles ist Musik. Tutto è musica (1963) ein Technicolor-Schlagerfilm aus Süditalien, von und mit Domenico Modugno («Volare»). Kein gewöhnlicher Schlagerfilm, das merkte man schon am Vorspann, der hineinfuhr in Modugnos ärmlichen Heimatort. «Volkskunstavandgarde» hat Christoph Huber es treffend genannt. Film, der amüsieren und wirklich überraschen und rühren wollte, und das alles tat, als gäbe es auf der Welt nichts Leichteres. Niemand im vollbesetzten Saal war darauf vorbereitet. Auf Twist und Oper und Sketche a la Beckett, beispielsweise, und Schwertfischfang-Dokumentarfilm-Liebestode... Was ist ein Schwertfischfang-Dokumentarfilm-Liebestod? – Ja... zu beschreiben ist das nicht. Daher der fiebrige Stolz all derer, die in Frankfurt nach dem Film auf die Straße traten und gemeinsam hatten, das Unbeschreiblichste gesehen zu haben!
Im Oktober dann in Andalusien: ein Sonnenuntergang (über der Alhambra!), der Himmel (wirklich ein Gewölbe) flammend rot, und darunter die verschneite Gipfelkette der Sierra Nevada – wie ein überzeugender Gedanke – weitergedacht in weißen Nebelwölkchen, die unzusammenhängend auf Granada herumlagen.
Ekkehard Knörer
2018 war voll und kurz und ich muss durch den Kalender gehen, um ein wenig eine Ordnung zu bringen in das, was bleibt. In der Erinnerung eher Kraut und Rüben. Etwa Neapel, das beim Besuch hielt, was alle versprachen. Gebeine, der Vesuv, Herculaneum: das Allgemeine. Und wir zu dritt, mit Hüpfball, im Ecomesarà, beim Ausflug: das Private. Korfu: ein schwarzer Gummischwan und die lange Fahrt zu ihm. Den letzten Reacher gelesen, in der Hängematte unter Bananenstauden am Strand, fast lächerlich paradiesisch. No stress. Sehr gut, Make Me, minimal action literature, gerade, hier und jetzt in Brodowin, lese ich den nun schon wieder nächsten, Past Tense, lässt sich sehr gut an. Und Annie Ernaux' Erinnerungen eines Mädchens, Weihnachtsgeschenk, um past tense geht es da auch, fabelhaft intrikat. Außerdem, 2018: Philipp Weiss' wunderbar gebändigte Maßlosigkeit, Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen.
Kino, wenig, denke ich, aber Zama war da natürlich, ein Fiebertraum, anderes, das andere begeistert hat, ist sehr schräg an mir vorbei, eingeschlafen bei Call Me By Your Name und ratlos vor Glücklich wie Lazzaro, bei dem mir Willkür und falsche Romantisierung schien, was so viele andere bezauberte. Wie letztes Jahr schon die Jury für den besten deutschen Spielfilm. Wie letztes Jahr unendlich viel dabei, das im besten Fall egal ist. Oder schlimm. Nur eine richtige Entdeckung gemacht, Sandra Wollners Das unmögliche Bild. Ach ja, spät im Jahr noch etwas, von dem ich schon dachte, dass es das nicht mehr gibt: ein supersmarter Hollywoodfilm, ausgerechnet aus dem Marvel Cinematic Universe, Into the Spider-Verse.
Theater, viel, denke ich, aber sehr wenig, das mich kriegte. Es bleibt vor allem Sebastian Hartmann, In Stanniolpapier in Berlin und Erniedrigte und Beleidigte in Dresden, auf dessen Inszenierungen ich mich weiter vorbehaltlos freue. Ersan Mondtags Salome dagegen im Gorki, der Pollesch im DT, von Leander Haußmanns törichtem Stasitheater zu schweigen: alles enttäuschend bis richtiggehend von Übel.
Mit Danilo über Twin Peaks sprechen, post Dercon eine seltsame Volksbühnen-Diskussion über Dercon, mit einem Publikum, das echte Schauspieler fordert und überhaupt das Schlimmste befürchten lässt, wie sowieso der Volksbühnenkongress.
Brüssel, Köln, Besuche bei Freunden. Das bleibt.
Rainer Komers
Zum Abschluss der Duisburger Filmwoche wurden Schwarzweißfilme aus den 70er Jahren gezeigt: Par desmit minutem vecaks – Zehn Minuten älter von Herz Frank (Riga) und Tarva yeghanakner – Die Jahreszeiten von Artavazd Pelešjan (Jerewan). Werner Ružička hatte mich um eine kurze Einführung gebeten.
Nach 1 Woche mit Filmen hier in Duisburg, in denen viel und über die viel gesprochen wurde, sehen wir jetzt 2 Filme, die ihre Wurzeln im Stummfilm haben, als Gesichter allein mittels ihrer Muskulatur, bzw. der Mimik sprachen oder auf der silbernen Leinwand allein die Körper, Beine und Hände sprachen – reiner Ausdruck, reine Bewegung. Lettischer Expressionismus bei Frank, kaukasischer Slapstick bei Pelešjan – und Tarkowskij drückt beidem den russisch gefärbten Oststempel auf: «Der Osten war der ewigen Wahrheit stets näher als der Westen, die westliche Zivilisation aber hat den Osten mit ihren materiellen Lebensansprüchen verschlungen.»
Zehn Minuten älter und The Seasons – beiden Filmen haftet untergründig Schicksalhaftes, etwas Religiöses an. Der Mensch ist seinen Gefühlen bzw. der Natur und ihren Elementen ausgeliefert. In einem unabänderlichen Kreislauf und in der Schwerkraft gefangen, muss er sich ständig behaupten, um den Kopf oben zu behalten. Und doch schlagen beide Regisseure, Pelešjan und Frank, in ihren Filmen eine Brücke zur filmischen Avantgarde, der im Osten wie der im Westen. Pelešjan beruft sich auf Eisenstein und Wertow. Godard ließ sich Pelšjans Filme während des Festivals in Nyon zeigen und bemerkte dazu:
«Pelechian’s films appeared to me to only come from the cinema. A cinema which is original and inventive, entirely outside of America. I rediscovered the application of what the Russian filmmakers called montage. Montage in the deep sense, in the sense in which Eisenstein called El Greco the great monteur of Toledo.»
Und Pelešjan antwortet: „Das Kino basiert auf drei Faktoren: Raum, Zeit, wirklicher Bewegung. Diese drei Elemente existieren in der Natur, aber unter den Künsten findet sie nur das Kino. Dank ihnen kann das Kino die geheime Bewegung der Materie aufspüren. Ich bin überzeugt, dass das Kino zugleich die Sprache der Philosophie, der Wissenschaft und der Kunst sprechen kann. Vielleicht ist es diese Einheit, nach der schon die Alten auf der Suche waren.“
Lassen wir uns vom geheimnisvollen Muskelspiel, das die beiden poetischen Kamerafilme in so unterschiedlicher Dynamik und Rhythmik aufzeichnen, in vormoderne, ewige Landschaften entführen, in die der städtischen Kindergesichter aus Riga und in die wilde Gebirgslandschaft der armenischen Hirten und Schäfer; denn – noch einmal Godard - «das Kino war ja eine Sprache vor Babel, die jeder verstehen konnte, ohne es lernen zu müssen.»
Florian Krautkrämer
Viel David Foster Wallace gelesen, dieses Jahr, seine langen Reportagen und den posthum veröffentlichten Bleichen König. Bei siebenstündiger Pendelstrecke (ein Weg, keine Verspätung) kommt man nicht mehr so viel ins Kino, dafür aber mehr zum Lesen. Bei Wallace geht es – das passt zum Pendeln – oft um Langeweile: Man studiert, sagt Wallace in «Das hier ist Wasser», um beim Warten im Supermarkt an interessante Sachen denken zu können anstatt sich zu langweilen; oder, so die Beobachtung in seiner Wahlkampfreportage, man beschäftigt sich mit Politik, weil man noch nicht mal den Gedanken an Langeweile ertragen kann. DFW beschreibt große Ereignisse auf so eine nüchterne und langweilige Art, dass man den Untergang der Menschheit herbeisehnt. Auch der Bleiche König ist ein Projekt über Langeweile. Wallace gelingt es, diese so zu beschreiben, dass sie nie interessant glänzt, aber trotzdem zur Untersuchung reizt.
Ich mag langweilige Filme. (Nicht Filme über Langeweile, sondern, wie beim Bleichen König, Teil der Langeweile seiend). Wenn langweilige Filme gut sind, nennt man sie Slow Cinema. Und die besten, die ich dieses Jahr gesehen habe, hatten mit Kindern zu tun: The Florida Project (Sean Baker) und Fridas Sommer (Carla Simon Pipó). Man sieht darin, dass Kinder Langeweile zulassen können, sie umarmen, und sich darin einlullen. Langeweile ist gleichzeitig Bedrohung (in Kontrast zu Bekanntem) wie auch ein unbekannter Kontinent, der Neues verspricht, ein weites Meer, das durchschwommen werden will.
Trotz der langen, sich wiederholenden Bahnfahrten habe ich leider viel zu wenig Zeit für Langeweile. In meinem Seminar zur Inszenierung des Alltags haben wir deshalb Georges Perec gelesen, als Anleitung, und ein Student hat eine App programmiert, die jedes mal ein Foto aufnimmt, wenn er sein Handy entsperrt. So entstanden über einige Wochen hinweg mehrere hundert Bilder, meist mit seinem Gesicht vor wechselndem Hintergrund. Am Schluss hat er sie ausgedruckt und in Form eines nach Tagen geordneten Balkendiagramms über mehrere Meter lang an die Wand gehängt: ein graphisch visualisierter Gradmesser des Langeweilemanagements.
Elena Meilicke
Im Februar endlich Disputation: Paranoia und technisches Bild, I did it.
Im März Michaela Meise bei Thomas Meineckes Plattenspieler im HAU. Sie spielt ihre eigene Platte «Ich bin Griechin», Lieder aus Südosteuropa, von Meise ins Deutsche übersetzt und am Akkordeon begleitet, schlicht, schön.
Ein paar Monate darauf ebenfalls im HAU inszeniert Alexandra Bachzetsis genderbending Tanztheater zu griechischen Schnulzen aus den 40ern und 50ern: «Private Song».
Beim Cinema Ritrovato in Bologna Julij Fajts Mal'čik i Devočka (Boy and Girl, UdSSR 1966) gesehen und bezaubert gewesen: Nouvelle Vague auf Russisch, taubenblau und fliederfarben, jugendliche Körper in der Meeresbrandung, Sex vor psychedelischer Blumenwiese. Außerdem mochte ich die Filme von Luciano Emmer: Le ragazze di Piazza di Spagna (Italien 1952) und besonders La ragazza in vetrina (Italien 1961): im Mittelpunkt zwei italienische Gastarbeiter, zu Beginn enge, dunkle Bilder unter Tage, gefolgt von einer wilden, lebensbejahenden Kneipentour durch Amsterdams Rotlichtviertel.
