20. Januar 2013
Gesellschaftswärts Notizen zu Johann Holtrop von Rainald Goetz
In dem Roman Johann Holtrop von Rainald Goetz, den ich mit ein wenig Verspätung gelesen habe, gibt es einen lustigen Anachronismus an der Stelle, an der die NS-Vorgeschichte des Firmenpatriarchen Assperg erzählt wird – «seine Zweifel am Regime hatte er verstärkt gegen Schluss in sich entdeckt, als Hitler selber schon in Führerbunkerzimmer BERND EICHINGER mit seiner Munitionspistole vor seinen Generälen, seinem Goebbels und seiner Eva Braun herumfuchtelnd einsaß» (nebenbei: was ist eine Munitionspistole?). Sein Schwiegersohn weiß davon in der Gegenwart der nuller Jahre nichts mehr. «Zerstört von Lebensfülle und Geschichtslosigkeitsleere saß der heute alte Assperg als gebrochenes Männlein da, von seiner zweiten Frau, der SS-Betonfrisur Kate, dauernd erniedrigt, (...), die Biographie gewordene Inkarnation der Stunde NULL als alter Mann, Anfang Juni 2002.»
Als fiktionalisierende Geschichtsschreibung des unserer Gegenwart nächsten Jahrzehnts stößt Johann Holtrop schnell an Grenzen, an denen Goetz sich aber glaube ich gar nicht abarbeiten wollte. So etwas wie John Lanchesters Kapital hatte er nicht im Sinn, stattdessen ist er hier so nahe an Thomas Bernhard wie nie zuvor: Johann Holtrop gehört neben Auslöschung. Das wird deutlich an vielen Stellen, an denen der Erzähler Goetz (der sich hier ja in eine Reihe mit Koeppen oder Böll stellt) vom Moralisierer Goetz überholt wird: «Sie waren oben angekommen, Bankvorstand, sogar im Vorstand der legendären Deutschen Bank, aber sie waren traurige, vom Apparat und von der schon so lange laufenden Karriere im Apparat traurig zusammengefaltete Existenzen. Bauer war die Inbegriffsbegestalt dieser Topfigurentraurigkeit. Auch er war, was er immer hatte werden wollen: Bankchef, Topmanager. Aber wo bleibt das Glück? Wo bleiben die Millionen? Das dachte er nicht, aber er fühlte so.»
Der Erzähler Goetz, der an anderer Stelle auch die «Effizienz des Holtropschen Gehirns» in einem die Naturalismen der Hirnforschung mit einem Zirkelschluss zweiter Ordnung in die Grenzen weisenden energetischen Befund darin begründet sieht, dass es «abgewendet war vom Zweifel in einem Ausmaß, wie es selbst bei Menschen der Tat selten anzutreffen ist» (hier wird also Synapseneffizienz von einem nahezu klassisch charakterologischen Persönlichkeitsmuster bestimmt), denkt in dieser Geschichte des Managers Johann Holtrop ständig auf das Intensivste mit, denkt sich selbst dabei aber in seinem Verhältnis zu den alten Schicksalslenkern des bürgerlich-realistischen Romans nicht immer ausreichend mit.
Niemand erwartet von Goetz einen im eigentlichen Sinn reflexiven Roman (mein Lieblingsbuch von ihm, Dekonspiratione, ist gerade das ja nicht, und dadurch dann doch erst recht), aber es gibt nicht wenige Stellen, an denen die Ambivalenz dieses Projekts geradezu handgreiflich wird. Über eine Nebenfigur heißt es beiläufig, dass «der egal wie reiche Stumpenschwaake in diesem Leben nichts mehr erreichen" würde. "So schaute es aus, objektiv.» Über dieses Wörtchen «objektiv» an dieser Stelle könnte man ganze Abhandlungen schreiben.
Johann Holtrop ist der Versuch von Rainald Goetz, «gesellschaftswärts» zu schreiben (mein Lieblingswort im ganzen Buch), und nachdem wir den ganzen Winter hindurch über dieses Buch gesprochen haben (und im Grunde die letzten zehn Jahre immer wieder über das große «Erzählprojekt» des Beobachters der Beobachtung der Berliner Republik), wird mir nach beendeter Lektüre ein wenig überraschend klar, dass die spezifische Effizienz des Goetzschen Gehirns wohl nicht darin liegt, mit der Auktorialität zu arbeiten, sondern sie zu parodieren (an manchen Stellen, fürchte ich, sogar unfreiwillig). So fühle ich, aber so lässt es sich auch denken.