non-fiction

5. April 2011

Zeugenschaft Vielfach reklamiert: Der Widerstandskämpfer Jan Karski

Von Bert Rebhandl

Der Karski-Bericht

© Absolut Medien

 

Dass Claude Lanzmann 2010 unter dem Titel Der Karski-Bericht eine rund einstündige Ergänzung zu Shoah herausbrachte, hatte wesentlich mit einem Roman zu tun, der 2009 in Frankreich erschienen – und nun gerade in deutscher Übersetzung herausgekommen ist: Das Schweigen des Jan Karski von Yannick Haenel. Es geht darin um den polnischen Widerstandskämpfer, der 1943 dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt gegenübersaß und ihn auf das Schicksal der osteuropäischen Juden aufmerksam machte. Der Katholik Karski hatte sich mit eigenen Augen ein Bild von der Situation zuerst im Warschauer Ghetto, weniger später in einem «Transitlager» gemacht, und mit diesen Eindrücken im Kopf war er 1942 über die Slowakei nach London gereist, ein Kurier, der Nachrichten des polnischen Widerstands an die Exilregierung überbrachte. Sowohl Lanzmann als auch Haenel beanspruchen für sich, diese wichtige Figur wieder ins Gedächtnis gerufen zu haben. Lanzmann tut dies in starken Worten, wie aus der Präambel zu Der Karski-Bericht hervorgeht, die insgesamt ein äußerst vielschichtiger und ambivalenter Text ist, den es sich lohnt, hier ausführlich wiederzugeben (ich habe die deutsche Synchronfassung transkribiert):

«Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, welche Gefühle mich überkamen, als ich auf einer der Recherchereisen für meinen Film Shoah hörte, dass Jan Karski noch am Leben sei. Ich hatte (sein Buch) "Story of a Secret  State" gelesen, das 1944 in den USA erschienen war, und in dem er von den gewagten Kuriereinsätzen erzählte, die den Kontakt zwischen dem innerpolnischen Widerstand und der polnischen Exilregierung in London aufrechterhielten. Er schilderte darin auch seine Besuche im Warschauer Getto, die verzweifelten Bittschriften der jüdischen Führer in Polen, und die Stunden des Grauens (epouvante), die er als ukrainischer Wachmann verkleidet in einem sogenannten Transitlager zubrachte, das er lange nicht mit Bestimmtheit identifizieren konnte und das er fälschlich für das Vernichtungslager von Belzec gehalten hatte.

Der noch am Leben seiende Jan Karski würde für den Film ein herausragender Zeuge (temoin capital) sein. Aber nachdem ich zu drehen begonnen hatte, war ich unter dem Eindruck der Ungeheuerlichkeit und der Realität der Zerstörung tief im Inneren davon überzeugt, dass alle - Opfer, Zeugen und die Henkersknechte selbst - umgekommen sein mussten. Es waren Jahre des Wahnsinns. Was damals als Holocaust bezeichnet wurde, war eine Tabula rasa. Und jedes Mal, wenn ich einen Überlebenden aufspürte, war das für mich wie eine umwerfende Ausgrabung, so wie wenn Archäologen nach langen Monaten geduldiger Grabungen auf ein seltenes Meisterwerk stoßen.

Jan Karski lebte also, und meine Gefühle verstärkten sich noch, als ich ihn sah, und erst recht, als ich mit ihm zu drehen begann. Bei Kriegsende war Jan Karski von der Bildfläche verschwunden. Jahrzehntelang lag ein Mantel des Schweigens über dem Holocaust, und nur Spezialisten beschäftigten sich damit. Vierzig Jahre später, 1985, wurde Jan Karski mit dem Erscheinen meines Films Shoah für jeden von uns wieder zum Leben erweckt und ein Faktor in der Geschichts- und Geisteswissenschaft (l'Esprit objectif). 1978 habe ich zwei volle Tage mit Jan Karski in seinem Haus in Washington DC gedreht. Nur den ersten Tag nahm ich in Shoah mit auf, ich ließ Jan Karski am Ende sagen: But I reported what I saw. Ich habe berichtet was ich gesehen habe. Jan Karski sagte mir damit, dass er seine Mission erfüllt habe, indem es ihm gelungen sei, von Polen nach London durchzukommen. Die polnische Exilregierung in London beschloss, dass er in die USA reisen und dort vor den höchsten Vertretern des Staates wiederholen solle, was er zu sagen hatte.