Im Sommer meine erste Reise nach Russland, St. Petersburg. Die Eremitage ist überlaufen, viel schöner der Besuch im Russischen Museum: großformatige Gemälde von Meerjungfrauen, und Jesus erscheint dick eingemummten Bauern vor apricotfarbenem Wolkenwinterhimmel. Redefinition of Kitsch. Ich esse zum ersten Mal georgisches Essen und finde es großartig: Chatschapuri.
In Weliki Nowgorod, wo einige der ältesten Gebäude Russlands stehen und endlos viele Kirchen, stolpern wir zufällig in ein kleines Kinomuseum: ein Liebhaberprojekt, der Direktor selbst führt durch die Räume, zeigt uns seine Exponate, alte Kameras, Filmplakate, unendlich viele Autogrammkarten von Schauspielern, die ich noch nie gesehen habe.
Ein paar Tage Strandurlaub am Ufer des Ladoga-Sees, während der deutschen Besatzung Leningrads Ausgangspunkt der «Straße des Lebens», Evakuierung übers Eis. Heute Ziel von Tagesausflüglern aus Petersburg und Reisebussen mit chinesischen Touristen. Ein Mann schenkt uns einen Nawalny-Button. Am Ende des Strands ein großes, kaum besuchtes Museum, draußen Geschützabwehrkanonen, drinnen lebensgroße Puppen in Sanitäterinnen- und Soldatenuniformen aus dem Zweiten Weltkrieg.
Nachmittags im Hotelzimmer Youtube-Session mit Tscheburaschka und Gena, dem Krokodil: Was für schöne Kinderlieder die Russen haben, wie hinreißend melancholisch ein Geburtstagslied sein kann. Eine Woche stirbt Eduard Uspenski, der sich die Figuren in den 60ern ausgedacht hat.
Zurück in Berlin drei Wochen obsessed mit Avital Ronnell, täglich alle neuen Zeitungsartikel, Facebookposts und Blogeinträge verschlungen und nachgedacht über Lehren, Lernen, Libido, Übertragung und Machtmissbrauch; hängengeblieben sind die Texte von Patrick Bahners in der FAZ und Keguro Macharia in The New Inquiry.
Bücher gelesen und gemocht von Melissa Broder, Emmanuel Carrère, Ann Cvetkovich, Annie Ernaux, Lidia Ginsburg, Edouard Levé, Sally Rooney, Alexander Schimmelbusch und Nadja Spiegelman.
Im Herbst Übersiedelung nach Wien für ein Jahr, Arbeit an der Filmakademie, Wohnen im 18., ein paar Straßen weiter fangen die Villen an, es ist beschaulich. Türkenschanzpark und Pötzleinsdorfer Schlosspark. Kaufe bei Humana eine dunkelgrüne Trachtenstrickjacke, weil mir der Loden-Style der Wiener Senioren so exotisch erscheint.
Roland Meyer
Geschichten, die bleiben. 2018 war das Jahr, in dem ich wieder mit dem Lesen begonnen habe: Lesen, wie ich es zuletzt fast verlernt hatte, also nicht das professionelle Durcharbeiten von Textmassen, sondern sich für Stunden und Tage ganz dem Fluss einer Erzählung überlassend. Der äußere Anlass war meine neu gewonnene Pendlerexistenz, die mir seit Beginn des Sommersemesters jede Woche rund sieben Stunden im Regionalexpress bescherte, die ich immer häufiger mit einem Roman in der Hand verbringen sollte. Und so begann für mich dieser Sommer, der dann tatsächlich beinahe kein Ende nehmen sollte, ausgerechnet mit Madame Nielsens Der endlose Sommer, mit der Geschichte des Jungen, der «vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß», und der Beschwörung eines Sommers außerhalb der Zeit, in dem alles möglich ist, auch wenn oder gerade weil er vielleicht nur in der Erzählung existiert. Und mein Sommer 2018 endete mit dem Leben des Vernon Subutex von Virginie Despentes, die in drei Bänden bekanntlich von weit mehr erzählt als nur vom Leben ihres Protagonisten und die Wut, Verzweiflung wie die Hoffnung eines immer weiter anwachsenden Chors von Figuren zu einem vielfach gebrochenen Requiem auf die spätkapitalistische Gegenwart zusammenführt.
Während mir von den Filmen des Jahres vor allem Bilder im Gedächtnis geblieben sind (die Stoffe und Nähte aus Phantom Thread, der Blick über die afghanischen Berge in Wolf and Sheep, das Gesicht des Lazzaro Felice), bleibt von diesen beiden Romanen, die so unterschiedlich sind, die Erinnerung an fast mythische Erzählungen, die, wie mir dann irgendwann bewusst geworden ist, auf dieselbe Frage eine Antwort zu finden suchen: Wie kann eine linke, oder vielleicht auch nur: emanzipatorische, Idee von Gemeinschaft aussehen? Beide Autorinnen entwerfen nämlich nicht zuletzt Formen der Vergemeinschaftung jenseits von liberalem Konkurrenzirrsinn wie identitärem Eigentlichkeitswahn, freie und offene Kollektive, in denen Individualität und Differenz nicht im Widerspruch zur Erfahrung von Verbundenheit stehen. Sie erzählen, mal eher nüchtern, dann wieder fast sentimental, von den Bedingungen, in denen sich solche fragilen sozialen Gebilde formen, den Gefahren, die ihnen drohen, und von dem, was sie trotz allem zusammenhält: die Liebe zur Kunst, die Musik, die Sehnsucht nach dem guten Leben. Und sie tun dies, Vernon Subutex sogar ganz explizit, in Absetzung zu all jenen fatalistischen Erzählungen, die den Großteil der kulturindustriellen Produktion, nicht zuletzt die unvermeidlichen Qualitätsserien der Streamingdienste beherrscht – den Geschichten vom unablässigen Kampf aller gegen aller, der zumeist keine anderen Ziele mehr kennt außer der Abwehr einer gesichtslosen äußeren Bedrohung, der ultimativen Rache an den Feinden oder dem schieren Überleben. Anders als etwa in den Welten von Westworld oder Game of Thrones, in denen auch ich in den vergangenen Jahren ungezählte Stunden verbracht habe, findet sich bei Madame Nielsen und Virginie Despentes eine Hoffnung, die über das Bestehende hinausreicht. Das wäre vielleicht nicht das Schlechteste, was von 2018 bleiben könnte.
Gregor Mirwa
Wie etwas bleiben kann, das unwiederbringlich verloren ist.
Lasst uns mal das Jahr 2018 als ein Haus vorstellen, das in der letzten Herzsekunde des ausgehenden Jahres abgesperrt wird. Das Jahr schlägt Funken in der Luft. Gaspistolen im Soldiner Kiez. Chinakracher. Polenböller. Dann Tür zu. Nummer 2018 als geschlossene Gesellschaft strahlt eine toxische Wärme aus.
Jetzt kommen doch die Nachbilder.
Wie das Fenster auf die Netzhaut des geköpften Kaninchens.
Sommer.
Auf dem Rücken treiben in der Bucht unterhalb von Popova Luka. Zwei Seesterne, zum Greifen nah. Sie sagen, dass der Plastikmüll aus Albanien kommt. Zahnpastatuben aus dem Krieg um die Ägäis. Styroporkugeln, Spritzen und ausgebleichte Balsaplanken. Es ist heiß. Ein nasser Hund läuft ins blaublaue Meer und gleich wieder hinaus. Er schüttelt sein fuchsrotes Fell auf unser Handtuch und hechelt freundlich. Weit draußen hat eine weiße Yacht Anker geworfen. Mir fallen Antonioni, Turanskyj, Oligarch und Sonnenmilch ein, die wir vergessen haben. Die Jungs drücken sich gegenseitig die Köpfe unter Wasser. Die Luft riecht nach Khif.
Frühling
Hab ich nicht mitbekommen. In dieser leeren Zeit frühstücken die Henker, Fotographien werden herumgereicht mit Beweisen für Senfgas und Nowitschok. Protokolle werden geschrieben, Verträge durchverhandelt.
Januar, Oktober
Nicht aufeinander zugehen, sondern einen Weg finden, schreibt Fernand Deligny, also zeichnen wir Karten (lignes d’erre). Es geht nicht um eine neue Erde, sondern um Flöße. Ein Floß kann ein kleines Plateau im Busch sein. Haltepunkt des Irrens, etwas zwischen Luft (air) und Nest (aire). Eine Veranstaltung im Ausland zur Poetik der Antipsychiatrie.
Zwei Mädchen, Anne und Isabelle, beobachten den Waschvorgang unten am Bach in den Cevennen. Aus irgendeinem Grund wird der Vorgang unterbrochen. Vielleicht wird zum Essen gerufen. Sie bleiben dort stehen und warten. Es dauert lang, aber es geht nicht weiter. Als wäre der Prozess verschoben, ausgesetzt, vergessen. Die beiden stehen immer noch da. Auf einmal beginnen sie etwas zu tun mit den Händen. Sie beugen sich herunter, strecken sich, reiben und werfen Arme und Körper, eine Pantomime, kein Krampf. Sie waschen. Sie ergänzen das, was fehlt. Sie bringen das zu Ende. Aber das sind unsere Begriffe. Überhaupt, Wasser. Kochen, Saubermachen, Wischen (bevor es das Gleichlautende auf den Glasoberflächen elektronischer gadgets gab), Waschen. Feuchtarbeit. Verrichtungen des Füllens und Wiederherstellens, der Korrektur, des Wiedervonvornebeginnens. Struktur. Haltepunkte. Chevêtres, im Spinnennetz des Alltags.
Die Linien des Lebens sind verschieden / Wie Wege sind, und wie der Berge Gränzen...
Im 18. Stockwerk des westlichen Bettenturms ist der Raum, in dem mein Vater liegt, abgeschirmt. Allen ist klar, er wird sterben. Am Monitor laufen bunte Linien übereinander, Zahlen springen auf und ab. Rhythmus. Druck. Sättigung. Temperatur. In der Nacht spreche ich leise auf ihn ein. Am nächsten Tag schaut der Monsignore das Plastik-Fläschchen mit dem Weihwasser aus Lourdes lange an. Die letzte Ölung heißt jetzt Krankensalbung. Danach lassen wir das Beatmungsgerät abstellen. Erst passiert gar nichts. Nur sein Atem wird vorsichtig. Die rote und die blaue Linie beginnen sich ähnlich zu werden. Grün ruckelt, bleibt stehen, schaut sich um. Die Zahlen sind stabil niedrig. Temp 35,2. Irgendwann ist früher Abend.
Etwas, das bleiben wird, ist ein Verlust.
