31. Dezember 2020
Der Bleistift ist zweieinhalb Minuten lang Die Zeitschrift FILMKRITIK vor 50 Jahren (27): Heft 12 1970
Ein Heft, in dem es kaum um Filme geht, sondern um eine Alternative zum damals geläufigen Kino. Alles über Super-8, das Dossier erweist sich als ein spannendes Zwischenspiel in einem Medienwechsel, der damals noch kaum zu erahnen war, der aber in einzelnen Sätzen auch schon da ist. Zum Beispiel schreibt Helmut Haffner, bisher kein geläufiger Autor der Filmkritik: «Wir befinden uns auf dem Weg zu dem Kassetten.» Die umfangreiche VHS-Sammlung, die wahrscheinlich die größte medientechnische Fehlinvestition in meinem Leben war, ist da auch schon enthalten. Haffner, vielleicht derselbe, der 1971 als Produzent einer Don Carlos-Adapation von Hans W. Geißendörfer genannt wird, schreibt auch: «Die Elektronik hat sich in fünf Jahren schneller entwickelt als der Film in siebzig.»
Im Zentrum des Dossier steht eine ungeheure, wohl auch nicht billige Fleißarbeit von Edgar Reitz, der auf zwölf eng bedruckten Seiten tatsächlich Fast alles über Super acht mitteilt. Das heißt: alles, was man für ein Arbeiten mit einem Filmformat braucht, das nicht zum Kino gehört. «Man konnte 1968 bereits voraussehen, daß sich die interessantesten Neuentwicklungen des Films außerhalb des Kinos abspielen werden», schreibt Reitz, der 1968 auf dem Festival in Knokke auf Super acht kam.
Das Dossier gehört auch in den generellen Duktus der Filmkritik anno 1970, denn es zog sich durch das ganze Jahr eine Auseinandersetzung mit einem Kinobetrieb, zu dem sich nicht einmal mehr ein kritisches Verhältnis lohnt. Super acht wäre nun theoretisch etwas, womit man ein Kino außerhalb des Kinos machen könnte. «Der Super-8-Film macht die unabhängige Herstellung von Filmen unter den widerwärtigsten Umständen noch möglich», schreibt Reitz. Allerdings sind die konkreten Schwierigkeiten beträchtlich, wenn man sich all das veranschaulicht, was er ausprobiert hat, um Kamera und Tonaufnahme zu synchronisieren (per Quarzsteuerung, ich war damals Schulanfänger und damit auf dem Weg zu einem Firmling, das traditionelle Geschenk zur katholischen Jugendweihe war eine Uhr, bei den frühen Adoptierern schon Quarzuhren), um die Kamera schallzuisolieren (mit Blimps), und um das Ergebnis dann vielleicht auf einem Kassettenprojektor der Firma Eumig vorzuführen. Im Ergebnis ist das ein Verfahren, bei dem man «mit einem Bleistift malt, der alle 2 1/2 Minuten abbricht» (Hellmuth Costard). So viel Filmmaterialdauer passt in eine Super-8-Kassette.
Reitz findet für jedes wichtige Teil einen Größenvergleich, nur einer ist geschlechterspezifisch: eine größere Damenhandtasche, eine Zigarettenschachtel, ein Buch. Eine billige Kamera von Quelle für nur 37,50 DM erweist sich als erstaunlich gut und erlaubt «naives Filmen». Da Super acht aber weiterhin auf Verfahren beruht, die nicht jedermann benutzen kann, und die an «mächtige Großkonzerne gebunden bleiben», und die «vollkommen auf den in seiner Freizeit manipulierten Familienvater berechnet» sind, kann man das System nur «mit unseren Vorstellungen vergewaltigen“, und zwar «gegen den Zwang der Freizeitindustrie».
Reitz kalkuliert die Sachen trotzdem zu Ende: für eine taugliche Ausrüstung, die vorführbare Filme erbringen würde, bräuchte es 28520 DM, er rechnet das um auf sechs Gruppen, die mit je 5000 Mark einsteigen müssten, was sich innerhalb eines Jahres amortisieren lassen sollte.
