15. Oktober 2011
Blumenberg zu Sibylle Lewitscharoffs Blumenberg
Wie hielt der Philosoph Hans Blumenberg es mit dem Kino? Seinen Büchern ist dazu nicht viel zu entnehmen, eine Kleinigkeit für «Filmweltbewohner» findet sich nun allerdings in einem Roman von Sibylle Lewitscharoff, der den einfachen Titel Blumenberg trägt, und bei dem es sich um so etwas wie ein biographisches Denkstück im Modus der gebundenen Imagination handelt. Eine faktische Grundlage gibt es dabei auch für die Ägyptenreise im Jahr der Suezkrise, die Blumenberg mit Ehefrau und einem befreundeten Paar unternahm. In Kairo kommt es dabei zu einem Kinobesuch:
Dank Hassan, der schnell begriff, dass er nicht die üblichen Reisenden vor sich hatte, die sich nur für Pyramiden und Pharaonengräber interessierten, landeten sie im Kino, in einem Film von Youssef Chahine, und anschließend in einem griechischen Club, wo heiß über die Vorführung diskutiert wurde. Ein Schwarzweißfilm im Stil des italienischen Neorealismus, mit vielen Laiendarstellern, die allesamt begnadete Komödianten waren. Der Film war eine kleine Offenbarung und konnte sich locker mit den besten Filmen messen, die er je gesehen hatte. Natürlich entging ihm viel von der Handlung. Er wußte nur noch: es begann im Bahnhof, und ein schalkhafter, weltweiser Kioskbesitzer geriet augenblicks in erzkomische Verwicklungen.
Wenn man die angedeutete Inhaltsangabe des Films auf einen konkreten Titel beziehen möchte, dann enthält diese Passage ein hübsches Impossibilium, oder eine adventistische Pointe (vielleicht aber auch einfach nur ein Versehen): Denn hier ist wohl von Chahines Bab el hadid die Rede (deutscher Verleihtitel: Tatort Hauptbahnhof Kairo), der mit dem Veröffentlichungsjahr 1958 geführt wird, also im Jahr der Suezkrise zwei Jahre in der Zukunft liegt. Ob Blumenberg in Ägypten tatsächlich im Kino war, muss im Detail nicht interessieren. Sibylle Lewitscharoff weiß immerhin gesprächsweise zu berichten, dass er in jungen Jahren Kinogänger war und die französischen und italienischen Filme der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg «begeistert» rezipiert hat. Eine Theorie des Neorealismus ist daraus leider nicht entstanden, immerhin wird in Blumenberg aber ein jugendlicher Cinephiler entdeckt, mit dem nicht eigentlich zu rechnen war.
Das Geschehen im Buch «spielt», wie man so schön sagt, in Münster in den Jahren 1982/83. Der Philosoph hat sich zu diesem Zeitpunkt schon stark in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, seine Vorlesungen sind von so einschüchternder Gelehrsamkeit, dass nur zu wenigen Studierenden überhaupt ein Kontakt zustandekommt. Lewitscharoff hat als Erzählerin das Privileg, auch nachts bei Blumenberg zu sein, also in den Stunden, in denen er seine umfangreichen Texte in ein Diktiergerät sprach. In dieser nächtlichen «splendid isolation» taucht gleich zu Beginn des Buches ein unvermuteter Geselle auf: «unzweifelhaft ein Löwe. Der Löwe sah zu ihm her, ruhig sah er zu ihm her aus dem Liegen, denn der Löwe lag auf dem Bucharateppich, in geringem Abstand zur Wand.»