Franz Müller
Japanische Holzdrucke im ostasiatischen Museum in Köln (Sonderausstellung, nicht hinfahren!)
Farbverläufe an Himmeln über dem chinesischen Meer (unglaublicherweise durch Übereinanderdrucken erzeugt). Überhaupt: Was für Farben! Echtes Pigment.
Was abgebildet ist: neben beliebten Schauspielern: Müllhaufen, Stoff im Wind, Regen.
Erstaunlich, konkret, zugewandt, modern und wie abwechslungsreich gegenüber den immer gleichen akademischen Motiven in der europäischen Malerei zur gleichen Zeit. Filme wie Ohaio kommen nicht aus dem Nichts.
LA FLÓR
kollektiv, unabhängig, überfließend, Kino als Volkskunst, in der jede und jeder den Raum bekommt, den sie oder er braucht. Offen in jede Richtung und mitreißend inkonsequent, ohne dabei auseinanderzufallen. Eher ein mächtiger Baum in seinen besten Jahren als eine Blume.
Die letzten drei Episoden einfach nur wunderschön und von berückender erzählerischer Kraft.
Eine Liebe zum Kino, die gelebt ist und nicht zitiert.
Zwei alte Sterne Songs: Verregneter Sommer und 1988
Die im besten Sinne rücksichtslose Selbstlevitenlesung von Anke Stelling zur Buchpremiere im Sommer. Im Herzen des Buchs der titelgebende für den aktuellen Wohnungsmarkt (der ja keiner ist) erfundene Konfirmandenspruch (in sinngemäßer Wiedergabe, weil ich die Stelle im Buch nicht auf die Schnelle finde): Die Schäfchen im Trockenen zu haben, bedeutet nicht, mit dem Schäferhund befreundet zu sein. Sondern das Land und die Weide zu besitzen.
Wo sich Machtverhältnisse sprachlich ausdrücken wollen, wird es saulustig.
Ein Improspielwochenende auf dem Land. Ohne Coach und ohne Anleitung. Das im Moment Erfinden im Spiel mit anderen ist einfach das schönste, was sich erzählerisch erleben lässt.
Maria Bill – I mecht (so gern) landn.
ROMA
Seit HUNGER GAMES (1), FANGO und TONI ERDMANN habe ich nicht mehr das Gefühl gehabt, dass ein Film so heutig ist. Bei Cuarón ist es am schönsten. Moralische Geschichten sind einfach die besten.
Und zum Jahresabschluss noch die Knallerminiretro im Arsenal: Leo McCarey.
Grandioser Auftakt: THE AWFUL TRUTH mit Rainer Knepperges als Peter Bogdanovich. Große Stand-up vor großer Komödie. Der Film, in dem man Cary Grant dabei zusehen kann, wie er sich als Schauspieler erfindet. Und da ist viel Unsicherheit und Befangenheit zu sehen, was es noch interessanter macht. Irene Dunne ist schon voll da: umwerfend!
Mid High – in dieser Retro eher ein Mount Everest: MAKE WAY FOR TOMORROW. Wie bei Anna Karenina wird da aus allen Richtungen erzählt. Kaum auszuhalten, wie sehr man mit allen diesen Menschen mitfühlt und ihnen dabei zusehen muss, wie sie sich schreckliche Dinge antun. Keiner will etwas böses. Ozufilme kommen nicht aus dem Nichts – 2.
Zum Schluss dann noch das Remake von LOVE AFFAIR: AN AFFAIR TO REMEMBER. 20 Jahre später. Leo McCarey hat seinen eigenen Film noch mal gedreht. Weil Cary Grant ihn dazu überredet hat. Wahrscheinlich weil es wenige Regisseure gab, die ihren Schauspielern so viel Raum gelassen haben. Toll, Grant dabei zuzusehen, wie er sich diesen Raum so nimmt, dass man ihn vergisst.
Die traurige Gewissheit, dass in unserem europäischen textbasierten Filmfinanzierungssystem diese Art von filmischer Arbeit nicht vorgesehen ist. Um die schlimmsten Dinge in Komödien zu erzählen, müsste man aber so arbeiten können. Ohne ausgeschriebenes Drehbuch. Mit Schauspielern.
Übers ganze Jahr gelesen: Sick In The Head, das Interviewbuch von Judd Apatow. Als Antidot.
Mein Lieblingsdialog aus einem Gespräch mit Jeff Garlin:
Judd: Is it important to you if your kids are smart?
Jeff: No. I mean, yes, I hope they're smart and self-reliant so they can enjoy life-but they'll probably be more miserable if they're smart. If they're stupid, they're going to have a great time. Because really, everything is created for stupid people. Books, movies, TV shows for the most part-they're for stupid people. So they would be much happier if they were stupid. But I think both my boys are going to be miserable just like their father.
Judd: So they'll be smart and miserable.
Jeff: Well, they go hand in hand.
Judd: Yeah.
Jeff: Do you know any smart people who are just, like, chill? Really happy? No, seriously, do you know any smart people just, like, «Hey, weeeee!» You don't, do you?Judd: I don't. I mean, I don't think I'm smart. But I think I'm beginning to think I'm smart based on how miserable I am.
...
Und Gary Shandling sagt dann in einem anderen Gespräch noch den schönen Satz: Life is ridiculous. So why not be a nice guy...!?
Kein E, kein U. Man möchte auswandern.
Cristina Nord
März/ April
Eine Reise ins Hinterland von Salvador da Bahia. Das verschlafene Cachoeira, eine Flussfahrt auf dem Río Paraguaçu, vorbei an Mangrovenwäldern, einem aufgelassenen Ingenio (hier wurde früher und unter Einsatz versklavter Menschen Zuckerrohr produziert) und weiter zu einem Kloster, über uns Gewitterwolken, vom Sonnenlicht dramatisch ausgeleuchtet; auf der Rückfahrt regnet es in Strömen. Später erfahren wir, dass dieser breite, sich verzweigende Fluss die Rückstände der florierenden Agrarindustrie in die Bucht von Salvador und von dort in den Ozean trägt. Weiter geht es nach Westen, einmal verschweigt das Navigationsgerät, dass man nur per Fähre weiterkommt, die Straße hört kurz vorm Uferschlamm auf, wir warten eine Stunde, das Übersetzen ist eine Freude. Es folgen vier Tage im Vale do Pati, einem abgelegenen Tal in der Chapada Diamantina. Hierhin kommt man nur zu Fuß oder auf dem Maultier, Festnetztelefone gibt es nicht, Mobiltelefone haben keinen Empfang, angeblich leben nicht weit von hier Jaguare. Wir stapfen über karge Hochebenen, steigen steil auf und ab, waten durch Flüsse, baden unter Wasserfällen und essen abends Kochbananen, Feijoada oder Kakteengeschnetzeltes.
Juni
Ein Vortrag von Sara Ahmed über Strategien der Resignation, Killjoy-Feminismus und darüber, warum es manchmal nötig und produktiv ist, stillschweigende Übereinkünfte zu stören und anderen die gute Laune zu nehmen.
August
Ein paar Tage an der Côte d’Opale, der Gegend von Nordfrankreich, wo Bruno Dumont seine Filme und Serien dreht. Alles da: die Frittenbude, die Bunker und der Campingplatz aus P’tit Quinquin, das exzentrische Haus der Industriellenfamilie aus Ma loute, die riesigen Dünen, die, im selben Film, einer der beiden tumben Kommissare hinunterzukugeln nicht müde wird. Hinterher gucke ich Coincoin et les Z-inhumaines mit umso größerem Vergnügen. Was man bei Dumont nie sieht: dass die englische Küste mit ihren weißen Klippen zum Greifen nah zu sein scheint.
Oktober/ November
Tashweesh in Brüssel und Kairo. Frauen, Männer und genderfluide Personen aus Nordafrika, Nahost, Europa und der Diaspora machen sich Gedanken über Feminismus, lesen vor, legen Platten auf, geben lecture performances, streiten und diskutieren. Viele denkwürdige Momente (die spürbare Nervosität im Saal des Kairoer Goethe-Instituts, als Salma El Tarzi über sexuelle Gewalt im populären ägyptischen Kino spricht. Der Moment in Brüssel, in dem die in Belgien lebende Autorin Malika Hamidi über die Stigmatisierung spricht, die Kopftuch tragenden Frauen widerfährt, während Salma El Tarzi kritisiert, dass man in Ägypten einer Religion zugehörig sein muss. Die beiden scheinen aneinander vorbei zu reden, bis sich allmählich aus ihren Sätzen herausschält, dass der Zwang das Problem ist, nicht die Religion). Manchmal Ratlosigkeit und Verlust der Diskursfähigkeit. Was tun, wenn bei einer Diskussion eine Brüsseler Aktivistin Eritrea als dekolonialisiertes, gendergerechtes Musterbeispiel anführt? Zum Glück widerspricht ihr ihr Gegenüber sofort und scharf.
Lektüren & Filme (unvollständig & etwas willkürlich erinnert):
Adam Hochschild: King Leopold’s Ghost, Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil, Achille Mbembe: Kritik der schwarzen Vernunft, Binyavanga Wainaina: One Day I Will Write About this Place, Lucrecia Martel: Zama, Alice Rohrwacher: Lazzaro Felice, Christian Petzold: Transit, Wang Bing: Dead Souls, Ruth Beckermann: Waldheims Walzer, Bruno Dumont: Coincoin ou les Z’inhumaines.
Michaela Ott
Steckt noch was quer?
Immer weniger bleibt, zwangsläufig, mit den Jahren, weil die Jahre immer schneller durchlaufen, die kritischen Filter immer häufiger Wiederholung vermelden; wenig, was ästhetisch erschüttert und zu wiederholtem Durchkauen zwingt. Selbst die Anfrage von Simon Rothöhler kommt immer früher wieder, gefühlte Monate, bevor das Jahresende erneut zu begehen ist. Was hast du bloß das ganze Jahr über getan, gehört, wo hast du hingesehen, auf dass so wenig positiv Aufwühlendes weiter rumort?
Die Dak‘Art als panafrikanische Kunstbiennale lebt als beschwingtes Ereignis fort, windgeblähte Segelartefakte über Atlantikgrund, auberginefarben belippte Hostessen vor Gemälden, postkolonial gehöht. Den Studierenden fielen nach dem Mittagessen regelmäßig die Köpfe in den Nacken; dafür kommentierten sie ihren abendlichen Intensiveinsatz auf dem Dancefloor mit «ganz wie in Berlin!» Wenn aber Dakar gleich Berlin ist, was ist dann Berlin? Wo es doch längst Istanbul, Beirut, Kairo und Damaskus ist, wie migrierende Künstler_innen immer häufiger behaupten. Wo wäre das Ereignis, das in Berlin die symbolischen Raster Berlins verrückt? Die TV-Serie Berlin Babylon vielleicht? Immerhin bringt sie einem die verpasste Geschichtsstunde zur dunklen Seite der Weimarer Republik ins Haus, oder die 4 Blocks-Serie, die einen ab sofort anders durch die Kurfürstenstraße laufen lässt.
