literatur

29. November 2010

The Boys from Zion Lektürenotizen: Andernorts (2010) von Doron Rabinovici

Von Bert Rebhandl

Im Flugzeug von Tel Aviv nach Wien. Der jüdische Intellektuelle Ethan Rosen sitzt in Doron Rabinovicis Roman Andernorts eingeklemmt zwischen einer Frau und einem Gläubigen. Kaum ist das Anschnallzeichen erloschen, stehen viele Passagiere auf, um sich ein wenig Bewegung zu verschaffen. Ethan Rosen «kannte dieses Ritual seines Volkes, als folgten sie einem Gebot des Unaussprechlichen, einem Gesetz ihrer Natur, dem Instinkt einer ewigen Unrast.» Von der satirischen Beschreibung der Zumutung einer durchschnittlichen Mittelstreckenflugreise kommt der österreichische Autor dabei immer wieder auf Eigenheiten des jüdischen Volkes, denn die Dame zu Ethan Rosens linker Hand greift den Topos von der Unrast auf: «Nicht einmal im Flugzeug, meinte sie, könne ihr gemeinsamer Stamm, diese masochistische Internationale, einen Moment stillsitzen. Selbst in den Lüften seien sie ein Nomadenvolk.»

Volk, Stamm, Natur, Instinkt. Schon auf diesen ersten Seiten wird damit ein zentrales Interesse in und an diesem Roman sehr deutlich bezeichnet: Es geht um Konzepte jüdischer Identität zwischen Klischee und Biologie, zwischen ironischer Distanzierung und genetischer Essentialisierung. Der Schriftsteller Doron Rabinovici, der auch als Historiker publiziert und eine sehr lesenswerte Studie Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat geschrieben hat, zielt auf eine kritische (und komische) Zerlegung und Neuzusammensetzung identitärer Mythen. Er erzählt deswegen eine mehrfache Abstammungsgeschichte. Es beginnt damit, dass ein alter Mann stirbt: Dov Zedek, Überlebender der Lager, und nach allem, was man in Andernorts so mitbekommt, ein typischer Vertreter einer Geschichtspolitik, in der die Schoa das absolute Datum ist.

Ethan Rosen soll einen Nachruf auf den Mann schreiben, mit dem er befreundet war; doch es kommt ihm jemand zuvor, ein österreichischer Akademiker namens Rudi Klausinger, der sich noch dazu auf dieselbe Stelle beworben hat wie Rosen. Aus diesem Motiv des «evil twin» holt Rabinovici in Andernorts das Maximum heraus, denn die beiden ungefähr gleichaltrigen Männer treffen einander schließlich in Israel wieder, wo Rosens Vater schwer krank auf eine Transplantationsniere wartet. Klausinger hält sich nämlich für den Sohn von Felix Rosen, und diese unvermutete Erweiterung der Familie löst in Ethan eine narzisstische Krise aus, die auch eine intellektuelle ist: «Unentwegt hatte sich Ethan über die Enge in seiner Sippschaft beklagt. Und jetzt endlich kommt eine Wiener Mischkulanz daher, sprengt diese jüdische Version der Heiligen Dreifaltigkeit, stellt sich zwischen ihn, Dina und Felix, ist das Corpus Delicti eines Ehebruchs, zwingt den treuen Ehemann zum Geständnis, und wie reagiert der anerkannte Kulturforscher, der Experte für die Dekonstruktion aller Mythen, der Meister aller geisteswissenschaftlichen Relativitätstheorien? Was macht der große Tabubrecher? Er verkündet, sein Abba, sein Vati, könne unmöglich eine Affäre gehabt haben. Selbst wenn er es zugibt.» Dov Zedeks hinterbliebene Lebensgefährtin gibt eine lakonischere Deutung des Familienzuwachses ab: «Nun fahnden Kinder ehemaliger Nazis nach Vorfahren, die als Sarah und Israel verfolgt wurden, um instant koscher zu werden.»