Ich habe nicht alle Besprechungen gelesen, die bisher zu Blumenberg erschienen sind (leider nicht online ist die von Lothar Müller in der SZ, die von Patrick Bahners in der FAZ ist hingegen noch da), deswegen lege ich hier vielleicht jetzt eine Spur frei, die auch anderswo schon gefunden wurde. Sie führt zu einem kurzen Text von Blumenberg, der den Titel Das Sein – ein Macguffin trägt, und in dem aus Truffauts Hitchcock-Buch die berühmte Geschichte mit den beiden Reisenden im Zug zitiert wird, von denen «der eine den anderen fragt, was es mit dem Paket auf sich habe, das er ins Gepäcknetz gelegt hatte. Darauf der Gefragte: ‹Ach das, das ist ein Macguffin.› Auf Rückfrage: Das sei ein Apparat, um in den Bergen der Adirondacks Löwen zu fangen. Darauf der erste: ‹Aber es gibt doch überhaupt keine Löwen in den Adirondacks.› Nochmals der andere: ‹Ach, na dann ist es auch kein Macguffin.›» (Hans Blumenberg, Ein mögliches Selbstverständnis, Reclam 1997, 157)
Der Löwe in Blumenberg ist auch so ein Macguffin, er bedeutet letzlich: nichts, und ist doch ein Bezugspunkt für eine reiche Bedeutungsproduktion, die in Lewitscharoffs Buch im Gang ist. Unter anderem schreibt sie auch so etwas wie eine Rezeptionsgeschichte eines akademischen Übervaters, der seine Wirkung gar nicht richtig zu bemerken scheint. Vier Studierende aus den frühen 1980er Jahren werden hier näher vorgestellt, sie alle können mit seiner Philosophie nur stark beschränkt etwas anfangen, woraus sich Szenen von sanfter Komik ergeben (wenn die Studentin Isa zweiundzwanzigmal hintereinander Bruce Springsteens The River spielt und sich dabei vergegenwärtigen muss, dass der von ihr zutiefst verehrte Blumenberg «kein Bauarbeiter (ist), der für die Johnstown Company arbeitet» – zweifellos aber ist er für Isa «the Boss»), aber auch von beträchtlicher Intensität (ein junger Mann, der mit Sein und Zeit im Seesack auf dem Amazonas unterwegs ist, hat dort eine Reihe von schicksalhaften Begegungen).
Wer Blumenberg als biographischen Schlüsselroman lesen möchte, wird wenig finden. Sibylle Lewitscharoff ist eindeutig stärker an Literatur als an Non-Fiction interessiert, zwischendurch tauchen aber doch immer wieder interessante Realitätssplitter auf, von denen ich den für meine Begriffe bedeutendsten hier zitieren möchte. Er betrifft sein Verhältnis zu Hannah Arendt.
Er hatte sich auch zurückgehalten, als Hannah Arendt mit ihrer These von der Banalität des Bösen an die Öffentlichkeit getreten war. So scharfe Worte, wie er heute (i.e. 1982, BR) dafür fände, hätte er 1963 vielleicht nicht gefunden, obwohl das Buch damals schon seinen Unmut erregt hatte. In einigen Punkten mochte sie zwar Recht haben mit ihrer These, aber dies am Fall Eichmann zu demonstrieren, zum neuralgischen Zeitpunkt seines Prozesses in Israel, da die Staatsgründung, zu der Leute wie Eichmann ja indirekt beigetragen hatten, noch nicht lange her war und Eichmann die einzige Zielperson, der einzig greifbare Schuldige war, dessen sich die Juden hatten versichern können, und nun ausgerechnet diesen Mann im Banalen des Bösen zu verharmlosen war ein Fehler, ja, mehr als das, es war verwerflich. Sechs Millionen Tote waren in den neuen Staat eingezogen. Nicht ob man etwas böse nennen durfte, war das Problem, sondern wann und wie. Sie hatte kein Verständnis für die Kraft des Symbolischen. Vor allem störte ihn der schnoddrige Ton und ihr Ehrgeiz, sich mit einer möglichst steilen These hervorzutun.
Das ist, vor allem mit dem Satz vom «Einzug» der «sechs Millionen» nach Israel, eindeutig die Stelle, an der Sibylle Lewitscharoff ihren Roman Blumenberg fiktionalitätstheoretisch am stärksten belastet - eine «steile Stelle», wenn man so will, die mit Aspekten der Persönlichkeit Blumenbergs (un)vertraut macht, die dieser später tunlichst für sich behielt. Der Löwe als Macguffin bewirkt nicht nur hier genau das, was ihm auch Blumenberg selbst schon zuschrieb: «das Publikum folgte atemlos».
Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg (Suhrkamp 2011)