Der Film Glücklich wie Lazzaro, von Cargo nicht des Gradens für wert befunden, steht schon wegen seines unglaubhaft unerschütterlichen Charakters quer im Affekt, deutlich eindringlicher als das Künstlerstereotyp aus Cold War, überprämiert. Der äthiopische Film Lamb, krönender Abschluss von Afrikamera, gibt immerhin den Ausblick auf traumhaft gestaffelte Landschaften und ein erneut träumendes Jungmännergesicht frei.
Eine Essayfilm-Tagung in der Berliner Denkerei versuchte ein weiteres Mal medialen Freiraum für nicht-konventionalisierte Filmformate in den Kinos und bei den Fernsehanstalten zu reklamieren; der rbb versprach großes Reinemachen bei den Öffentlich-Rechtlichen und unverhoffte Chancen für medial Abweichendes wie in den 70ern. Ein Arsenal-Abend mit Fernando Solanas La hora de los hornos machte deutlich, dass 68er-Pamphlete erneut als Waffe in Einsatz zu bringen sind, schon weil neuerdings so viel Totgeglaubtes erneut die Bühne betritt: Personen, die sich auch ohne Migrationshintergrund ausgeschlossen empfinden, solche, denen das Eigene nicht first genug ist, solche, die ununterbrochen unvorhergesehen anders paktieren, mit Nordkorea gegen Nordkorea usf.; Depressionen, sagt die Statistik, nehmen im großen Stil zu. Carl Schmitt alias Herfried Münkler behaupten, dass das an der mangelnden Freund-Feind-Unterscheidung liegt; der Krieg müsse entmolekularisiert, feindbildschematisch erneut eingehegt werden.
Haraway empfiehlt dagegen, Kompostistin zu werden, da der Homo vom Humus kommt. Ich habe einen Kompost in der Uckermark gekauft. Wenn der symbolische Abgleich zwischen Queerhype, digitalen Vereinnahmungsapparaten und Kriegsmolekülen nicht mehr klappt: im Kompost verträgt sich Quersteckendes gut.
Kathrin Peters
Im vergangenen Jahr habe auch ich mit Begeisterung die Vernon-Subutex-Romane gelesen. Virginie Despentes hat einen Haufen so treffender Figuren entworfen, dass ich immer wieder dachte, diese oder jene Person kenne ich doch, oder sogar, das bin ja ich. Wahrscheinlich, weil der ganze gegenwärtige Identitäts- und Identifizierungsfuror durchgängiges Thema der Romane ist, also abgesehen von der Handlung um den im gentrifizierten Paris wohnungslos werdenden Plattenladenbesitzer Vernon und eine Entourage an Leuten, die erst nichts mehr, dann doch dringend etwas von ihm wollen. Ich bewundere Despentes für ihre Klugheit, diese männliche Verführerfigur, desolat und delirant wie sie ist, in den Mittelpunkt gestellt und alle möglichen weiblichen und queeren Figuren zumindest angeblich drumherum angeordnet zu haben, das Kalkül ist aufgegangen: Es sind Bestseller geworden. Im Despentes-Universum habe ich dann Paul Beatriz Preciados Testo Junkie noch mal ganz gelesen, denn darin geht es ja auch um Virginie Despentes, VD genannt, mit der Preciado zur Zeit des Schreibens eine Beziehung hatte. Testo Junkie ist schon der Form nach queer: das Protokoll eines Testosteron-Selbstexperiments, eine Diskursgeschichte der Hormone, ein Postporno. Eine wahre Lust am Text überfiel mich. Es war auch Preciado, der im Januar eine Erwiderung schrieb auf den von Catherine Deneuve lancierten Brief, der meint, dass die Kultur der Verführung mit MeToo untergehen würde. Preciado nennt, was da verteidigt werden soll, schlicht und ergreifend die Herrschaftsästhetik eines ancien régime sexuel. Ich war erleichtert, denn Deneuve war schon auf akademischen Neujahrsempfängen zitiert worden, unterstützend. Dann, ein paar Monate später, der «Fall Avital Ronell». Wieder sind die Feuilletons voll mit MeToo, aber dieses Mal ist die Lust am nacherzählten sexuellen Übergriff mit einer kaum verborgenen Häme gegenüber allem unterfüttert, was mit gender, queer und poststrukturalistischer Theorie zu tun hat. Doktormütter, die ihre Doktoranden belästigen, das war im ancien régime gar nicht vorgesehen: Zwingt die alte Universität mit ihrem ödipalen Regime also alle, die dort zu tun haben, in dieselbe Herrschaftsästhetik? Unabhängig vom Geschlecht sozusagen? Oder, andere Überlegung, welcher Rhetorik folgt der Skandal und welcher der Machtmissbrauch? Was Leute so in Kommentarspalten schreiben unter die diversen Briefe und Artikel, lässt jedenfalls kaum vermuten, dass irgendjemand daran denkt, abzudanken. Offenbar haben die wenigsten Preciado gelesen, vielleicht aber manche Despentes. Das wär doch was.Im nächsten Jahr geht es weiter mit Sex, Drogen und Biopolitik, da bin ich sicher.
Hannah Pilarczyk
Ich habe in diesem Jahr Jubiläen zu schätzen gelernt. Zum 30. Jahrestag des Erscheinens von The Swimming Pool Library von Alan Hollinghurst, das an verschiedenen Stellen aufgegriffen und als Meilenstein der schwulen Literatur in Erinnerung gebracht wurde, habe ich es endlich gelesen. Zu lang lag es vorher herum; aus Angst, dass es nicht so gut wie Hollinghursts The Line of Beauty sein könnte, nahm ich es nicht in die Hand. Doch es ist wunderbar, full of debauchery, gleichzeitig schneidend klug und dringlich in seiner Schichtung der Lebenswirklichkeit eines jungen, sorglosen Schwulen im Thatcher-London mit der Geschichte eines alten, halb im Geheimen lebenden Lords, der den Jungen beauftragt, seine Memoiren in veröffentlichbare Form zu bringen. Die Erinnerungen des Alten an seine Jugendjahre in der public school, die sich zu einer einzigen sprachlosen, ekstatischen Episode des Sex zwischen den männlichen Mitschülern entwickeln, gilt es festzuhalten – mit dem Buch im Buch, aber auch mit dem Buch an sich. Alan Hollinghurst leistet mit The Swimming Pool Library Erinnerungsarbeit, queer-geschichtliche, subkulturelle, literarische: Motive und Bilder aus Maurice von E.M. Forster tauchen wiederholt auf, wie ich später nachgeschlagen habe. Für mich wurden die Bezüge zu Forster erst klar, als der Junge in die Oper geht und Billy Budd von Benjamin Britten gespielt wird. In der Pause beginnen die Anwesenden, sich an den alten, bereits klapprigen E.M. Forster der späten 1960er zu erinnern, der das Libretto zur Oper verfasst hat und mit Britten liiert war. Wieder dieses Durchdringen von Gegenwart und Geschichte, nicht ausgestellt als musisch-literarische Finesse, sondern gesetzt als Akt des gemeinsamen Benennen und Würdigen.
Als nächstes also Maurice von Forster gelesen, der verfilmt wurde von James Ivory, der in diesem Jahr für seine Adaption des schwulen Liebesromans Call Me By Your Name den Drehbuch-Oscar erhielt. Auf das Hemd des 89-Jährigen bei der Preisverleihung gemalt: Das Gesicht des 23-jährigen Hauptdarstellers Timothée Chalamet.
Es ist weder eine Verschwörung, noch ein Muster, das sich für mich durch The Swimming Pool Library in diesem Jahr aufgetan hat, sondern vielmehr ein Erkennen, wie die Arbeit an einem kollektiven Gedächtnis aussehen kann, über Generationen und Sparten hinweg, getrieben von Solidarität, ungebunden von Ironie- und Postmoderne-Diskursen. Für diesen Prozess des Gedenken, Anknüpfen und Neuverbinden erscheinen mir ausgerechnet Jubiläen mittlerweile extrem wichtig. In diesem Sinne: Februar – Cargo 10 Jahre Bestehen, November – 30. Jubiläum Weltpremiere Coming Out…
Bert Rebhandl
Im Juli bin ich zum ersten Mal in meinem Leben in Jerusalem. Die Cinematheque, in der das Filmfestival stattfindet, liegt dem Tempelberg gegenüber, dazwischen geht es hinunter in das Hinnomtal, mit dem sich Vorstellungen verbinden, die noch in dem Wort präsent sind, das ich von Hadschi Halef Omar, also von Karl May, gelernt habe: Dschehenna, die Hölle, an die angeblich die Muslime glauben. Zwischen den Filmen mache ich, stunden- oder tageweise, Exkursionen: zu Fuß, mit einem Taxifahrer oder mit einem arabischen Bus, nach Jericho, nach Ramallah, nach Al-Eizariyah (das biblische Bethanien, damals einen Fußweg von der Stadt entfernt, heute hinter der Mauer). Für die zweite Hälfte meines Aufenthalts übersiedle ich aus dem Festivalhotel in ein Hotel in Ost-Jerusalem, mit Blick – nun von der anderen Seite – wiederum auf den Tempelberg. Am Tag vor der Abreise mische ich mich unter die touristisch-religiöse Weltgesellschaftsauswahl, die den «heiligen» Ort am 5. August 2018 besucht. Ich habe zehn Tage lang mit jeder Faser Geschichtlichkeit erlebt: die Zeit der Bibel, den Krisenherd der Gegenwart, meine eigene Geschichte mit dem «jüdisch-christlichen Erbe», und das, was ich daraus gemacht habe – ein Leben mit Filmen und vielen Büchern statt nur einem.
Ich bin spät dran, aber viele meiner Freunde sind noch lange nicht so weit: 2018 verzeichne ich für mich als das Jahr, in dem die sozialen Netzwerke endgültig untragbar wurden. Inzwischen hat auch Twitter die Timelines enteignet, und viele Versuche, sich spezifische Öffentlichkeiten im technischen Zusammenhang der amerikanischen Datenoligopole zu schaffen, sind damit noch stärker an den Rand gerückt. Meine widersprüchliche Reaktion darauf halte ich für bezeichnend: ich bin seit einiger Zeit auf Instagram, und unterlaufe dort die Kirchenspaltung zwischen denen, die konsequent sich selbst in Szene setzen, und den anderen (zu denen die meisten meiner Freunde zählen), die nicht sich selbst, sondern ihr (immer interessantes) Leben zeigen, sich also indirekt in Szene setzen. Ich mache hie und da Selbstporträts, nicht einmal ironisch, meine das aber doch als Protest: auch in einem weltweiten, digitalen, geteilten Fotoalbum steckt etwas Großartiges, das halt leider wieder Facebook gehört. Dagegen zeige ich Gesicht. Irgendwann wird sich der mehrfach gewendete Widersinn in die richtige Richtung drehen. Oder auch nicht.