Vlado Kristl hingegen rechnet in einem kurzen Text Für kaputte Leute sehr einfach: Super 8 ist vorläufig einfach die billigste Art, um Filme herzustellen. «Ob durch den Amateurfilmmarkt ein Grundstein zur Massenerziehung neuer Art gelegt worden ist oder ob es Superkleinbürgervorstellungsdünger bleibt, ob Bewußtseinsverdunkelung oder nicht, ist im Augenblick nicht wichtig.» Kristl hofft gleichwohl auf eine Professionalisierung von Super 8. Vorerst aber bleibt (damit) nur «zerstörerische Aktivität».
Alf Brustellin erwähnt zwei Einsatzgebiete, die uns heute noch besonders einleuchten: Bei Demonstrationen «waren 12 Prozent der Demonstranten mit Super-8-Kameras ausgerüstet». Es wäre spannend, den Text von Reitz vor diesem Hintergrund von Smartphone-Entwicklern lesen zu lassen, die bei dem Gedanken an die Größe einer Zigarettenschachtel vermutlich nervös würden (viel zu dick). Mit einem Handy wurde der Tod von George Floyd gefilmt, was natürlich vor allem mit Fortschritten in der Elektronik zu tun hat. Das zweite Einsatzgebiet findet sich in einer Bemerkung, die Gleichnis und Kalkulation verbindet: «Ein Freund erzählt, nachdem er 12 Pornofilme je 30mal gesehen hatte und darüber traurig geworden war: Wir lagen im Bett und schnurrten uns an mit den Kameras; so hatten wir schon wieder alle Hände voll zu tun. Anschließend – drei Tage später – verkaufte er seine Pornos mit Gewinn. Er hatte sie nicht nachgeahmt; er hatte bessere Filme gemacht.»
Ich kehre zurück zu dem Text von Haffner, der ein Verfahren erwähnt, mit dem die Brücke zum Fernsehen geschlagen wird: George Moorse «verwendet statt der Leinwand einen Spiegel, der das vom 8mm-Projektor abgegebene Bild direkt in die elektronische Kamera leitet. Da das damit erzielte Bild bei der Sendung genauso den Schirm füllt wie etwa das des 35mm-Kinofilms, ist der Unterschied zum gewohnten Fernsehbild, technisch gesehen, ohne Bedeutung.»
Super 8 wäre wohl nur etwas geworden, wenn es gelungen wäre, neben der Aufnahmefrage auch die Vorführfrage befriedigend zu lösen, sich also vom Fernsehen und vom kommerziellen Kino unabhängig zu machen. Unsere Handys haben das gelöst, allerdings um den Preis, dass sie uns auf eine extreme Weise an «mächtige Großkonzerne» gebunden haben, und wir auf kleine Displays starren und nicht mehr (so oft) auf große Leinwände.
Im Kritischen Kalender fällt Klaus Bädekerl die Aufgabe zu, sich mit dem Ende 1970 aktuellen Kino zu beschäftigen. Er tut das im Geist eines demonstrativen Desinteresses: er will keine hilflosen Sätze über noch hilflosere Filme verlieren. Allein der Western Monte Walsh von William A. Fraker lohnt zwei, drei Spalten genauere Auseinandersetzung, und erfährt auch ein Kompliment, das vielleicht Ende 1970 nicht mehr ganz das Gewicht hat, das es zwei, drei Jahren früher gehabt hätte: «Ein Großteil des Films zeigt nicht mehr als die Arbeit einer Handvoll Cowboys auf einer Ranch und all die Freundschaften und Rivalitäten, die damit zusammenhängen und hier so nahe beisammen liegen wie sonst nur bei Hawks.»
Bei Hawks trifft das teure, kommerzielle Kino etwas, was Haffner (und Reitz) mit Super 8 zu retten versuchen: «Es gab in der Vergangenheit einmal eine Briefkultur, die selbst noch in belanglosen Alltagsinformationen literarische Leistungen hervorbrachte, ohne daß dies beabsichtigt war.» Professionalismus und Amateurismus werden ununterscheidbar. Das wäre wohl auch die Utopie hinter dem Dossier Alles über Super 8, aber nicht das Interesse der Industrie.