30. April 2021
Experimentelle Naivität Die Zeitschrift FILMKRITIK vor 50 Jahren (31): Heft 04 1971
Mit «einem Krimi den mir Wim auf die Reise mitgegeben hat» (Ein Dolch für die Braut) und einem positiven Vorurteil hat Herbert Linder im Winter 1969/70 die Vereinigten Staaten besucht: «Seit ich mich erinnern kann, war Amerika mein Traum.» Die Erfüllung des Traums schlägt sich in der Filmkritik in einem 20 Seiten langen Bild-Text-Teil nieder, der als Titel einfach die geläufige Abkürzung trägt: USA. Darunter steht ein Bild von Life Savers, einer Süßware, die Linder aus der Besatzungszeit vertraut war.
Die Nascherei, so erinnert er sich, hat in der Mitte ein Loch, «in das man mit vier fast die Zunge reinkriegt». Die Life Savers waren «mein erster Einruck (sic) von Vollkommenheit». Linder versucht sich auch im Folgenden an einer Art Mythen des Alltags, bekommt aber auch immer wieder Geschichten deutscher Ausgewanderter in den Blick. Er interessiert sich für die Mietpreise in New York, wo ihm das Phänomen der rent control auffällt, einer Gesetzeslage, die eindeutig mieterfreundlich ist.
Schon bei der Einfahrt an der Freiheitsstatue vorbei (Linder kam per Schiff) fällt ihm auf, was sich dann als Erfahrung durchzieht: die amerikanische Wirklichkeit ist vielfach immer schon auch «völlige Erinnerung». Er sieht in Amerika, was er schon von Amerika weiß, und staunt doch darüber, wenn er «die bei Donald Duck ständig wiederkehrenden Dinge» (zum Beispiel die «hohen Pfannkuchen») tatsächlich vorfindet.
Frauen sind für Linder prinzipiell «Mädchen». Einer seiner Gastgeber gibt für ihn «ein Essen mit allen verfügbaren Mädchen, die er kennt», überhaupt gibt es ständig große Essen, einmal bei «einem Mädchen aus der Abortions-Bewegung».
Eine beiläufige Anmerkung zu den Konflikten der Zeit: «Fritz Perls, Psychotherapeut, der vor den Nazis emigrieren mußte, schreibt, er sei sicher, daß den amerikanischen N**ern nicht passieren wird, was den Juden in Europa geschah. Sie wehren sich.»
Eine grundlegende Reflexion zu den Konflikten der Zeit: «Was die amerikanischen Verbrechen in aller Welt betrifft, so bin ich jetzt sicher, daß man sie sehen muß, wie Lee Marvin in Der Mann der Liberty Valance erschoß: man muß ihnen entgegentreten. Das geschieht gegenwärtig nur in Vietnam und Südamerika und in den USA; ich denke das amerikanische Volk kann nicht verstehen, daß die Völker der Welt dem Unternehmergeist nicht überall Widerstand entgegensetzen wie es das selbst tut.»
Das positive Vorurteil gegenüber Amerika wird in der Filmkritik 1971 allgemein geteilt, und zwar in der spezifischen Konstellation, mit der Linder das Volk der Regierung gegenüberstellt. Das amerikanische Volk übernimmt aus dem Western, der in vielen Heften davor zu der Reinheitsvorstellung von einem ursprünglichen gegenüber dem imperialistisch-kapitalistischen Amerika beigetragen hat, seine moderne Aufgabe: «Mitten im 20. Jahrhundert in den USA war durch Monate die Arbeit an Fantasia so selbstverständlich wie es die Arbeit an einer Tankstelle oder in einem Warenhaus ist», schreibt Helmut Färber an anderer Stelle im Heft über Disneys Fantasia. Der «einzige geradenwegs paradieseshafte Film in der bisherigen Filmgeschichte» steht für die «praktische, unternehmende und experimentelle Naivität», mit der Amerika der Kunst in Europa (wo sie, schöne Formulierung, «als etwas in seiner Bedeutung Fortgerücktes» erscheint) gegenübertritt.
Bei Linder lautet die Ursprungsmythologie so: «Pennsylvanien: Auffallend viele alte Häuser in gutem Zustand. Kunstsinn bei vielen Leuten offenbar in seinem elementaren Zustand: daß sie respektieren und pflegen, was überkommen ist.»
Peter Nau, der unter dem Titel New York nous appartient über Ice von Robert Kramer schreibt, kommt um eine weniger aufbauende Sichtweise nicht herum, denn Kritik geht hier einen entscheidenden Schritt weiter. «Der bewaffnete Aufstand als Folge und neue, gesteigerte Ursache gestörter sozialer Bindungen, aber als einziger Ausweg.» Kramer stellt Fragen «nach der Integrität der von tiefen inneren Ängsten überschatteten menschlichen Beziehungen im Untergrund. (...) Die Kritik an Ice kann sich also nicht länger mit der kategorischen Bestreitung des Ausgangspunktes, der nicht länger aufzuschiebenden Revolution, begnügen. (...) Das Symptom Ice schließlich, steht für ein anderes, reales gesellschaftliches Vakuum der USA: die Kluft zwischen den Linkskräften und der Arbeiterklasse, die Nicht-Existenz einer starken, weißen, revolutionären Partei.»
Abgerundet wird das Amerika-Heft durch einen Text von Frieda Grafe über Lions Love von Agnès Varda. «Die Rollen der drei Hauptdarsteller in dem Film sind als solche gar nicht mehr definierbar. Ihre Darsteller sind Andy Warhols Superstar Viva und die beiden newyorker Hairdarsteller Jerome Ragni und James Rado. Im Film sind sie sie selbst und spielen sie sich und spielen Spuren von einer Rolle, von Fiktion.» Grafe zitiert die französische Filmemacherin: «Ich glaube nicht an Cinéma-Vérité. Ich glaube eher ans Lügen-Kino.» Den «Dokumentarfilm über Fiktion» werde ich mir, wie auch Ice, am Tag der Arbeit 2021 ansehen.