31. August 2019
Traurige Totale Die Zeitschrift Filmkritik vor 50 Jahren (11): Heft 08 1969
In diesem Heft findet etwas statt, was im Grunde selbstverständlich sein musste: Rainer Werner Fassbinder hatte seinen ersten Film gemacht (damals noch unter dem Titel Kälter als der Tod). Die Filmkritik (Redaktionssitz: München) kam in Mannschaftsstärke (Helmut Färber, Urs Jenny, Wilhelm Roth) in die Wohnung des Antiteaterensembles in München, wo am 20. Juni ein Gespräch stattfindet, das den Titel Revolution im Privaten bekommt.
Man beginnt mit klassischen Handwerksfragen, und ist schnell bei der Einstellungslänge (Fassbinder hat Einstellungen „zusammengezogen“, also verlängert, aus 500 im Drehbuch wurden 240 im Film). Jenny stellt die naheliegende Assoziation her: er spricht von der „Straubschen Methode“. Damit ist ein Lernprozess, den Fassbinder konkret beim Drehen vollzogen hat, mit einem Vorbild verknüpft – Fassbinder konzediert: «Mit Straub hat das natürlich auch was zu tun gehabt. Ich wollte nur zuerst keinen Film wie Straub machen.» Färber: «Ja, Straub ist schon ein Vampir.»
In einer Diskussion über das richtige Publikum für das Antiteater kommt mehrfach das schöne Wort Brotzeit vor. Helmut Färber schlägt vor: «Bei der Bettleroper hatte ich den Eindruck, das müßte man, oder ein Stück davon, müßte man in einer Fabrik während der Brotzeit spielen.» Fassbinder erzählt, dass das auch so beabsichtigt war, aber nicht möglich war, weil die Leute «in der Brotzeit brotzeitmachen und sonst nichts». Färber weiß es genauer: sie spielen Karten. Konsequenz Fassbinder: «Wir sind dann zu dem Entschluss gekommen, halt dann letztlich doch wieder für das Publikum Theater zu machen, das eh schon ins Theater geht.» Es geht nun also darum, «dem normalen Publikum irgendeine Veränderungsmöglichkeit zu geben».
Wilhelm Roth: «Eine pauschale Frage: Wie weit hat das, was Sie im Theater und auch im Film machen, mit Sozialismus zu tun?» Verschiedene Möglichkeiten werden erörtert («Und da gehören also auch Flipper dazu?» Wilhelm Roth meint nicht den Delphin, sondern Automaten). Fassbinder macht einen Punkt: «Da ist ein Typ, der will seine Arbeitskraft nicht ausbeuten lassen. (...) Er möchte nicht angestellt sein.» Die Rede ist von dem Zuhälter.
Ein Text von Helmut Regel über die «Begegnung mit einigen Schlüsselfilmen der italienischen Filmgeschichte» macht deutlich, wie sehr die Rekonstruktion der Anfänge des Kinos damals noch an den Anfängen stand. Bei einer Retrospektive des Filmclubverbandes in Ems sieht Regel Cabiria und Scipione l’Africano, und bezieht diese Monumentalfilme auf ein literarisches Vorbild: «Bilder, Vorstellungen, Gedanken D’Annunzios scheinen, in welcher Popularisierung auch immer, das Bewußtsein der Öffentlichkeit bestimmt zu haben.» Der Text trägt den Titel Dannunzianismus und Verismus und arbeitet mit einem geläufigen Muster: der Verismus steht durch den Monumentalismus unter Druck, zumal Mussolini 1929 verbot, Filme über oder in Neapel zu machen (wäre interessant, den genauen Text dieses – mutmaßlich – Dekrets einmal nachzuschauen: ein repräsentationspolitisch motiviertes Locationverbot). In Blasettis 1860 sieht Regel eine Verbindung des Verismus mit dem Bedürfnis, die Entstehung des Nationalstaats im Kino nachzuvollziehen. «Die kritische Analyse des Risorgimento hat erst 1954 Luchino Visconit mit Senso geliefert.»
Gerhard Theuring achtet in einem langen Text über Johnny Guitar (1953) vor allem auf das Handwerk von Nicholas Ray. Einmal reitet Johnny Guitar «von rechts nach links durch Bild, leicht abwärt, ins Tal. (...) Ein traurige Totale (...). Das Moment der Versöhnung, das im amerikanischen Western und anderen Heimatfilmen gerade in den Totalen von Prärie- und Weidelandschaften, Tälern und weiten Ebenen, von «freiem Land», ganz zu sich selbst kommt, wird völlig ausgespart.» Interessant, dass ich aus dem Text mit seinen detaillierten Beschreibungen von Momenten und Vorgehensweisen (wann trägt Vienna zum ersten Mal ein weißes Kleid? etc) keine Vorstellung von dem Film bekomme: er setzt sich nicht zusammen. Theuring kümmert sich kaum um den Plot, würde man heute sagen. Für ihn ist Kino ein Bedeutung produzierendes Handwerk, bei dem sich die Bedeutungen nicht «literarisch» zusammenfügen. Mit dem Wort «literarisch» greife ich hier vor, das taucht weiter unten bei Dietrich Kuhlbrodt eigentlich erst auf.
Frieda Grafe schreibt über einen meiner Lieblingsfilme: La voie lactée von Bunuel. Sie liest ihn naheliegenderweise zeichentheoretisch. Sie sieht sich durch Bunuels Parodie darauf verwiesen, «wie in unseren Darstellungen, die auf Bedeutung fixiert sind, sich die Grundfigur christlichen Denkens wiederholt, die Ausrichtung auf das Wort, das vorher war, das am Anfang steht». Darüber macht Bunuel sich lustig, indem er die Wörter (die katholische Kirche hat mit ihren Dogmen ganz schön viele Wörter gebraucht, um unter den immer neuen Formulierungen für Glaubenswahrheiten terminologisch Ordnung zu schaffen) bebildert. Und zwar scheinbar naiv. Frieda Grafe: «Bunuel löst das Zeichen auf, die Basisstruktur christlicher Argumentation. Er trennt Bilder und Töne von den Interpretatione, indem er das Bezeichnende und das Bezeichnete unendlich fortsetzbar vervielfältigt. Er macht beide autonom und sinnlos.» Bei Theuring wird die Totale nur traurig, bei Bunuel ist der Weg (von rechts nach links durch das für eine Totale meist zu vollgeräumte Bild, von heutiger Jakobsweg-Folklore weiß man noch nichts) das Ziel des unendlichen Nichtmehrankommens.
Dietrich Kuhlbrodt hat am 9. Juli im Prokinoff in Hamburg («Anmerkung: eine dankenswerte Einrichtung von Werner Nekes und Helmut Wietz») Filme von W & B Hein gesehen. «Mir geht es so, daß ich es als aufdringlich empfinde, wenn man mir zumutet, eine fremde Erfahrung zu übernehmen. Filme, die man literarisch nennt, verlangen das von mir. Die Filme von W & B Hein sind keine literarischen Filme.» In Rohfilm ist zu sehen, wie «Material, das seine dienende Funktion abgelegt hat, sich dem Zuschauer aufdrängt und selbstbewußt auf seine eigenen Möglichkeiten und auf seine eigene Schönheit verweist. (Das Material) teilt seine Befreiungstat mit. (B & W Hein) tun etwas Utopisches, wenn sie auf diese Weise eine ungeahnte Möglichkeit freisetzen.»
Die Texte in diesem Heft sprechen intensiv miteinander, ohne viel voneinander zu wissen.