Während der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland lief alles großartig für Putin. Er ließ sich von seinem ordinären Schackl Medvedev bei den Spielen vertreten, und machte wie gewohnt auf einsamer Verantwortungsträger im Kreml. Bei der Siegerehrung nach dem Finale goss es dann ein paar Minuten heftig, Schirme wurden nicht gleich gefunden, ein Beflissener hatte aber schon einen, und spannte ihn über Putin auf. Macron, die kroatische Präsidentin und der widerliche FIFA-Präsident Infantino standen im Regen. Der kleine diplomatische Fauxpas war für mich das Symbolbild des Jahres: der Regen wird stärker, plötzlicher, unbeherrschbarer (auch ausbleibender), die Schirme werden weniger, sauve qui peut den Despoten, von dem er sich einen Schutzzauber erhofft.
Mein Film des Jahres: Unas Preguntas von Kristina Konrad, im Forum der Berlinale noch übersehen, bei der Dokumentarfilmwoche in Duisburg passte es dann
Mein Buch des Jahres: Beziehungsweise Revolution von Bini Adamczak
Serie: The Crown (Qualitätsfernsehen zum Beginn und vom Ende des Fernsehens)
Manfred Rebhandl
Nacht vom 27. auf den 28. Juli, wir hatten im Restaurant Gallini reserviert in dem kleinen Kaff Sougia an der Südküste Kretas, wirklich sehr unbequeme Holstühle im Kiessand, kleine Tische, und die Mehrwehrtssteuerrechnung, auf die ich in Griechenland bestehe (sagt ruhig Schäuble zu mir!), musste man immer drei Mal reklamieren, sonst kriegte man nur einen Bierdeckel mit einer Zahl drauf.
Aber! Am östlichen Ende des Strandes steht der Felsen, von dem aus die Kinder tagsüber immer runter springen, im Wasser, und hinter dem ging in dieser Nacht plötzlich der so genannte Blutmond auf, eine Scheibe deutlich größer als der Teller, in dem die Linsensuppe serviert wurde. Sogar den Kindern, die unten am Strand waren, um in ihre phones zu schauen, fiel in diesen Minuten kurz die Kinnlade hinunter.
Aber es war ja nicht nur der Mond. Über dem Strand am Nachthimmel reihten sich gut sichtbar für alle, die eine entsprechende App am phone hatten, Saturn, Mars, Venus und Jupiter da oben auf wie eine sehr solide Viererkette in der Premiere League, und die Kinder kriegten während der Nachspeise den Auftrag sich zu überlegen, ob sie nicht vielleicht doch mal da rauf fliegen möchten, um nach Leben Ausschau zu halten, das dem von uns Idioten hier auf der Erde deutlich überlegen ist.
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Neue Viennale-Direktorin, neues Glück. Sie eröffnete mit Lazzaro Felice von Alice Rohrwacher. Ich war zuvor schon lange nicht mehr im Kino gewesen, denn ob man es will oder nicht – diese Scheiß Digitalisierung verändert dein Leben wirklich zum schlechteren. Aber nun saß ich wieder im Gartenbaukino in dieser idealtypisch schlechten Luft und auf «meinem» Platz in der letzten Reihe am Rand, und von dort aus schaute ich mir diesen Lazzaro an, der mich zu Tränen rührte: «Lazzaro, tu dies! Lazzaro, tu das!» Alleine, wie diese gedrungene Gestalt mit den Armen immer leicht vor dem Körper durch die Landschaft geht und dabei sein unerschütterliches Lächeln im Gesicht nicht verliert, hätte ich mir stundenlang anschauen können. Ich weiß gar nicht, ob der Film eine «Botschaft» hatte, und wenn, dann kam sie beim Premierenpublikum nicht an: Die meisten verließen fluchtartig den Kinosaal, und beim großen Fressen während des Empfanges im Rathaus sah man sie den Kopf schütteln und «Kitsch!» vor sich hin schimpfen. Nur ich war über diesen Film so glücklich, wie ich schon Jahre nicht mehr über einen Film glücklich gewesen bin.
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Interview mit Schauspieler Paulus Manker in Wiens bestem Fress- und Sauftempel, dem Schwarzen Kameel. Er ist ungepflegt und übernächtig, arrogant und widerwärtig, und er sagt die ganze Zeit: «Das geht Sie einen Schaas an!» «Das geht Sie überhaupt nichts an!» «Sie haben ein Niveau, auf das ich mich nicht begeben möchte!“»Zwischendurch bildet er sich ein, dass am Nebentisch sitzende 70jährige, goldbehangene Witwen mit ihm flirten würden, bzw. ist es tatsächlich so, dass er mit ihnen flirtet: «Küss die Hand! Da schauen's! Das ist die Frau von dem Galeristen, die steht auf mich! Und da drüben, die hat einmal was mit dem Journalisten gehabt, von dem ich eine Watsch'n gekriegt habe. Oder hab ich ihm ein Glas Wein drüber geschüttet? Jedenfalls sehr scharf, wirklich sehr scharf, die Oide!» Und je länger er redet, desto klarer wird mir, dass es keine «Typen» mehr gibt, nur noch glatt polierte, auf ihr Image bedachte Figuren, egal ob in der Formel I, im Fußball, in der Politik oder der Kunst.
Simon Rothöhler
This Is the Whole Banana
Wenn vom Jahr bliebe, was bleiben sollte, weil es gut war, dann würde mir neben Anne Teresa De Keermaekers jubilatorischem Tanzstück Die sechs Brandenburgischen Konzerte (Volksbühne, bevor Leander Haußmann mit dem Ost-Markenzeichen weitermachen durfte) beispielsweise Christoph Marthalers Rückkehr in den Züricher Schiffbau einfallen: 44 Harmonies from Apartment House 1776 – John Cage als idiosynkratischer Mykologe, gerahmt von fröhlich vereinzelten «Mollseptakkorden» und einem zwischen Adorno und Karel Gott ideal positionierten Hildegard Knef-Zitat, das Ueli Jäggi routiniert kalauernd von einem Blatt abliest («Wer sich mit der Kunst verheiratet, bekommt die Kritik zur Schwiegermutter»). Spukt es in diesem Gründerzeithaus amerikanischer Unabhängigkeitsmythen? Während hymnische Melodien dekomponiert auf den Hallimasch treffen, verwandeln sich Cages «anarchische Harmonien» in pausenaffine Personen, die Notenständer gießen. Sehr super war das, auch weil die oft aufgesuchte Gamper Bar vom Schiffbau aus schnell zu erreichen ist. || Der toll ausgedachte hohe Ton, die Texturexzesse, die hochkulturell verkleidete Knalltütigkeit von P.T. Andersons Phantom Thread werden ebenfalls sehr sicher bleiben (englishness als selbstironische stiffness: verkörpert, bemäntelt und zur nur noch halb parodistischen Drohung gefaltet – aber «not too runny», wie es in Daniel Day-Lewis’ aufgeräumter Frühstücksbestellung heißt (for the hungry boy). || Im Frühjahr besuchen wir alte Freunde der Familie meiner Frau in Formby, ich suche in der Nachbarschaft nach dem Anwesen von Steven Gerrard, finde aber nur die Hütte von Jürgen Klopp und einen kleinteilig ausgeschilderten (Red) Squirrel Walk. || Im Spätsommer dann auf Kreta Olaf Sundermeyers psychopathologisch nicht uninteressantes Gauland-Buch gelesen, in dem der Begriff Grenzöffnung beharrlich ohne Anführungszeichen auftaucht, was dann letztlich doch symptomatisch ist (sehr aufschlussreich hingegen die Traditions- und Tradierungslinien neurechten Denkens, die Volker Weiß in Die autoritäre Revolte bis zu Armin Mohler durch die deutsche Nachkriegsgeschichte zieht). (Und überhaupt: zum wiederholten Mal dankbare Bewunderung für Angela Merkel, die in 2018 auch das letzte Gefecht mit den Andenpaktzombies in aller Kühle für sich entschieden hat.) || Am letzten Urlaubstag schüttet es an der kretischen Südküste in Strömen und ich verfolge stundenlang (mit wachsender Entgeisterung, aber doch auch konträrfasziniert von der stur aufgefahrenen Rampensauhaftigkeit) Brett Kavanaughs denkwürdige spoiled-brat-Aggroperformance, die Matt Damon habituell ziemlich präzise aufs Nasehochziehen eines larmoyanten Wüterichs kondensiert hat. || Und was noch gut war: der traditionelle Einfachbrendelabend in Duisburg Düsterburg | Maruan Paschens Weihnachten | Landolf Scherzers Die Fremden | Gerd Kroskes SPK Komplex | Lebens-Geschichte des Bergarbeiters Alphons S. (Hübner/Voss) | Die zweite Season von The Good Fight | Die jeden Verspätungsalarm locker kompensierenden Seinfeld-Wiederholungssichtungen im ICE | Allison Janney in I, Tonya, Hugh Grant in A very English Scandal und Matt Smith in The Crown (der nicht nur als Duke of Edinburgh, sondern auch bei Kirsty Youngs Desert Island Disc, mit Neologismen wie footballness, ziemlich überzeugend ist). || Und natürlich gibt es sie noch: Reportagen, die «Protagonisten» haben und dennoch 2018 essential reading waren.
Armin Schäfer
1.
THE WOMAN WHO LEFT von Lav Diaz am 4. Februar 2018 im Galeria Cinema in Essen. Diaz erzählt von einer Frau auf den Philippinen, die für einen Mord, den sie nicht begangen hat, dreißig Jahre lang inhaftiert war. Als sie 1997 entlassen wird, beschließt sie, an ihrem einstigen Liebhaber, der für ihre Verurteilung verantwortlich ist, Rache zu üben. Er lebt, reich und mächtig, zurückgezogen in einem Haus, das wie eine Festung ist. Sie verfolgt, zäh und geduldig, ihren Plan: Tagsüber betreibt sie eine Imbissbude, nachts streift sie durch die Straßen, wo sie einen buckligen Verkäufer und eine transsexuelle Prostituierte kennenlernt. Wie ist der Wunsch nach Vergeltung mit dem Anspruch «gut zu sein und doch zu leben» vereinbar? Die Antwort, die der Film gibt, entfaltet ein Melodram. Die Leute harren mitten in ihrem Leben mit einer Hingabe an ein Schicksal aus, die weder Passivität noch Mut, noch Hoffnung auf ein besseres Leben ist. Sie sind vielmehr von einer Art Gewissheit getragen, dass niemand ihre Chance auf einen Glückwechsel wird auslöschen können.
2.