 

The Boys from Brazil von Ira Levin

© ITV/Rex Features

 

Neben der unerwarteten Verbindung zwischen den akademischen Rivalen Rosen und Klausinger gibt es in Andernorts noch eine weitere Vererbungsgeschichte, die Rabinovici deutlich satirisch anlegt, und in der es darum geht, dass Felix Rosen den Berechnungen eines Rabbiners zufolge ein sehr naher Verwandter des Messias (!) ist, der noch im Mutterleib ein Opfer der Schoa wurde, also schon gekommen war, aber nie geboren wurde. Aus einem DNA-Pool soll die Identität des Messias rekonstruiert werden – unschwer ist zu erkennen, dass Rabinovici hier den sehr spannenden Thriller The Boys from Brazil von Ira Levin (1978 verfilmt von Franklin J. Schaffner mit Gregory Peck in der Rolle des Dr. Mengele) ins Heilsgeschichtliche wendet: Dort soll Adolf Hitler aus einer Vielzahl von Klonen neu erstehen, hier soll der Messias als genetischer Annäherungswert ein «second coming» ermöglicht bekommen.

Die Ambivalenz von Ethan Rosen ist dabei die Ambivalenz des ganzen Romans. Denn Rosen ist Jude auf intellektuellem Abstand, er möchte seine Identität schon dadurch auf Distanz halten, dass er in Wien lebt und nach Tel Aviv immer nur zurückkehrt; er sieht sich jedoch zunehmend auf seine Wurzeln verwiesen. Das, was komisch ist in Andernorts, ist zugleich der kritische Kern des Romans: dass Juden nämlich von ihrer Identität eingeholt werden. Das bringt Ethan in einem Monolog in höchst resonanter Sprache zum Ausdruck: «Das Judentum ist eine Alterserscheinung. Diese Jungen, die zunächst mit freiem Antlitz und frischen Ansichten in die Welt stürmen, werden irgendwann müde, und ihre Gesichter zerfließen, ihre Nasen werden länger, und ihre Augen trüben sich ein, bis alle meinen, sie schauten abgeklärt. So werden sie zu alten Juden. Und sie, die nie an Gott glaubten, die über Koalition und Armee lästerten, die jeden Freitag in die Disco und in die Bar liefen, die Nächte durchmachten und Joints rauchten, zünden unversehens am Schabbath die Kerzen an, segnen Brot und Wein – alles wegen der Kinder, sagen sie zunächst -, und dann beginnen sie auf einmal die überkommenen Ressentiments und ihre eingefleischten Ängste zu lieben. Ängste, vor denen niemand ahnte, dass sie die überhaupt haben. Ängste, vor denen sich alle anderen fürchten müssen.»

In dieser Rede eines ambivalenten jüdischen Intellektuellen versteckt Rabinovici auch ein Moment Legitimationskritik an dem «gegen den Antisemitismus» gegründeten Staat Israel, zumindest lässt sich das so lesen, wenngleich es in Andernorts einen privilegierten Standpunkt nicht gibt. Für die vielen Abstammungsfragen in dem Buch gibt es eine Reihe von originellen Lösungen, die, wenn man so will, in beide Richtungen weisen: Dekonstruktion biologischer Identität und Kollektivierung des jüdischen Erbguts. Der Schluss, der hier im Detail nicht verraten werden soll, enthält dann allerdings doch noch eine sehr aufschlussreiche Setzung: Denn es sind bei Rabinovici durchweg die Männer, die die ganze Verwirrung stiften, während die Frauen gelassener sind (und zwischendurch immer wieder für die Verpflegung mit «Humus und Tehina, Pita und Babaganusch, (…), Tschulent und Zimes, you name it, we’ve got it, aber auch Mazzot und Mazzebrei» sorgen, an denen sich dieser Text auch delektiert). Es ist schließlich eine Mutterfigur, die «sehr aufrecht» aus dieser Geschichte hervorgeht – und damit die eigentliche Trägerin jüdischer Erbsubstanz. Andernorts erzählt eine verschlungene Erfahrungsreise, endet aber doch deutlich auf einer identitären Note, die sicher nicht von ungefähr einmal mehr im Zeichen der Trauer steht.

Doron Rabinovici: Andernorts. Roman (Suhrkamp 2010)