filmkritik

31. Mai 2020

Gemeine Wahrscheinlichkeit Die Zeitschrift FILMKRITIK vor 50 Jahren (20): Heft 05 1970

Von Bert Rebhandl

Beim Sehen von Leni Riefenstahls Triumph des Willens war ich bisher oft an den Großaufnahmen von einzelnen Menschen hängengeblieben, die mir wie ein Widerhaken in der Masseninszenierung vorkommen: einzelne, identifizierbare Menschen sind da für die ganze Nachgeschichte als Nazis festgehalten, Nazis im Jahr 1934. Hitler formt das Volk zu Blöcken, und so hat Riefenstahl den Parteitag auch gefilmt. Aber es braucht auch das begeisterte Gesicht, in dem sich die Macht spiegelt. Zeitgenössisch mochte so eine Großaufnahme als Privileg empfunden werden, wie man es heute bei Menschen sieht, die sich während einer Live-Übertragung aus einem Fußballstadion als von der Kamera «entdeckt» bemerken. In der Rückschau aber wird aus dem Privileg eine Belastung.

 

Triumph des Willens

 

Helmut Regel relativiert diesen Eindruck im Mai-Heft 1970 der Filmkritik in seinem Text über Triumph des Willens: «Wen die Kamera auch einzeln herausstellt, er vertritt stets etwas: den Nürnberger Bürger, die deutsche Mutter, den Schwarzwald, das NS-Kraftfahrkorps.» Die Großaufnahmen sind also wirklich Großaufnahmen, sie zeigen das größere Ganze facies pro toto. Der Text ist weitgehend frei von dem Pathos, mit dem Riefenstahl oft als eine große Filmemacherin gesehen wurde, die sich nur dummerweise dem falschen Regime andiente, wie auch von einem Verdikt über dieses Pathos.

Im Gegenteil meint man bei Regel, dem Haus-Soziologen der Filmkritik, sogar so etwas wie ein Erstaunen darüber herauszulesen, dass sich eine Beobachterin mit der Kamera so stark zum «Medium der Selbstdarstellung des NS-Staates» machen wollte. Ich muss mir einen Umstand vergegenwärtigen, um diesen «moralischen» Blick auf Riefenstahl besser zu verstehen: Ihre Memoiren, die meine Perspektive auf sie vor allem prägen, weil sie sich darin als geistlose Plaudertasche ohne jeden Funken Verständnis für die Ausmaße des Erlebten zeigte, erschienen erst 1987. Ihre Propagandafilme waren damals keineswegs geläufig, sie konnten aber, wie unter dem Text vermerkt ist, beim Bundesarchiv Koblenz für Seminare ausgeliehen werden.

In einem zweiten Text zu Triumph des Willens von Jörg Peter Feurich dann ein Satz, der ganze Jahrgänge der Filmkritik ersetzen könnte, allerdings als ein Orakel, denn leicht verständlich ist er nicht: «Der CIA-Mentalität der Gummilinse, die noch im simplen Fernsehbericht Information gegen Indizierung vertauscht, entspricht die stillgelegte Perspektive der Riefenstahlfilme in der Analogie zur erotischen Frustration.» Das Zoom im Fernsehen und die Kamera, mit der sich Riefenstahl den NS-Choreographien quasi objektiv, also faschistisch, gegenüberstellt, frustrieren wohl den Eros, der sich von einer vielschichtigen Wirklichkeit mit allen Mitteln außer einer Veränderung der Brennweite herausfordern lässt.

Der zweite filmhistorische Text im Heft stammt von Frieda Grafe, die über Doktor Caligari gegen Doktor Kracauer schreibt: Siegfried Kracauer sah ja «die drohende Heraufkunft Hitlers präfiguriert in Gestalt machtsüchtiger Tyrannen» in Filmen der 20er Jahre. Grafe sieht Das Cabinet des Dr. Caligari zuerst einmal als einen Studiofilm par excellence: «Hermann Warm entwarf zusammen mit den Malern Röhrig und Reimann die Dekors des Films, er ist sein eigentlicher Autor; der Regisseur Robert Wiene nicht viel mehr als ein Studiofunktionär.» Filme waren für Warm „verlebendigte Zeichnungen“.

Aus der besonderen Medialität dieser Studiokinos zieht Grafe einen bemerkenswert weitreichenden Schluss: «mit den Darstellungsmöglichkeiten des Kinos verschwindet das Individuum aus dem Zentrum der Fiktion. (...) Für mich ist dieser Film nicht Vorahnung auf Hitler. Er ist Nachhall der kopernikanischen Wende, die mit Freud das Selbstbewußtsein des Individuums erschütterte, kombiniert mit einem Medium, das wie kein anderes dazu geschaffen ist, Freudsche Entdeckungen zu belegen.» Kracauer irrte also, weil er den Film nicht in seiner stilistischen Eigenart bemerkte: «Revolutionär war die Funktion des Dekors in dem jungen Medium. Weil sie von der Norm abwich und sie zu verändern suchte. Von der Kracauerschen Argumentation wurde der Film wieder auf genau das Niveau gebracht, von dem herunterzusteigen er sich gerade anschickte.»

Grafe ist in dem Heft ungewöhnlich präsent, sie schreibt außerdem noch über Satyricon («Fellini dreht seine Filme, um sich von ihnen zu befreien. Und der «dreht» sie, um sich auch davon zu befreien, immer weniger – er veranstaltet sie.») und über Bertoluccis Partner, den sie gegen den Vorwurf des Avantgarde-Opportunimus verteidigt («Er stellt nicht eine Sache dar, sondern die Bewegung auf sie hin. Er ist affirmative Negation.»).

Meine Lieblingsstelle im ganzen Heft ist schließlich eine Seite, auf der Enno Patalas noch einmal auf Hitchcocks Topaz (in der Schreibweise der Filmkritik: Topas) zurückkommt. Es gibt in diesem Agententhriller eine Stelle, in der Che Guevara und Fidel Castro so zu sehen sind, dass man meinen könnte, der Plot von Topaz wäre tatsächlich auf die kubanische Revolution gestoßen. Patalas verbindet das mit einer sehr schönen Reflexion, die bei der Geschichte des Films ansetzt («Das Thema von Topas ist Untreue»), und von da zu einer autorenpolitisch pointierten Einschätzung Hitchcocks als Anti-Kracauerianer kommt, der das Kino eben nicht als Medium der fotografischen Treue sieht und zu sehen gibt, sondern der Che Guevara und den Helden von Topas durch Rückprojektion und Einschreibung so durcheinander bringt, dass er das Kino als Medium der fotografischen Konstruktion zu einer Kunst werden lässt, aus der man lernen kann, der «gemeinen Wahrscheinlichkeit» zuwiderzuhandeln.

Also umgekehrt, der gemeinen Unwahrscheinlichkeit zuzuarbeiten, nämlich einer besseren Welt. Seine Beobachtung verbindet Patalas mit einer höflichen Bitte an die Leser: «Wenn Sie in unserem Aprilheft die zweite der vier Bildseiten zu Topas aufschlagen wollen.» Ich kann nur raten, nach Möglichkeit dem Ratschlag zu folgen, denn man findet dort tatsächlich im Kern alles, was man darüber wissen kann, in einem falschen Film (oder dann doch im richtigen) aufzutauchen.