Oswald Egger, der in Bozen geboren wurde, hat aufgedeckt, unter welcher Voraussetzung die Nationalität «Deutscher» zuerkannt wird: Man muss deutscher sein. Die deutsche Sprache offenbart, dass ihre Bezeichnung für die Nationalität ein Imperativ ist, der seinerseits ein Komparativ ist, als ob man Deutscher nur sein könne, wenn man es mehr sei als andere. Siehe Oswald Egger, Deutscher sein, Warmbronn: Verlag Ulrich Keicher, 2013 (= Reihe Literaturhaus Stuttgart; 4).
3.
Die Ausstellung Günter Peter Straschek. Emigration – Film – Politik in der Reihe Hier und Jetzt im Museum Ludwig in Köln. Eran Schaerf hat für die Ausstellung einen Parcours gebaut: Man kann durch einen von zwei Eingängen die Ausstellung betreten und entweder von der Vergangenheit aus auf die Gegenwart zulaufen oder von der Gegenwart aus in die Vergangenheit zurücklaufen. Fünfzig Jahre später sind die Arbeiten von Günter Peter Straschek (1942–2009) wie Gesteinsbrocken, die vom Himmel gefallen sind. Man sieht in Großaufnahme eine alleinerziehende Mutter (HURRA FÜR FRAU E., BRD 1967). Man sieht, wie der SDS-Funktionär Christian Semler das Fräulein C. zutextet, die, stumm und geduldig, ihm zuhört, ohne ein Wort zu entgegnen (EIN WESTERN FÜR DEN SDS, BRD 1967-68). Man sieht einen nackten Mann auf der Bettkante, der zu einer Frau, die unterm Laken liegt, sagt: «Ich verstehe nicht, dass ihr noch immer auf unseren Trick mit der Emanzipation hereinfallt.» (ZUM BEGRIFF DES «KRITISCHEN KOMMUNISMUS» BEI ANTONIO LABRIOLA (1843-1904), BRD 1970) Man liest in Strascheks Handbuch wider das Kino (edition suhrkamp, 1975) über eine Filmindustrie, die Regisseuren, Autoren, Schauspielern größtmögliche Freiheiten um des Profits Willen einräumt. Es sind nicht die Ideen selbst, sondern die Bedingungen, unter denen sie aufkeimen, die zu analysieren sind: «Es gibt im 70er-Jahre-Kapitalismus wohl Schlimmeres denn ein abstraktes Gemälde, Peter Handke oder Herrn Karajans Dirigentenkult.» Straschek begegnet den Leuten, die ihre Ideen, die zweifellos auf ihren Alltag zurückwirken, schon mit Ideologiekritik verwechseln, mit einem Achselzucken und beginnt mit seinen Forschungen zum Exil. (Man kann allenfalls ahnen, was Strascheks Ehefrau Karin Rausch zu den Forschungen beigetragen hat.) Zum einen dreht er eine fünfteilige Fernsehserie für den WDR (FILMEMIGRATION AUS NAZIDEUTSCHLAND, BRD 1973-75), zum anderen erstellt er ein Archiv als Instrument zur Erforschung der Filmemigration, das mittlerweile im Deutschen Exilarchiv in der Nationalbibliothek in Frankfurt am Main aufbewahrt wird.
4.
Im Jahr 2005 lautete der Kolumnentitel eines Aufsatzes: «Ich drucke Ihre ID auf ein Reiskorn». (Siehe Frank Rosenbart, «Datenspur Papier», in: die datenschleuder. das wissenschaftliche fachblatt für datenreisende. ein organ des chaos computer club, Nr. 86 (2005), S. 19-21) Dreizehn Jahre später kann jedem Reiskorn seine eigene ID zugewiesen werden. Man muss kein Paranoiker sein, um zu vermuten, dass jeder handelsübliche Drucker mittlerweile auf dem Papier einen für das bloße Auge unsichtbaren Code hinterlassen kann, der Informationen verschlüsselt, die nützlich sind für eine Beantwortung von Fragen wie zum Beispiel: Wann wurde das Dokument ausgedruckt? Wie lautet die Seriennummer des Druckers, mit dem gedruckt wurde? In welches Netz war der Drucker eingebunden? Wie lautet die IP-Adresse des Rechners, der den Druck angestoßen hat? Muss man ein Paranoiker sei, um zu vermuten, dass in jedem Foto, das ein Mobiltelefon schießt, in jeden Film, den es dreht, verschlüsselt wird, wann, wo und mit welchem Telefon die Bilder aufgenommen wurden?
5.
VIER SCHWESTERN wird zum Gedenken an Claude Lanzmann, der am 5. Juli 2018 verstorben ist, auf Arte gezeigt. Lanzmann hat aus dem Fundus des Materials, das er für SHOAH gedreht hat, vier Gespräche ausgewählt und als Film editiert. Nach VIER SCHWESTERN ist meine Vorstellung nicht mehr dieselbe wie zuvor: Die vier Frauen – Ruth Elias, Ada Lichtmann, Paula Biren, Hanna Marton –, die erzählen, was sie im Nationalsozialismus, im Konzentrationslager, auf der Flucht erlitten und erfahren haben, sind ein Teil meiner Vorstellung geworden, was Nationalsozialismus, Konzentrationslager, Flucht waren. Ich erlebe den Film als einen Schock, weil mir klar wird, wie groß die blinden Flecken sind, die meine Vorstellungen, die ihrerseits maßgeblich durch Lanzmanns SHOAH geprägt waren, mit Blindheit schlagen.
Anja Schürmann
«Instant classic» ist ein oft gelesenes Wort. Ich verwende es nicht gern und denke selten daran. Aber auch ich bin schwach geworden, als ich das Fotobuch Kleinstadt von Ute und Werner Mahler (2018) in Händen hielt. Ich dachte: «Instant classic».
Warum? Nun, es ist schwarzweiß und oft von hoher Tiefenschärfe. Die Bildgeometrie ist altbewährt und unverrückbar. Aber: Nie gesetzt, immer gefunden. Es erinnert an Imperial Courts von Dana Lixenberg, ein Langzeitprojekt mit einer kleinen, innerstädtischen Gemeinschaft aus South Central L.A., das vor allem durch den Kontrast von traditioneller Aufnahme- und Abzugtechnik mit den fiebrigen Dynamiken seiner Bewohner besticht. Und als gemeinsamer Urahne natürlich an die Menschen des 20. Jahrhunderts von August Sander.
Den Kontrast von Jetzt und Früher gibt es auch in Kleinstadt: Die Bilder gleiten auf den Seiten, da es kein repetitives Layout gibt. Durch das annähernd quadratische Format ist die Hierarchie von hoch- und querformatigen Fotos angeglichen. Ein Buch, das Kleinstädte fotografiert, die du immer wiederkennst, obwohl du nie da warst.
Es sind Kleinstädte, die schrumpfen. Kleinstädte, wo die Jugend zwischen Enge und Nähe Position beziehen muss. Das tut auch die Großformatkamera. Immer von einem leicht erhöhten Standpunkt aus zeigt sie uns den Setzkasten Kleinstadt. Alles da, was man kennt, alles drin, was man erwartet und doch einzigartig. Leere wird hörbar und die cornernde Dorfjugend zu Schillers Räubern. Durch den Standpunkt ist die Stadt als tektonisches Ornament sichtbar und doch wären die Bilder als Puzzle schwer lösbar, da die Einförmigkeit sich mit einem Gestaltungswillen verbindet, der nie vorherzusehen ist. Es ist ein Buch, das die Kleinstadt oder die Bewohner weder diskreditiert noch überhöht. Dessen Ereignislosigkeit und Ausgeglichenheit am besten in den wenigen Worten zum Ausdruck kommt, die Ute und Werner Mahler auf der Rückseite abdrucken ließen: «Nach außen verschlossen. Innen ganz bei sich.»
Ich frage mich sowieso, warum man so selten Fotobücher schenkt. Es ist so unglaublich dankbar, weil extrem ausdifferenziert. Du kennst jemanden, der vermutlich eine große Pornosammlung besitzt? Wie wäre es mit Sublimation in Buchform durch Les érotiques du regard von Marc Attali & Jacques Delfau (1968)? Fußballfans kommen auf ihre Kosten, wenn sie Julian Germains In Soccer Wonderland (1994) ihr Eigen nennen dürfen und Kinder freuen sich wie wild über den bestfotografiertesten Zoobesuch aller Zeiten: Garry Winogrands The Animals (1968).
Einer Freundin, die gerade ziemlich ausführlich in Glückstudien und -indexen unterwegs war, habe ich dieses wunderschöne Buch geschenkt, das sich fragt, was Dänemark wohl glücklich macht: Giulia Mangiones Halfway Mountain (2018). Und needless to say dass es eine unglaubliche Fülle von Fotobüchern gibt, die disfunktionale Familien vorstellen. Das beste: Ray's a laugh von Richard Billingham (1996).
Für alle was dabei, fürwahr.
Anke Stelling
Als hätte ich eine Plot-Allergie entwickelt.
Dauernd stirbt jemand oder wird ins Gefängnis gesperrt oder betrogen oder geschieden oder geht zum IS.
Schauwerte, und ich find’s einfach nicht schau.
Ich will nur noch Sachen sehen wie ER SIE ICH von Carlotta Kittel.
Mich interessiert nicht, wer’s war und was genau passiert ist, sondern wer es wie erzählt und was es mit denen macht, die ich zu sehen kriege.
Näher ran will ich. Souveräne Verflechtung statt ewiges Ausweichen.
Was soll das sonst? Wozu die ganze Arbeit?
Im Familienurlaub rettet mich SCHÖNE SEELEN UND KOMPLIZEN von Julia Schoch.
The way we were ist der Soundtrack dazu.
Ich suche ehrliche Erzählungen über alternde Beziehungen. Die sind riskant; wer gibt sich dafür her?
Vielleicht müssen die, die sie schreiben, erst noch viel älter werden.
Jane Gardam: Unfassbar souverän.
In Leipzig erscheint im Oktober die PS #4, Thema: Alter. Zum Glück bin ich zur Lesung eingeladen, sonst hätte ich’s verpasst. Und mich nicht an Heike Geißler erinnert, also noch mal SAISONARBEIT. Und der Schwur, nicht nur mehr Dokumentarfilm zu gucken, sondern auch mehr Literaturzeitschriften zu lesen. Warum bewege ich mich denn auch immer weiter im marktkuratierten Mainstream? Bin ich blöd oder was?
Nein, idealistisch: Das Tolle soll der Mainstream sein. Damit will ich zugeballert werden, anstatt mühevoll danach zu graben.
Noch ist’s wohl nicht so weit.
Über Saisonarbeit zu CITIZEN von Claudia Rankine. Politische Lyrik. Elo Viiding, MUTTERTAG. Die Welt ist voll von den unglaublichsten Sachen.
