filmkritik

12. Oktober 2018

Nicht kitzeln Die Zeitschrift Filmkritik vor 50 Jahren (1): Heft 10 1968

Von Bert Rebhandl

Auf dem Cover ist Rainer Werner Fassbinder zu sehen, in einer Hauptrolle in einem Film von Straub/Huillet: Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter  (3. Einstellung, vor der ersten Abblende).  Fassbinder ist Freder, der Zuhälter: «Bubis Mädi wenn ich vorstellen darf.» Das Drehbuch ist im Heft abgedruckt. Die Beziehung der Filmkritik zu Fassbinder ist von Beginn an ein sterbender Gag. Fassbinder stirbt schließlich zwei Jahre früher als die Zeitschrift, die nichts mit ihm zu tun gewollt haben wird.

Den redaktionellen Teilen vorangestellt in dieser Periode wie immer: Ratschlag für Kinogänger und die Filmfreunde unter den Fernsehzuschauern.

Spitzentitel ist Die Chronik der Anna Magdalena Bach (nur von Siegfried Schober gibt es einen Punkt weniger, also drei, das bedeutet: vorzüglich, aber nicht überragend)

Unter Ferner laufen in der Liste findet sich der Titel Poor Cow, den sich nur PWJ (Peter W. Jansen) angeschaut hat (belanglos). Ein früher Film von Ken (damals noch Kenneth) Loach, auf den sich später Steven Soderbergh mit seinem vielleicht besten Film The Limey beziehen sollte.

Im Fernsehen läuft  Birth of a Nation von David W. Griffith, den finden HF (Helmut Färber), FG (Frieda Grafe) und EP (Enno Patalas) alle überragend. Redaktionelle Bemerkung: «Wird leider im falschen Tempo (25 statt 16 Bilder pro Sekunde) gezeigt.»

Nie gehört: Wurzeln (Raices). «Der indianische Regisseur Benito Alazraki schuf den ersten authentischen, nicht von europäischen Folklorevorstellungen beeinflussten Film über die mexikanischen Indios und ihre Konflikte.» Aus dem Jahr 1954, lief in Deutschland 1968 im Fernsehen.

Im Magazin findet sich die kleine Notiz: «Roberto Rossellini dreht eine Fernsehserie über die Taten der Apostel, die angeblich schon an die Fernsehanstalten von achtzig Ländern verkauft wurde.» Der bestimmte Artikel vor dem Wort Fernsehanstalten ist noch ganz der Idee von Fernsehen als einer (und deswegen eben: einer) nationalen Anstalt geschuldet.

John Wayne wird zu The Green Berets zitiert: «Ich mache einen Film über Gut gegen Böse. Ich meine nun einmal, dass das auf Vietnam passt, aber selbst wenn das nicht so klar ist, wie es sein sollte, muss man Filme so machen. Es ist dasselbe wie mit den Indianern. Mag sein, dass wir nicht alle Indianer hätten vernichten sollen, ich weiß nicht, aber wenn man einen Film macht, sind die Indianer die Bösen.»

Notiz aus Venedig (im Tagebuch, einer Rubrik im Magazin): «(Der Festivaldirektor) Chiarini zu der Beschwerde, die ciné-tracts der pariser Generalstände seien, statt ohne Ton, mit Akkordeonbegleitung vorgeführt worden: das Publikum sei Stummfilme nicht gewöhnt, und hier sei er der Herr im Haus. (Die Generalstände zogen ihre Filme zurück.»

Filmer über Filme (eine weitere Rubrik im Magazin)

Edgar Reitz (Mahlzeiten) trat in Venedig aus der Jury zurück, in seiner Erklärung sagt er unter anderem:  Der Stil der Smoking-Festivals mit ihren zur Prämiierung geschmückten Regisseuren ist lächerlich geworden. Er plädiert für Arbeits-Festivals statt Smoking-Festivals, Reitz meint, dass «sich im Autorenfilm das Existenzminimum der Freiheit darstellt». Beiläufig äußert er einen interessanten Gedanken: «Wenn Autoren Produzenten werden wird aus der Auseinandersetzung (um den Film) ein Gewissenskonflikt.» Autorenfilm als (protestanische?) Internalisierung der filmproduktiven Arbeitsteilung, oder als (katholische?) Ichvergrößerung (jeder ist ein eigenes Studio).

Jacques Tati, von dem Ausschnitte aus einem Interview mit den Cahiers du Cinéma zitiert werden, erzählt von dem «Traum, Hulot als Statist in einem anderen Film zu sehen» (als eine Figur, die mit der dortigen Geschichte nichts zu tun hätte, die man aber als Hulot erkennen würde) – originelle Vorstellung von Wirkungsgeschichte, ließe sich digital noch machen

Fernando Solanas über La Hora de los Hornos als eine besondere Form eines offenen Kunstwerks: «(Der Film) wird erst enden, wenn wir die Macht haben, wenn die Revolution stattgefunden hat.»