Am zweiten Drehtag beschrieb Karski vor meiner Kamera alle Details seines Treffens mit Präsident Roosevelt. Aus rein künstlerischen Gründen hinsichtlich der dramaturgischen Spannung ließ ich diesen Teil bei der Gestaltung meines Films weg, denn er wäre dadurch zu lang geworden, und außerdem gab sich Karski am zweiten Tag ganz anders als am ersten. Doch sie werden gleich einen Teil dieser Passagen sehen, besonders den vom Treffen zwischen Jan Karski und Präsident Roosevelt. Ich habe mich dazu entschlossen, weil es mir zwingend erforderlich schien, die Wahrheit zurechtzurücken.

Jan Karski lässt uns in einem Bericht über die Reaktionen seiner verschiedenen amerikanischen und englischen Gesprächspartner eine zentrale Frage in all ihrer Schwere untersuchen: Was heißt es zu wissen? Was bewirkt eine Information über buchstäblich unerhörte Schrecken im menschlichen Gehirn? Dieses kann damit nicht umgehen, weil es sich um ein in der Menschheitsgeschichte beispielloses Verbrechen handelt. Was auch immer darüber gesagt wird: Die Mehrheit der Juden konnte nicht gerettet werden, sobald Hitler seinen Krieg gegen sie eröffnet hatte. Das ist die Tragik der Geschichte. Sie lässt keine Rückschau zu, die eine Illusion ist, die die Komplexität, die Schwere und die Unentschlüsselbarkeit einer Epoche vergisst. Sie bleibt das wahre Gefüge des Unmöglichen (configuration vraie de l'impossible). Damals wurde Raymond Aron, der nach London geflohen war, gefragt, ob er gesehen habe, was sich im Osten ereignete. Er antwortete: Ich wusste es, aber ich habe es nicht geglaubt, und weil ich es nicht geglaubt habe, wusste ich es auch nicht.»

Die Formulierung Lanzmanns, er hätte Karski 1985 wieder «zum Leben erweckt», zeugt von seinem geschichtspolitischen Selbstbewusstsein. Tatsächlich war Karski schon 1981 auf einer Konferenz der Befreier von Konzentrationslagern aufgetreten, die Elie Wiesel ausgerichtet hatte – zu diesem Zeitpunkt hatte Lanzmann seine Aufnahmen schon gemacht, aber Shoah war noch weit von der Fertigstellung entfernt. Dass er schließlich nur ein relativ kurzes Segment mit Karski in die Montage aufnahm, gab Yannick Haenel die Gelegenheit zu einer weiteren «Entdeckung» in Form eines Texts, der als Roman nur bei einer großzügigen gattungslogischen Auslegung dieses Begriffs durchgeht.

Das Schweigen des Jan Karski, so der Titel der deutschen Übersetzung von Claudia Steinitz, besteht aus drei Teilen. Im ersten erzählt Haenel die Szene mit Karski aus Shoah nach, wobei er sich bemerkenswert uninformiert zeigt, wenn er schreibt, dass Karski «an einer amerikanischen Universität unterrichtet (hat), vielleicht in New York» (tatsächlich war es Georgetown in Washington). Der Bericht von seinem Besuch im Getto, den Lanzmann in Shoah zeigt, kommt nur unter Schmerzen zustande. Haenel formuliert dies so: «Genau das hatte Jan Karski am Anfang des Interviews gefürchtet: dieses Erstarren im Entsetzen, das er an jenem Tag im Herbst 1942 verspürt hatte, im Warschauer Ghetto, in der Nähe des Todes.» Aber er «beugt sich dem Geheimnis dieses Wortes: der Zeuge.»

Das Pathos dieses Begriffs steht im Zentrum von Haenels Roman, der im zweiten Teil eine Nacherzählung von Karskis Buch Story of a Secret State aus dem Jahr 1944 bringt, und im dritten sich selbst die Stimme von Karski aneignet in einem fiktionalen inneren Monolog, der so beginnt: «Man ließ die Vernichtung der Juden geschehen. Niemand hat versucht, sie zu stoppen, niemand wollte es versuchen. (…) Niemand hat mir geglaubt, weil mir niemand glauben wollte.» So wird Karski im Lauf der Nachkriegsjahrzehnte vom «Boten» zum «Zeugen», der sein Wissen in sich verschließt, während die Welt ihn weitgehend vergisst – bis Lanzmann anruft und später Haenel das «Schweigen» von Karski neuerlich bricht.