Und irgendwann (oder hier und dort) wird’s dann doch Mainstream, so wie Hannah Gadsbys NANETTE, und am Ende macht sie Schluss mit Comedy, und ich sitze fassungslos davor und weine und sage: Yes, und das gucken doch Millionen!
Na also.
Es kann weitergehen.
Michael Suckow
Eine Jacke. Ich habe mir eine Winterjacke maßschneidern lassen. Für ziemlich viel Geld. Es ist ein Colani, aka Pea Coat oder Caban. Grober schwarzer Canvas außen, dunkelgrüner Wollfilz innen. Dicke Knöpfe, Knopflöcher grün gesäumt, Kragen unten grün abgesetzt. Kann auf rechts oder auf links geknöpft werden – je nach dem, woher der Winterwind weht. Zwei schräg angesetzte Paspeltaschen außen für die Hände, zwei geräumige Innentaschen für den Notbedarf (Geld, Perso, Taschenlampe, Uhr, Kalender, Telefonbuch, diverse Bücher, Musik, Kamera u.dgl.m.) Schwer und undurchdringlich wie eine Vintage-Lederjacke.
Der Zustand meiner Wohnung ist dagegen seit Jahren unverändert. Ich bin das einzige Wesen auf dieser Welt (außer ein paar Spinnen), das sich in ihr behaust fühlt. Eine geliebte Frau vermutet, seit sie das erstemal in meine Wohnung kam, ein dunkles Geheimnis bei mir. Anders könne sie sich den a-ästhetischen Zustand dieser meiner Behausung nicht erklären.
Manchmal denke ich, ein Mann braucht nur so eine Caban-Jacke, ein Tablet und eine Bahncard100. Wenn es in den Zügen Duschkabinen und besseren Kaffee zum Frühstück gäbe... Und wenn man gelegentlich einen Gast auf die Bahncard mitnehmen dürfte.
Im Film sind die einen gut und ausgesucht, die anderen ausgesucht gleichgültig, lädiert oder dürftig gekleidet. Die Kleidung bezeichnet die Figur oder sie wird zerrissen, befleckt, durchschossen. In Der seidene Faden (Paul Thomas Anderson) stecken die Figuren in statuarischen Roben, Eine Fotoausstellung des Studiengangs Modedesign an der Burg Giebichenstein zeigte die selbe Attitüde, nur hipper. Die jungen Menschen machen Kleider und posieren in ihnen so, wie sie es in den Filmen sahen. So stylisch unbehaust, gleichgültig, abgerissen. So ästhetisiert a-ästhetisch, dass es eine Augenlust ist und ansonsten nicht auszuhalten.
In der Ghost Story ist die Hauptfigur zwar entleibt, aber auch durch das Gespensterlaken dem Zwang zur symbolischen Präsenz enthoben und kann sich ungeniert bewegen. In Winter- oder Schlechtwetterszenen dribbeln die Figuren nervös und ziehen die Schultern hoch. Kleidung ist im Film eben nicht zum Wärmen da. Eine Figur, die in ihrer Kleidung zuhause ist – die gibt es nicht, nirgends. Die einen flüchten von, die anderen sehnen sich zu einem Ort. Kein Sehnsuchtsziel, keinen Fluchtgrund zu haben, trotzdem ungeduldig unterwegs zu sein. Unvorstellbar. Brecht und Thomas Brasch (Familie Brasch, Annekatrin Hendel) hatten noch eine Ahnung davon. Wo ich herkomme, wo ich hinwill - zwei Orte des Unbehaustseins. Nur dazwischen in der Bewegung passiert das Leben.
In den Gängen – ein Film, den viele toll fanden. Weil das Proletariat darin vorkommt und so sensibel und beseelt unglücklich erscheint. Einige, die das sagen, sehen in jedem Proleten, der ihnen auf der Straße begegnet, einen AfD-Sympathisanten. Die Wohnungen der Protagonisten wirken unaufgeräumt, sperrvermüllt, wie ihre Leben. Die längst nicht mehr verehrten Götzen des guten Lebens sind alle noch da. Denn die Alternative wäre eine Wohnung, die so symbol-leer ist wie meine. Letztlich aber ist es dasselbe. Sie leben wie Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, der in Musils Roman zu dem paradoxen Schluss kommt, dass die materiellen Dinge als Symbolträger sinn-los werden.
Interessant ist ein Bezug zu einem Dok-Film der DEFA von Kurt Tetzlaff aus dem Jahre 1983, den ich 2018 einer Retropektiven-Reihe des «Puschkino» in Halle sah. Einwohner des Groß-Dorfs Magdeborn bei Leipzig, das dem Braunkohlentagebau weichen muss, werden erst in ihren verlorenen Heimathäusern, dann in den Ersatz-Neubauwohnungen gezeigt. Hier sind die «Götzen» noch lebendig. Der Fernseh-Altar, die Schrankwand, die Dekortapete. Alles gepflegt und präsentabel. Beim anschließenden Filmgespräch wird das als Ausdruck einer Konsumlust, die die Umwelt kaputt macht, interpretiert. Und als schlechter Geschmack natürlich.
Das Schöne an In den Gängen war nicht die «Überraschung», dass sogar Proleten Menschen sind, sondern die Ahnung, dass es Menschen gibt, die sich nicht über ihre Dinge «definieren» müssen. Die sich überhaupt nicht «definieren» oder «erfinden», sondern, die einfach nur «sind» – unterwegs sind. Traurig, verletzt, voller Sehnsucht, ohne Hoffnung, voller Hoffnung.
Streift die gelben Westen über eure Cabanjacken!
Und entrümpelt eure Wohnungen!
Sissi Tax
peter lorre: poet of the damned. diesen poet dieses jahr im zeughauskino berlin in einer umfassenden schau, von der nicht nur frauen träumen, gesehen zu haben – was für ein eintauchen ins a and b picture schaumbad hinreiszendster schauspielerkunst. zum niederknien, hilfsausdruck. und zu dieser so sagen- wie legendenhaften schauspielerkunst gehört die ebenso hinreiszende schauspielerstimmkunst. oskar werner, fast nichts dagegen. und dazu gesellt sich die umwerfend einzigartige schauspielerrauchkunst.
in strange cargo (40), einem movie des genres kolportagemachwerk höchster bis niedrigster couleur, das avant la lettre die bezeichnung camp verdient, brilliert pl in seiner schmierigsten rolle als franzosenspitzel auf einer gefangeneninsel. professioneller konnte er auch als perfekter verkörperer des autoritären charakters in gestalt eines subalternen nazi-tschakls in the cross of lorraine (43) das verkommene im menschen nicht widergeben. als m’sieur pig gibt er dem gefallenen mädchen joan crawford feuer. aber sogar diese, auf ungeschminkt geschminkt besonders attraktiv wirkende, in blasser schönheit erscheinende dame will nichts von dem widerling wissen. zusammen mit clark gable – mit den haarsträubendsten haarfrisurkreationen seiner karriere – ergreift sie die flucht. schlägt sich rennend hatschend stolpernd durch sumpf und dschungel, stöckelschuhbewehrt. dieser absatzanstrengung ansichtig werdend, kommen mir drei andere weibliche geschöpfe in und mit high heels in erinnerung: marylin monroe und marlene dietrich als verruchte dames sowie la signora monica witti. letztere in il deserto rosso (64) durch den industriedreck staksend, mit ihrem buben an der hand, md in morocco (30), barfüszig dem strizzi gar cooper in die wüste hinterherschreitend. und mm an der seite robert mitchums in river of no return (54), das gelbe sackerl mit den roten schuhen auf-teufel-komm-raus sogar auf dem flosz im reiszenden gewässer nicht preisgebend. o, les femmes, l’amour et ses chaussure.
in keinem film spielt und singt der kleine grosze pl leichtfüsziger, mutterwitziger und spritziger und schmissiger als in der ufa komödie was frauen träumen (33). dieser, sein letzter in deutschland gedrehter film, hat ihm den beinamen comic songster eingebracht. sein stimmwundersein ist nur noch in der verlorene (52) so deutlich (auf deutsch) zu vernehmen, wobei des verlorenen tonlage melancholischer nicht sein könnte. wodurch es einer und einem das herz zerreiszt. herzzerreiszend zwar nicht, aber doch einen stich ins herz versetzend, wie the lost one als dr. einstein in der im besten sinn überkandidelten comedy arsenic and old lace (44) ausruft,: ‹o gott, was hab’ ich hier verloren›. diese ontologische frage hic et nunc grundsätzlich offen lassend, bleibt festzuhalten: das wundermovie was frauen träumen ist den elegantesten amerikanischen comedies kompatibel, nicht zuletzt dem highlight midnight (39), dessen script zurückgeht auf eine vorlage jenes franz schulz’, der zusammen mit billie wilder das drehbuch für was frauen träumen schrieb. mit einem der wunderbarsten komiker otto wallburg (ermordet in auschwitz), agiert pl als komissar otto füssli im kriminalisten-duo, das die anmutung des späteren paares sidney greenstreet und pl aufweist. dort allerdings in den komplementärrollen, nämlich als verbrecher. in dieser figuration werden die beiden ‘the laurel and hardy of crime’ genannt. das zu den überblendungen zweier kulturindustrien, der hollywoods mit der des deutschen prä-nazi films.
casablanca (41), inbegriff der schauspielerraucherkunst des ‹poet of the damned›. in keinem anderen film tritt er kettenrauchender – für sekunden gar zweihändig – und nervennervöser, geschmeidiger, eleganter und kürzer auf. sein-in-erscheinung-treten beläuft sich in der rauchszene auf drei minuten fünfundvierzig sekunden, insgesamt auf fünf minuten vier sekunden. o, unvergiszbarer armer teufel held ugarte, ausgesprochen ugarti.
wenn bette davis als leading lady der titel ‹ourth warner brother› zugeschrieben wird, dann gebührt dem, als supporting actor im studio der warner brother’s berühmt und berüchtigt gewordenenen ‹cherubic› lászló löwenstein allemal der titel fifth warner brother.