Im Hauptteil geht es in einem Gespräch mit Danièle Huillet und Jean-Marie Straub um Die Chronik der Anna Magdalena Bach. Straub erwähnt einen Aspekt, den vermutlich wenige Filmemacher schon beim Drehen im Kopf haben: Er denkt bei bestimmten Einstellungen an die Rollen der künftigen Kopie, schafft also Material für die Überblendung bei der Vorführung (und sieht das als einen Kompromiss, denn eigentlich sollten zwischen den Rollen ein paar Bilder Schwarzfilm zu sehen sein, wie es bei misslungenen Rollenwechseln ja gelegentlich der Fall ist, da sieht man dann Vorlaufmaterial)

Straub über Peter Nestler: «Ich glaube immer mehr, dass Nestler in Deutschland der wichtigste Filmemacher seit dem Kriege gewesen ist – abgesehen von den älteren Leuten, von Fritz Lang, und abgesehen von Angst von Rossellini. Eben deshalb, weil er – wahrscheinlich als einziger hier –, nur das aufgenommen hat, was er aufgenommen hat, und nicht versucht hat, die Leute zu kitzeln.“

Helmut Färber über Die Chronik der Anna Magdalena Bach: «Bach hat seine Musik nicht als Bachfilmmusik komponiert und Straub sie nicht zu einer gemacht, nicht geglaubt, daß er Bach noch weiterkomponieren müßte. Darum ragt Bachs Musik über den Film hinaus und ist wirklich sie, nicht nur ihr Schein in ihm, und man sieht, daß Bach nicht Werke geschaffen, sondern gearbeitet hat, das einzelne Werk nur durch diese Arbeit zustandegekommen ist, und daß er auch andere Sachen komponieren hätte können.»

«Man kann aber, zeigt sich ständig, Filme auch so beschreiben, sehen und machen, daß die Bilder vom Dritten Reich und den Menschen im Hotel so interessant wie irgendwelche Löwen und Gotteslästerer im Römischen Circus sind und ihr Zusammenhang etwas Anonymes, Terroristisches ist, das Chaos des angeblich Selbstverständlichen, filmische und demokratische Spielregeln – Filme so zu machen, beschreiben und sehen, heißt sich und die Welt zugrunderichten.»

Herbert Linder beschäftigt sich mit den Reaktionen der deutschen Filmkritik: (Straub) «zeigt die Revolution einzelner». Der Begriff «Kulturfeldwebel» für einen bestimmten Typus Kritiker: was wäre eine heutige Entsprechung? «Kulturcoach»? Linder verteidigt Straub/Huillet: «Zur Länge der Einstellungen: der Punkt kommt, wenn der Satz zu Ende ist.» Punkt.

Letzter Heftteil: Kritik

Frieda Grafe über Un train, un soir von André Delvaux, ein «Film über die Darstellbarkeit des Todes». Sie gewinnt den Eindruck, «als ob ein Film aus einem kleinen Land (Belgien) wie ein Brennglas funktionieren müßte» (für das kleine Land - heute sieht man auf kleine Länder eher durch Bullaugen als durch Brenngläser)

«Freud hat in einem Aufsatz, in dem er das Interesse der Sprachforscher für die Psychoanalyse postuliert und von Analogien zwischen Darstellungsmitteln des Traums und ägyptischen Hieroglyphen handelt, geschrieben: ‹Es gibt hier wie dort Elemente, die nicht zur Deutung respektive Lesung bestimmt sind, sondern nur als Determinativa das Verständnis anderer Elemente sichern sollen.› (Das Interesse an der Psychoanalyse) Delvauxs Film ist ein Determinativ zum Verständnis des Todes, ein Zeichen, das ihn so angenähert beschreibt wie der personifizierte Tod im Jedermann es auch tut. Mit dem Tod ist nicht nur der Tod gemeint, den man dargestellt sieht in der toten Anne am Schluß des Films. Sondern der Tod, der nach Freud von Geburt an das Ziel unseres Lebens ist, auf den wir zufallen wie der Russe, der, der Schwerkraft vertrauend, sich auf die Erde fallen lässt.» Gravity is bringing him down, den Russen.

Inhaltsangabe (vielversprechend?): «Ein feinsinniger Theaterbesitzer in Manhattan besucht, als irischer Pfarrer, zürcher Klempner, schwuler Haarkünstler, abgewrackte Nutte und Polizist verkleidet, fünf ältere, alleinstehende Damen, die auch nicht alle Tassen im Schrank haben, um sie nach rührenden Liebeserklärungen zu strangulieren.» (Es geht um No Way to Treat a Lady von Jack Smight. Kritik von Siegfried Schober)

Enno Patalas über Tatis herrliche Zeiten – Play Time von Jacques Tati: «Es ist das Frankreich der Plumpsklos, dem Tatis Sehnsucht gehört. Daß Hoffnung beim Neuen, noch Unbekannten, Unvertrauten liegt, dieser Vorstellung widersetzt sich sein Film nicht nur in seinen formulierten Überzeugungen, sondern in seiner ganzen Bewegung, sie ist anti-utopisch. Bis in die Struktur seiner Gagserien hinein erfüllt ihn der Geist, der in der Veränderung das Unveränderliche sucht und Fremdes flink auf Vertrautes reduziert. Deswegen ist Play Time auch so unerotisch.»

Filmkritische Begrifflichkeit: Siegfried Schober versucht es anlässlich von Die Reifeprüfung mit «Magazin-Stil» und «Reklamerealismus»

Peter W. Jansen über Apa von István Szabó: «der Film betrifft auch den Vaterkomplex der Studenten von Nanterre» (über die ungarische Revolution von 1956 hinweg)

Inserat auf der U3

Jean-Luc Godard: «Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß», herausgebracht von der Neue Filmkunst Walter Kirchner

U4 (wie damals fast immer): Schmalfilmvertrieb Bruno Schmidt, Kurfürstendamm 187, Berlin 15, Fernschreiber: 018 3089