30. Juni 2019
Hinterbliebenschaften Die Zeitschrift Filmkritik vor 50 Jahren (9): Heft 06 1969
Im Juni 1969 muss sich die Filmkritik mit sich selber beschäftigen. Das hat sich angebahnt, in den Debatten über Schober und Rossellini, und in einem Konflikt, der zu dem Zeitpunkt, zu dem ich meine Lektüre aufgenommen habe (Oktober 2018, also Oktober 1968), schon ins Implizite weitergewandert schien – zwischen der politischen und der ästhetischen Linken. Im Oktober 1969 liegt es an Enno Patalas, sich gegen Vorwürfe aus dem Feuilleton zu wehren. In der Frankfurter Rundschau schreibt Wolfram Schütte über Gerüchte, «die in München kursieren, (...) daß Peter Handke mit zweien der vorläufig bei der Filmkritik noch verbliebenen Mitarbeiter eine neue Filmzeitschrift gründen will. Dann wären am Ende Enno Patalas mit seiner Frau Frieda und seinem Redaktionsassistenten Wilhelm Roth allein auf dem sinkenden Schiff.»
Patalas stellt als «hinterbliebener Schreibkritiker» ein paar Dinge richtig: Die Filmkritik hat einen Filmregisseur wie Kotulla verloren (an das Filmemachen), dafür aber den Filmemacher Wenders gewonnen. Für ihn wie für andere gilt: «Ständiger Mitarbeiter der Filmkritik ist, wer es sein möchte und von den anderen Mitarbeitern als solcher anerkannt wird.»
Wenders prägt die Ausgabe mit zwei Beiträgen. Der erste ist ganz kurz und handelt vom Verhältnis zwischen Kino und Popmusik. Unter dem Titel Pan Am macht den großen Flug schreibt Wenders: «In dem Film An einem Freitag in Las Vegas, in dem auch Jack Palance mitspielt, sieht man die ausgestorbenen Straßen von Las Vegas morgens früh um vier oder fünf Uhr. Wenn man den Film nicht sehen kann, kann man sich die beiden LPs von Harvey Mandel anhören. Christo Redentor, Philips PHS 600-281 und Righteous, Philips PHS 600-306. Filme über Amerika müßten ganz aus Totalen bestehen, wie es das in der Musik über Amerika schon gibt.» Ich habe in den vergangenen Tagen Harvey Mandel gehört, mir hat sich dabei aber nicht so richtig ein Horizont eröffnet.
Eine ähnliche, lakonische Apodiktik weiter hinten in einem Text über Western: «Alles, was geschieht ist auch sichtbar. Selbst die Gesichter geben keine Rätsel auf. Der Weg eines Films von Anthony Mann ist gelassen wie der Weg Gary Coopers in Mann aus dem Westen, der, als Julie London ihn fragt, was er tun werden, antwortet: Ich weiß nicht. Erst mal abwarten, wie sich die Dinge entwickeln werden.»
Und über einen anderen Klassiker: «In dem Schwarzweißwestern 3:10 to Yuma (Zähl bis drei und bete) von Delmer Daves passiert die zärtlichste und ruhigste Geschichte, die man je in einem Saloon sich hat zutragen sehen. Man sieht eine Ewigkeit vergehen.»
Wenders bringt tatsächlich einen anderen Ton mit. Er übersetzt das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem, das bei der politischen Linken immer bestimmten, nachvollziehbaren Ableitungen gehorchen soll, in Traditionen des Kinos, also in künstlerische Hierarchien. Große Regisseure schaffen das Allgemeine für ein Genre, eine Form, ein Ethos: «In den Filmen von Anthony Mann gehen Geschichten vor sich, die einem andere Westerngeschichten verständlich machen. Sie zeigen, warum im Western phantastische Geschichten stattfinden können und wie sie zustandekommen.»
Der Name des Mitarbeiters Baldur Bockhoff klingt für mich nach Pseudonym, es handelt sich aber um den damaligen Athen-Korrespondenten der SZ und der FR. Er schreibt über das Kino der Obristen. 1967 hatte es in Griechenland einen Militärputsch gegeben. «Wir alle haben gelernt und wissen sehr wohl, dass in Diktaturen der Anfang leicht scheint, aber am Ende unausweichlich die Tragödie wartet», schreibt Giorgios Seferis. Ich notiere mir den einzigen Film, den Bockhoff positiv hervorhebt: Kierion von Demosthenes Theos. Schon allein des Namens des Regisseurs wegen.
Enno Patalas und Frieda Grafe haben sich das aktuelle ungarische Filmschaffen angesehen: «Kein anderes Land hat sich in seinen Filmen ähnlich hartnäckig mit seiner neueren und neusten Geschichte auseinandergesetzt. Während der polnische Filme nicht über ein kurzes, heftiges debunking seiner heroischen Legenden hinaus gekommen ist, während der tschechische seine Menschen geschichtslos als Ausprägungen eines scheinbar immer gleichen Typs zeichnet, reflektieren die ungarischen Filme die verändernde Kraft der Geschichte.» Der neue von Jancsó, Fényes szelek, kommt nicht gut weg. Ich nehme mir vor, das zu überprüfen, denn über diesen Film habe ich auch bei Anne Applebaum gelesen.
Wilhelm Roth notiert im Tagebuch einen Vorschlag der FIPRESCI: Jurys sollten bei Festivals öffentlich tagen. Wie beim Bachmann-Preis? Sicher anders.
Zum Abschluss ein Zitat, das vermutlich in erster Linie aus graphischen Gründen gedruckt wurde – es füllt unter dem Titel Die toten Augen einen Leerraum auf Seite 352: «... Der maitre d’école hat seine Kraft mißbraucht, Rudolph paralysiert, lähmt, vernichtet diese Kraft. Es gibt kein kritischeres Mittel, um die verkehrten Äußerungen einer menschlichen Wesenskraft loszuwerden, als die Vernichtung dieser Wesenskraft ... Die Strafe, die Rudolph am maitre d’école vollzieht, ist dieselbe Strafe, die Origenes an sich vollzieht. Er entmannt ihn, er beraubt ihn eines Zeugungsgliedes, des Auges. ‹Das Auge ist des Leibes Licht› ...» (Karl Marx und Friedrich Engels zu Eugène Sues Les Mystères de Paris, in Die Heilige Familie 1844)