4. Juli 2021
Zu Ende erfundene Dokumente Die Zeitschrift FILMKRITIK vor fünfzig Jahren (33): Heft 06 1971
Meine Serie bekommt in diesem Heft ein Motiv geschenkt. Enno Patalas trifft in Wien auf Fritz Lang: «Es war Der müde Tod, der den jungen Luis Bunuel, als er ihn 1925 im Vieux Colombier sah, auf die Idee brachte, selbst Filme zu machen, über Metropolis schrieb er eine Kritik. Zu denken, daß der Gesprächspartner im Demel den Müden Tod vor genau einem halben Jahrhundert machte.» Bei der Szene wäre ich gern die Fliege an der Wand gewesen: Patalas mit Fritz Lang im Demel. Welche Mehlspeis hat er wohl genommen? Das halbe Jahrhundert, das den jungen Fritz Lang von dem alten im Cafe Demel trennt, ist die eine Hälfte des ganzen Jahrhunderts, das uns von einer frühen Avantgarde trennt, für die Bunuels L’Age d’or – der Titelfilm dieser Ausgabe – ein kanonisches Werk ist. Die andere Hälfte sind die fünfzig Jahre, die ich jedes Monat der damaligen Filmkritik hinterher bin. Zusammen genommen ist das immer noch fast die ganze Filmgeschichte.
Die Viennale-Retrospektive 1971 hatte den Avantgardefilm 1920 bis 1950 zum Thema. Patalas kann mit den Filmen nicht viel anfangen: für ihn «stellt sich das, was im Namen den Anspruch erhebt, Vortrupp der Zukunft zu sein, weitgehend dar als private Bastelei, Introspektion, genügsames Residuum individuellen Künstlertums». Er denkt bei Avantgarde an Metropolis oder Lola Montez, also an (cum grano salis) Blockbuster vor diesem Begriff: «Vielleicht kann sich nur in den ganz teuren Filmen das Kino zur Höhe dessen erheben, der es hervorgebracht hat, des Kapitalismus.»
Avantgarde sieht Patalas als eine «ohnmächtige Schutzbehauptung von Künstlern gegen die Übermacht der Industrie». Ich habe in Wien in den neunziger Jahren von Alexander Howarth oder Peter Tscherkassky gelernt, diese Antithese produktiv zu machen. Wobei es auch damals schon eher die Avantgarde nach 1950 war, und konkret auch die österreichische Avantgarde, mit dem aus Amerika zurückgekehrten Kurt Kren, mit Lisl Ponger, mit Dietmar Brehm, der mir bis heute seine Filme schickt (wofür ich ihm hier auch einmal öffentlich danken kann), mit Hans Scheugl (von dem ich neulich auf der Diagonale Prince of Peace wieder gesehen habe, einen Schwulenklassiker über einen sehr speziellen Ort in Wien).
Die klassische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts, die surrealistisch und von den anderen Modernen inspirierte, habe ich nie wirklich eingehend nachgearbeitet, und so wurde für mich auch der zentrale Text des Juni-Hefts der Filmkritik aus dem Jahr 1971 eher zu einer Pflichtübung. Dabei schätze ich den Autor sehr: Peter Nau.
Mit seinem Text über L’Age d’or habe ich ein Problem, das mich durch das ganze Berufsleben begleitet hat: sich von Demonstrationen von Gescheitheit und Belesenheit nicht nervös machen zu lassen. Nau zitiert Eisenstein und seine Überlegungen zu den Zusammenhängen von musikalischen Schwingungen und Affekterzeugung, und kommt dann zu einem Gegenwartsbezug: «In der japanischen Musik, die Bunuel in Filmen sehr schätzte, finden wir auch diese physiologischen Eigenschaften. Zuletzt sind sie mir in einer Musik von Softmachine aufgefallen. Der Sprache der amerikanischen N***r verleihen sie einen Reichtum, der die Grenze zu ihrer Musik aufhebt.»
Das ist so ein Satz, bei dem ich mir eher wünschen würde, dass der Text bei ihm bleibt und in dieser Richtung weiterdenkt, als die Exegese von L’Age d’or fortzuführen. Interessant dann aber doch auch die Beobachtung von Nau, dass das damals ja noch ziemlich neue Arsenal in Berlin (wo er sich den Film, der auf ausdrückliche und persönliche Erlaubnis von Bunuel hin gezeigt werden durfte, fünfmal angesehen hatte) in nur sechzehn Monaten bei seinem Publikum eine «Emanzipation» bewirkt habe, nämlich sich der experimentellen Musik von Bunuel auszusetzen und nicht auf Verständlichkeit des eingesprochenen Texts zu beharren. Er bekräftigt das mit einem Zitat von Marx über eine Produktion, die sich ihr eigenes Subjekt für den Gegenstand schafft.
Die fast zwanzig Seiten, die die Filmkritik für diesen großen, essayistischen, monographischen Text über den frühen Klassiker von Bunuel zur Verfügung stellte, sprengen wohl auch ein bisschen meine Möglichkeiten, mich auf dieses Angebot einzulassen - da stecken ja Anregungen und Herausforderungen für mehr als nur einen Nachmittag drin.
Der zweite monographische Text im Heft macht es mir dann drucktechnisch nicht leicht, die Seite 393 enthält einen perfekt geometrischen, durch keinen Absatz entschärften Textblock: Jörg Peter Feurich schreibt über Straubs Othon. Unter dem Titel: Peut-etre qu’un jour les yeux se permettront de choisir à leur tour oder Der allgemeine Daguerrotyp. Das ist eine raffinierte Paraphrase des eigentlichen Filmtitels von Othon, der korrekt ja heißt: Les yeux ne veulent pas en tout temps se fermer ou Peut-etre qu’un jour Rome se permettra de choisir a son tour. Die Zeitverhältnisse zwischen dem 1. Jahrhundert in Rom, dem 17. Jahrhundert von Corneille und dem 20. von Straub/Huillet liest Feurich durch eine fotohistorische Assoziation: «Straubs Othon ist ein Film über Rom wie die Photos des Eugene Atget Bilder von Paris sind: in ihrer Zeitstruktur geänderte, zu Ende erfundene Dokumente.» Ein äußerst dichter Text, den Feurich dann, als begriffe er, was er da an Anstrengung zumutet, heiter aufzulösen versucht: «Ich kenn zwei Kunst, hätte der Schwejk gesagt, den Josef und den Friedrich».
Wim Wenders schreibt dann noch über zwei Fliegerfilme, die er im Fernsehen gesehen hat: Only Angels Have Wings von Hawks (an dem er den Aspekt der Geschwindigkeit hervorhebt) und Furchtlose Flieger von Veith von Fürstenberg und Martin Müller, ein Film, der «durch Selbstverständlichkeit» funktionert: «Auch Barbara Valentin, die als Blondine mitspielt, muß sich nicht anstrengen, etwas anderes darzustellen als das, was sie ist. Einmal sitzt sie im gelben Sportwagen und lächelt nur.»
Aus dem Kritischen Kalender notiere ich mir zum Anschauen Which Way to the Front von Jerry Lewis. «Man hat bemerkt, daß die Analogie zwischen Film-Machen und Krieg-Machen den ganzen Film durchzieht: dieser ist die Selbstdarstellung einer geglückten Operation. ... Der Film zitiert nicht nur, sondern aktiviert die ganze Geschichte der amerikanischen Komödie. ... Der Lernprozeß, den Byers im Verlauf des Films durchmacht und der dessen Gegenstand und Gebrauchsanweisung zugleich ist, besteht weitgehend im Erlernen von Sprache.»