So beschreibt Haenel die Reaktion von Karski und seiner jüdischen Ehefrau Pola auf Lanzmanns Anruf: «Das Wort wieder zu ergreifen würde eine Art sein, den europäischen Juden die Ehre zu erweisen und dieses Wort Polas Familie zu widmen; und dann verstand ich, dass ich selbst auf geheimnisvolle Weise nun zu dieser Familie gehörte. Durch das Wort war ich in das Schicksal der europäischen Juden eingetreten, in das Denken, das sie zum Wort bestimmt, in die unendliche Entfaltung einer Meditation, die sich durch die Zeiten ausdehnt.» Später heißt es: «Ich hatte das Wort im Namen einer Sache ergriffen, die viel größer ist als die Erinnerung und die man Auferstehung nennt.» Diese höchst spekulativen Passagen sind zwar bis zu einem gewissen Grad dadurch gerechtfertigt, dass man dem Katholiken Karski in seiner Identifikation mit dem jüdischen Volk eine stark christlich gefärbte Logos-Metaphysik unterschieben kann, sie führen aber auf jeden Fall an die Grenze dessen, was ein «Roman» in so einem Fall an erzählerischer Freiheit für sich reklamieren kann.

Die Enttäuschung von Karski über sein persönliches Erscheinen in Shoah formuliert Haenel auch ausdrücklich: «Claude Landmann hatte nur vierzig Minuten von den acht Stunden meines Interviews übernommen; das verstand ich natürlich, aber der Film erwähnte mit keinem Wort meine Bemühungen, die Juden zu retten, was den Geist meines Beitrags völlig veränderte.» Diese Bemühungen, das macht Lanzmann nun in seiner Präambel zu Der Karski-Bericht nachträglich gewissermaßen amtlich, konnten in Shoah deswegen übergangen werden, weil sie der Sache wegen keinen Erfolg haben konnten. Lanzmann dekretiert, dass Karskis sehr konkret formulierte und auch schon handlungspraktisch durchdachte Hoffnungen auf ein Eingreifen der Alliierten wegen der Einzigartigkeit, wegen der kognitiven Unbegreiflichkeit der Shoah eine «Illusion» bleiben mussten. Er projiziert damit eine eigene, durch und mit Shoah errungene Deutung des Judenvernichtung auf einen prinzipiell ergebnisoffenen Vorgang im Jahr 1943, durch den er seine autoritative Darstellung der «configuration vraie d'impossible» latent gefährdet sieht.

Dagegen macht Haenel aus Karski einen Vergangenheitsbewältiger: «Der Abstand, der uns von den Menschen trennt, die sterben, heißt Niedertracht (infamie); und leben ist nichts anderes als eine Art, sich mit diesem Abstand auseinanderzusetzen.» Der von zahlreichen sachlichen Ungenauigkeiten durchsetzte Roman ist – nach Jonathan Littells Les Bienvieillantes / Die Wohlgesinnten – ein weiteres Beispiel für eine dubiose Literarisierung von historischen Vorgängen, die in ihrer Komplexität gerade im Fall des polnischen Patrioten und Antikommunisten Karski nicht so einfach auf einen spekulativen Monolog zu bringen sind.

Haenels Manöver der Bemächtigung beginnt übrigens schon damit, dass er in seinem Motto Paul Celan falsch zitiert: «Qui témoigne pour le témoin?"»(Wer zeugt für den Zeugen?) Die Antwort auf diese Frage versteht sich von selbst: Haenel zeugt für den Zeugen. Bei Celan aber heißt es: Niemand zeugt für den Zeugen. (In der deutschen Übersetzung ist das richtiggestellt worden.) Dieses und viele andere Details sowie zahlreiche relevante Dokumente finden sich in dem kritischen Buch von Jean-Louis Panné: Jan Karski. «le roman» et l'histoire.

Ein positiver Nebeneffekt dieser Angelegenheit ist, dass nun auch das Buch in deutscher Übersetzung vorliegt, das Jan Karski selbst geschrieben hat: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund erschöpft sich keineswegs in der achtzigseiten Nacherzählung, die Haenel davon gibt. Von der abrupten Mobilmachung kurz vor dem deutschen Angriff auf Polen 1939 bis zu seinem Exil in den USA erstreckt sich dieser Bericht, der 1944 noch unter den Bedingungen des andauernden Krieges und der Allianz zwischen den USA und der Sowjetunion erschien. Das Kapitel über das Warschauer Getto und das Transitlager Izbica Lubelska (das Karski mit Belzec verwechselte) sind von überragendem Interesse, aber auch die ausführlichen Schilderungen der Arbeit der polnischen Untergrund-Institutionen sind enorm gut beobachtet und beschrieben. Mein Bericht an die Welt ist das große Buch von und über Karski, das in der Nachkriegsgeschichte immer schon da war, und das deutlich macht, dass er ein Zeuge war, der keinen Zeugen braucht.

 

Jan Karski: Mein Bericht an die Welt. Geschichte eines Staates im Untergrund (Kunstmann 2011) 

Yannick Haenel: Das Schweigen des Jan Karski (Rowohlt 2011)

Jean-Louis Panné: Jan Karski. «le roman» et l'histoire (Pascal Galodé 2010)

Claude Lanzmann: Der Karski-Bericht (DVD bei absolut Medien 2010)