27. September 2011
Gedächtnisgeschichte Zu Nacht und Nebel – ein Film in der Geschichte
«Mein Leben lang habe ich mit diesen toten Körpern, die der Film mir gegeben, deren Existenz er mir anvertraut hat, gelebt.» Gegen Ende ihres Buches, in einem Kapitel über die ästhetische Dimension von Alain Resnais' (und Chris Markers/Jean Cayrols/Olga Wormsers/Hanns Eislers) 30-minütigem Dokumentarfilm Nuit et Brouillard zitiert die französische Autorin Sylvie Lindeperg den Kritiker Serge Daney, um die generationen- und erinnerungsspezifische Entwicklung der Filmkritik gegenüber diesem Meilenstein der Filmgeschichte zu skizzieren. Für Daney war es nicht nur ein bestimmte ästhetische Wahrnehmung, die Nuit et Brouillard heraushob, sondern auch ein ihn selbst betreffender Film, da seine Familie Opfer des Holocaust geworden war.
Dass diese Diskussion am Ende des Buches steht, lässt erkennen, dass Lindeperg zunächst einen eigenen, nicht rein ästhetischen Zugang zu ihrer Darstellung gewählt hat. Man kann ihn gedächtnisgeschichtlich nennen. Denn die Entstehungsgeschichte des Films gehört in den französischen Kontext der Geschichtsschreibung und der Erinnerung an die französischen Deportierten, Résistants und Holocaustopfer.
Die Gestalt, die wie ein Dantescher Vergil als Begleiter durch das Buch präsent ist, heißt Olga Wormser. Die Arbeit und Initiative dieser Historikerin galt in einem der von den Überlebenden gegründeten Vereinen zunächst den bis in die 1950er Jahre hinein wenig thematisierten Erfahrungen der Deportierten. In diesem Kontext wurde neben Archiveinrichtungen, Ausstellungen und Publikationen auch an eine filmische Darstellung gedacht und ein Auftrag an die Argos Films vergeben. Lindeperg zeichnet als Eingang zu ihrer umfassenden Kontextualisierung des Dokumentarfilms akribisch den «volkspädagogisch-ethischen» Diskurs Anfang der 1950er Jahre nach, in dem die Idee entstehen konnte, einen Film über die Deportationen und die Konzentrationslager in Auftrag zu geben.
Die Argos schlug als Regisseur den jungen Alain Resnais vor, der sich mit kritischen Dokumentarfilmen über afrikanische Kunst (Auch Statuen sterben) und Guernica bereits einen Namen gemacht hatte. Aus eigenen Aufnahmen (in Farbe) der nun musealisierten Konzentrationslager in Polen, historischen Aufnahmen von der Befreiung, Fotos von unterschiedlicher Herkunft, Ausschnitten aus Spielfilmen entwickelte Resnais die Komposition des Films, auf die die Autorin ausführlich eingeht. Lindeperg berührt hier den Kern der filmischen Vorgehensweise Resnais', ergänzt durch die eingehende Analyse des Kommentars von Jean Cayrol (und seiner deutschen Übersetzung durch Paul Celan) und der Musik von Hanns Eisler.
Durch den historiographischen Ansatz werden die Auseinandersetzungen mit der Zensur ebenso plastisch wie die Turbulenzen verständlich, die das Filmfestival in Cannes um den Film provozierte: Man wähnt sich plötzlich im Kontext von Das Amt, deutsche Diplomaten mit adeligen Namen sind mit dem Film befasst, die politischen Beziehungen zur jungen BRD geraten unvermutet in den Fokus. Wie überhaupt die weiteren Passagen über die frühe Rezeption und mitunter erstaunlichen Anverwandlungen des Films ein weiteres Highlight von Lindepergs akribischen Forschungen darstellen, die den zweiten Teil des Buches ausmachen.
Zentral sind hier Celans Übersetzung des Cayrolschen Kommentars und die Auseinandersetzungen mit der DDR-Version wie auch der Einsatz des Films zu pädagogischen Zwecken in französischen und deutschen Schulen zu nennen. (Auch die Auseinandersetzung im jungen deutschen Film der 70er Jahre bis hin zur RAF werden in diesem Kontext skizziert.) Ebenso berücksichtigt die Autorin die ästhetisch-kritische Diskussion von Nuit et Brouillard und zeichnet die Veränderungen in der cineastischen Wahrnehmung des Films in der Auseinandersetzung mit der Shoah (Ophuls, Godard, Lanzmann) nach.
Was diese Arbeit auszeichnet – sie hat bereits einige Preise gewonnen – ist die großzügige Anlage, mit der die Autorin den vielen Facetten der Entstehung und Rezeption von Nuit et Brouillard in einer angenehm pragmatischen und an den Fakten interessierten Schreibweise nachgeht. Obwohl hin und wieder wolkige Philosophismen dekonstruktiv-poststrukturalistischer Art in sichtbarem Kontrast zur Ausbreitung der konkreten historischen Fakten stehen (und in ihrer kulturellen Spezifizität in der an die französischen Ausdrucksweisen angeschmiegten deutschen Übersetzung durch Stefan Barmann deutlich wahrnehmbar sind), lässt der Text eine intensive Erarbeitung der historischen Zusammenhänge aus vielfachen Blickwinkeln und mit zahlreichen neuen Fakten nachvollziehen. Für den Lesenden entspringt als Surplus zugleich eine Einführung in die französische Kulturpolitik der 1950er Jahre aus cineastischer Perspektive.
Sylvie Lindeperg, Nacht und Nebel – ein Film in der Geschichte, Vorwerk 8, 2010