filmkritik

31. Januar 2021

Dazwischen Volkssiedlungen Die Zeitschrift FILMKRITIK vor 50 Jahren (28): Heft 01 1971

Von Bert Rebhandl

Sechs Seiten widmet die erste Filmkritik im Jahr 1971 einem Arbeitskampf bei der Süddeutschen Zeitung. Die freien Filmkritiker erhielten 1970 noch immer das 1960 festlegte Zeilenhonorar von 1 DM, und wollten ein höheres erwirken. Sie einigten sich deswegen darauf, vorläufig keine Texte abzugeben, ein Streik, den nur Siegfried Schober brach, der weiterhin zur Filmkritik gehört, in dieser Ausgabe aber nicht vertreten ist. Sie erwirkten eine Erhöhung auf 1,50 DM. Wäre interessant, zu wissen, wie lange das dann galt.

Schwerpunkt des Heftes ist Jean-Maria Straubs Othon, wie der Teil wohl auch aus graphischen Gründen aufgemacht ist, denn genau genommen heißt der Film Die Augen wollen sich nicht zu jeder Zeit schließen oder Vielleicht eines Tages wird Rom sich erlauben seinerseits zu wählen (Les yeux ne se veulent pas en tout temps se fermer ou Peut-etre qu’un jour Rome ce permettra de choisir son tour), und ist von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

Zur Fernsehaufführung am 28. Januar im ZDF hat Straub eine Einführung geschrieben, mit der er erläutert, warum Othon von Corneille, ein «manchmal komisches, gar lächerliches Trauerspiel», das an der Comedie Francaise seit 1708 (!) nicht mehr gespielt worden war, für einen Film als Vorlage diente,  mit dem er zwei Hügel in Rom verbinden wollte, den kapitolinischen und den palatinischen («dazwischen Volkssiedlungen»), und mit dem er eine Figur zu den dramatis personae hinzufügte: «Camilla ... stellt das Land dar, das nie befragt wird und über dessen Schicksal eine Clique bestimmt». Der Othon von Straub ist also ein Film über Oligarchie, in dem Schauspieler im heutigen Rom in französischen Alexandrinern sprechen und eine Sache aus den Annalen von Tacitus schließlich auch für das Publikum des Zweiten Deutschen Fernsehens vergegenwärtigen.

In dem anschließenden Gespräch gibt es einen kurzen Wortwechsel zwischen Frieda Grafe und Straub. Sie sagt: «Man kann doch nicht so tun, als ob das Umgangssprache wäre.» Und Straub erwidert: «Ja, doch.» Grafe kennt sich mit der französischen Klassik aus, aber Straub will sich darauf nicht einlassen: «wenn ich den Film, wie ich gesagt habe, um das provozierend auszudrücken, französischen Arbeitern zeigen würde, ich würde auch denen nicht erzählen: die französische Tragödie – ich würde vielleicht nichts über Corneille erzählen». Es geht also nicht darum, zu etwas hinzuführen, was als kulturelle Form wie auch inhaltlich auf den ersten Blick äußerst anachronistisch wirkt. Sondern es geht darum, darauf zu bauen, dass über die Befremdlichkeit und über die Anstrengung des Zuhörens bei Othon hinaus etwas entsteht.

Frieda Grafe bringt das zuerst einmal auf einen Vergleich: «Ich möchte gern, daß die Leute vor dem Film säßen wie wir in Knokke vor Wavelength gesessen haben.» Da wäre es natürlich interessant gewesen, wenn sie das ein wenig näher beschrieben hätte, was Michael Snows inzwischen auch, aber anders klassischer Avantgardefilm damals ausgelöst hat. Straub will auf einen Begriff von Utopie hinaus, der nur zum Teil inhaltlich bestimmt wird (Camille als Verkörperung des wahren, selbst wählenden Rom), in erster Linie aber mit der Form von Othon zu tun hat: «alles wird Information in dem Film», die Umgebungsgeräusche des modernen Rom sind gleichrangig mit dem Sprechen der Schauspieler.

Idealistisch wäre der Film, wenn er bei einem Gegenschuss einfach den Ton weiter verwenden würde, der aus der anderen Einstellung stammt. Bei Straub und Huillet wird aber beim Gegenschuss der Ton aus dem Off gesprochen, der zu dieser Aufnahme gehört. «Das ist wirklich materialistisch», und Othon ist sogar «ein kommunistischer Film (nicht beabsichtigt) aber er ist das geworden. ... Da steckt der Gedanke drin, wie schön könnte dieser Planet sein, wenn wir daran arbeiten würden, ihn schön zu machen und vorher alles wegzufegen, was diesen Planeten zu seiner Zerstörung bringt, zu seinem Verderben und zu Ruinen macht».

Interessant ist zwischendurch noch eine Bemerkung von Straub über die Kulturrevolution in China. «Ich glaube, die Kulturrevolution, das hat die Chinesen ja etwas gekostet. Die haben ja nicht wie viele sozialdemokratische Intellektuelle in Europa ihre Kultur verachtet. Das hat die was gekostet, denn sie haben sie geliebt. Trotz Schönheit: das muß weggefegt werden. Das ist der Gedanke.» Offen bleibt, wie weit Straub damals bereit war, selbst diesem Gedanken zu folgen.

In der zweiten Hälfte des Hefts gibt es zwei großartige Autorenstücke: Uwe Nettelbeck schreibt ein Fernseh-Tagebuch, und Wolf-Eckart Bühler den Kritischen Kalender.

Nettelbeck weist voran ausdrücklich die Geräte aus, einen Spectracolor 90 von Nordmende und einen P 400 von Grundig. Einiges hat er in Amerika gesehen, das meiste aber in Deutschland, der Unterschied ist eklatant: «wir haben keine Anschauung davon, was kapitalistisches Fernsehen ist». Teil seiner literarischen Strategie ist, das Fernsehen konsequent beim Wort zu nehmen, also wirklich en suite zu notieren, was zu hören und zu sehen ist, ohne da einen Unterschied zu machen.

Höhepunkt ist diese Beobachtung zu Klaus Stephan, damals Präsentator von Report München: «Die Fernsehsendungen, die sich kritisch auseinandersetzen, heißen politische Magazinsendungen. Dem Magazin Report vom Bayerischen Rundfunk sitzt seit ein paar Monaten ein neuer Ansager vor, das ging durch die Zeitungen, die ihm bald vorschlugen, etwas lockerer dazusitzen, und fällt uns zunehmend auf, nicht weil der Mann lügt oder verrückt ist oder gefährlich oder dumm oder einer dieser Polit-Gangster, sondern weil dieser unglückliche, häßliche Mensch immer in derselben Jacke dasitzt, einem äußerst bizarren braunen mit Linien versehenen nicht zu beschreibenden Kleidungsstück, das ihn inzwischen vollkommen ersetzt. In zwei Jahren könnte ein Wechsel der Jacke wie eine Aufforderung zum sofortigen Umsturz wirken.»

Aus dem Kritischen Kalender von Wolf-Eckart Bühler habe ich mir diese Stelle notiert: «18. Nov. Ulla sagt, Filmen wie diesem (San Domingo von Syberberg) könne man nur «beischauen». Right! Syberbergs Film ist obszön.» Das Wort beischauen spielt wohl auf den Beischlaf an, auch auf das Beiwohnen. Wäre auch ein schöner Filmtitel: Beischaudiebinnen.

Einen Film, den ich auch in meine kürzesten Listen aufnehmen würde, Medium Cool von Haskell Wexler, mochte Bühler nicht. Er war ihm zu humanistisch.

 

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