Nicolas Wackerbarth
SCHUSS / GEGENSCHUSS – Im Frühjahr setzte ich mich in Köln in die U-Bahn, um zum Hauptbahnhof zu fahren. Ich war gestresst, da ich spät dran war, um noch den Zug nach Berlin zu bekommen. Die Bahn war relativ voll. Mir gegenüber saß ein großer Mann um die fünfzig mit Mütze und schwarzer großer Sonnenbrille. Nach kurzer Fahrt bemerkte ich, wie er sich zwischen den Beinen im Schritt massierte. Ich schaute von seiner Hand im Schritt zu ihm auf, sein breiter Kopf drehte sich zu mir, doch durch die dunklen Sonnenbrillengläser konnte ich seine Augen nicht sehen. Ich war irritiert und unschlüssig, wie ich jetzt reagieren sollte. Für einen Moment amüsierte mich seine Dreistigkeit, aber wir waren hier nicht in einem Club um vier Uhr morgens oder in einer Schwulensauna. Seine Handbewegungen wurden eindeutiger, ich senkte wieder den Blick und dachte nach. Ich beschloss, ihn zu ignorieren. Zugleich beobachtete ich ihn aber weiter aus den Augenwinkeln. Nun spreizte er beim Reiben seines Schwanzes drei Finger von der Hand ab, wohl auch um wieder meinen Blick auf seinen Hosenschlitz zu lenken. Ich ließ mich nicht aus der Ruhe bringen. In der Spiegelung der gegenüberliegenden Scheiben beobachtete ich sein Gesicht. Als er das bemerkte und mich über die Spiegelung anstierte, fühlte ich mich ertappt, nahm scheinbar unbekümmert eine Flasche Wasser aus meiner Tasche und trank daraus. Ich musste ihn also tatsächlich ignorieren. Ich blickte auf mein Handy, las die Anzeige der nächsten Station und einen Artikel in der Cinemascope, die ich dabei hatte. Es war eine Besprechung von Gaspar Noés CLIMAX, den ich am letzten Tag in Cannes gesehen hatte. Der Anfang des Films war großartig, das Ende lustig, dazwischen der bekannte Panik-Murks, nur diesmal in der Version eines verkrampften Improtheaters: Artaud meets Soap Opera. Schade, dass sie nicht den ganzen Film über tanzten, sagte ich. Ein Freund meinte nach der Vorstellung zu mir: I think he's just dumb. Die Erinnerung an seine Bemerkung über Noé ließ mich schmunzeln. Der Mann mir gegenüber ließ von seinen Massagebewegungen ab Er stand auf. Er hinkte. Sein Gesicht wirkte von Medikamenten oder Alkohol aufgedunsen. Dazu die Mütze, eine Weste, die dreckige Jeans und die dunkle Sonnenbrille auf der Nase – ich fragte mich, ob der Mann auf der Straße lebte, aber er hatte keine Tasche dabei. Auch roch er nicht, als er vor mir aus der Bahn auf den Bahnsteig trat. Ich schaute ihm hinterher. Er konnte sich nur langsam fortbewegen. Ich nahm mein Handy und fotografierte ihn. Vielleicht ist der öffentliche Raum tatsächlich sein einziges Zuhause und er versuchte nur sein Glück bei mir. Hätte ich ihn ansprechen und ihm erklären sollen, dass seine Handlung andere verletzen könnte? Ich muss gestehen, dass ich des öfteren Menschen heimlich in der U-Bahn fotografiere. Darf ich das überhaupt? Unbeobachtet Menschen zu fotografieren, ohne zu fragen, ist das nicht übergriffig? Als ich das Geschehen Freunden erzählte, sagten sie zu mir, ich sei sexuell belästigt worden. Tatsächlich erstarrte ich in dem Moment, als der breitschultrige Mann unvermittelt begann, sich seinen Schwanz durch die Jeans zu reiben. Andere Freunde lächelten nur und sagten, dass ihnen sowas oft passiert und dass sie dann einfach aufstehen und sich woanders hinsetzen. Ich blieb aber sitzen. Aus Neugier, aus Machterhalt. Es gab keinen Grund Angst zu haben. Ich wollte das Geschehen beobachten und das Machtspiel der Blicke studieren.
BERUFSETHOS – Im Sommer las ich Unterscheiden und Herrschen von Sabine Hark und Paula-Irene Villa. Folgender Satz blieb hängen: «Unabdingbar ist es daher, kontinuierlich darüber Rechenschaft abzulegen, wie Welt imaginiert, geformt und aufrechterhalten wird.» Dieser Satz hilft mir, mich immer wieder daran zu erinnern, dass jedes produzierte Bild, jeder hergestellte Ton dazu beitragen kann, Bestehendes aufrechtzuerhalten oder es eben ins Wanken zu bringen. Große Worte, hoher Anspruch. Stimmt aber trotzdem.
DREHTAGE – In diesem Jahr habe ich viel Zeit mit Unterrichten zugebracht. Erst in München (HFF), dann in Hamburg (HFBK) und schließlich in Berlin (DFFB). 23 kurze Filme entstanden, 23 Tage lang arbeiteten wir daran, dass sich mittels Improvisation ein unvergesslicher Moment einstellt. Und wenn wir geduldig und genau waren, geschah es auch. Im Winter stand ich mit Studierenden in einer Hamburger WG. Die Szene, die gedreht werden sollte: Eine junge Frau taucht überraschend beim Vater ihres Kindes in Hamburg auf. Sie hat ihn und das Kind verlassen und lässt sich treiben. Derzeit lebt sie in Prag. In der ersten Improvisation reden sie miteinander. Sie reden die ganze Zeit. Sie reden zu viel. Alles relativiert sich, wird unscharf wie das Leben selbst. Wir machen mal eine Pause. Warum frustriert das Gerede? Weil der Raum für Projektion fehlt. Weil wir uns nicht entscheiden mögen, die Konkretion scheuen. Und wir noch filtern müssen, was uns an der ersten Improvisation überhaupt interessiert. Beim nächsten Durchlauf bekommt der Vater Redeverbot. Er soll sein Kind in den Armen halten und es nicht aus der Hand geben. Die junge Frau wird nun alleine reden müssen. Sie beginnt beim Spiel in eine unangenehme Situation zu rutschen und fängt an, es mit alltäglichem Geplauder zu überspielen. Sie macht sich einen Kaffee. Als sie das Schweigen ihres Gegenübers nicht mehr aushält, bittet sie ihn darum, dass Kind einmal kurz in ihren Armen halten zu dürfen. Der Vater verweigert es und will erst wissen, ob sie zu ihm zurückkommt … jetzt schweigt sie … Die Fiktion hat das Laufen gelernt. Staunend laufen wir hinterher.
Carolin Weidner
#1 Februar, Paris
Ein FAZ-Artikel («Bloß nicht nah am Etablierten!») vom 4. Januar weckt meine Neugier. Ich sitze im ICE von Frankfurt nach Nürnberg, zu meinem ersten Hofbauer Kongress, und alles passt zusammen. Der Text handelt von zwei Ausstellungen, die der Autor Helmut Mayer besucht hat – eine in der Maison de Victor Hugo, La folie en tête – Aux racines de l'art brut, und dann noch Elle était une fois. Acte II: La collection Sainte-Anne, autour de 1950 im Musée d'Art et d'Histoire de l'Hôpital Sainte-Anne. Ich wollte schon immer mal nach Paris, und von Frankfurt ist es nicht weit. Außerdem habe ich die Berlinale geschwänzt und damit sozusagen eine Fahrt frei. Ich plane einen Kurztrip. Anfang Februar ist es soweit. Allein das Krankenhaus Sainte-Anne rechtfertigt den Aufwand, was für eine Kulisse! Unheimlich und prächtig, weitläufig, merkwürdig. Weiß jemand von Filmen, die dort gedreht wurden? Es muss welche geben. Zur Art-brut-Exkursion trinkt man Grog, es ist kalt in Paris. Und kehrt im Restaurant «Le Temps des Cerises» auf der Rue de la Butte-aux-Cailles ein, das ich empfehlen möchte, ganz so, als würde ich mich auskennen. Dort gibt es ebenfalls Grog und hübsche Kirschlutscher zur Rechnung.
#2 Oktober, Berlin
Leuchtturm des Chaos (BRD 1982) von Wolf-Eckart Bühler im Arsenal. Sterling Hayden lallt auf seiner Barkasse sehr geistreich, das Holzschiff wird zum vibrierenden Korpus dieser mächtigen Stimme. Bühler erzählt später von der Aktion: Filmmaterial eingepackt, Kameramann besorgt, los zu Sterling Hayden. Gerade der Kameramann ist ein Glückstreffer, im Grunde wie das ganze Unterfangen. Würde ich mir jederzeit wieder ansehen, es ist ja auch gerade eine DVD erschienen. Sollte ich mal einen Dokumentarfilm drehen, würde ich mir wünschen, er wäre wie Leuchtturm des Chaos. Wird wahrscheinlich nicht passieren.
#3 Dezember, Köln
Ein Überraschungsfilm, der von besonderer Aufmerksamkeit zeugt! Ich muss ausholen. Als Kind besaß ich eine Videokassette mit kurzen Weihnachtsfilmen von Disney. Darunter auch eine Silly Symphonie, die es mir angetan hatte: The Night Before Christmas (USA 1933). Vor einigen Jahren besorgte ich mir eine DVD mit den gesammelten Silly Symphonies. Doch Schock: The Night Before Christmas fehlt! Zurück in die Gegenwart. Am 16. Dezember bin ich im Filmclub 813 zu Gast, um mir Whoever Slew Auntie Roo? (GB 1971) von Curtis Harrington anzusehen (sehr gut!) sowie am Weihnachtsumtrunk teilzunehmen. Bevor Shelley Winters (Auntie Roo) auf grausige Art aus dem Weg geschafft wird, läuft: The Night Before Christmas! Ein achtsamer Beobachter meiner Wünsche und Stimmungen hat eine Kopie aus Hamburg besorgt.
Robert Weixlbaumer
Wortmaschine: Das blaue Westernkleid von Dolores sah anders aus, nachdem Bernard ihr hinter den spiegelnden Wänden Alice’s Adventures in Wonderland in die Hand gedrückt hatte. Die Reminiszenz hatte ich ganz vergessen. «I brought you a gift», sagt Bernard. Und Dolores beginnt zu lesen: «Alice took up the fan and gloves, and, as the hall was very hot, she kept fanning herself all the time she went on talking. Dear, dear! How queer everything is to-day ! And yesterday things went on just as usual. I wonder if I've been changed in the night? Let me think: was I the same when I got up this morning? I almost think I can remember feeling a little different. But if I'm not the same, the next question is Who in the world am I? Im Licht der zweiten Staffel von Westworld habe ich die erste erneut gesehen, mit neu erwachtem Vergnügen am Bicameral Mindset und den Stimmen der probabilistischen Inferenzmaschinen.
Zeitmaschine: Ulrich Köhlers In My Room war ein Anschluss an Kinderphantasien von allmächtiger Einsamkeit. Wo wird man als letzter Mensch leben? Ein Museum mit Objekten, die sich schon an Abschied gewöhnt haben, wäre schön, darin ein eigenes Raritätenkabinett. Bodemuseumsinsel vielleicht. Obere Etage. Ka stimmte zu, sie hätte dann sehr weit weg ihren eigenen Ort und Garten.
Hausmaschine: Wittgensteins Hütte (Fondazione Prada). Eltern Haus (Ennstal). The House That Lars Built (Lyngby). Tarkovskijs Haus (Serkalo). Das Haus mit der Couch (Nikolassee) – im Herbst klang Lehranalytikers Stimme dort manchmal als käme sie tatsächlich aus meinem Kopf. Wunschmaschine.