filmkritik

31. Dezember 2019

Türen zum Einrennen Die Zeitschrift FILMKRITIK vor 50 Jahren (15): Heft 12 1969

Von Bert Rebhandl

 

Das Heft beginnt mit vier Seiten über Redaktionsinterna: Die Filmkritik gibt sich eine Verfassung und wird nunmehr von einer Filmkritiker Kooperative herausgegeben. Diese wählt (jeweils auf die Dauer von zwei Jahren) einen Redaktionssekretär. Die Satzung stärkt die Rechte der Autoren. 7.4. heißt es zum Beispiel: Nachträgliche Änderungen können gewünscht, aber nicht verlangt werden.

Von anderen Filmzeitschriften gibt es ausgerechnet in diesem Heft Bedenkliches zu vermelden: Der Verleger der Cahiers du Cinéma stellt das Erscheinen des Heftes vorübergehend ein, weil sie zu einer Zeitschrift geworden wäre, «die er selber nicht verstehe». In Deutschland kündigt der Friedrich Verlag den Chefredakteur der Zeitschrift film, Werner Kließ, und benennt den Titel in Fernsehen und Film um. Kließ wird vorgeworfen, film so einseitig redigiert zu haben, dass darin «die Gesichtspunkte und Meinungen der revolutionären Linken immer stärker dominieren».

Enno Patalas, nunmehr Redaktionssekretär der Filmkritik, erläutert «In eigener (und Anderer) Sache», was er die «die erste demokratische Verfassung einer deutschen Zeitschrift?» nennt (das Fragezeichen ist rhetorisch). Mit der neuen Satzung «erhalten die ständigen Mitarbeiter der Filmkritik Hausrecht in ihr». Die, die die Zeitschrift machen, haben begonnen, «ihre Interessen als Publizisten selbst zu organisieren».

Inhaltlich erhofft Patalas eine Pluralisierung der Themen: Theater, Platten, Kochen, Fernsehen, Bücher, Comics, Drogen oder Aktionen. Den Kollegen von film, die aus Solidarität mit Kließ dort nicht mehr schreiben, öffnet die Filmkritik die Tür ausdrücklich nicht. «Wir sind weder tolerant noch ‹anti-autoritär›. Wir werden – film hin oder her! – die Filmkritik nicht zum Sammelbecken aller filmbefaßten ‹Linken› machen.»

Eingeladen werden hingegen «neue Autoren, Ansichten und Schreibweisen». Patalas möchte keine (auch keine linken) Klüngel. Er weiß aus B-Pictures von Ausschlussmechanismen. «Ein völlig demokratisch regierter weißer Bezirk erwehrt Schwarzen den Zuzug.» Seine Folgerung ist allerdings seltsam formuliert: «Die ‹Schwarzen› des deutschen Film- und Schreibbetriebs werden höflich gebeten, uns die Türen einzurennen. Wir werden uns zu wehren wissen.»

Ein Beispiel für die neuen Themen folgt sofort: Mechthild Rausch berichtet über den Kölner Kunstmarkt 69. Sie hält eine strenge Distanz zu Positionen, die sie als Modeerscheinungen begreift, das trifft gleichermaßen Beuys (und seine «prostituierte Wirklichkeit») und Otto Muehl, durch dessen Aktionen sie sich (mit einem Wiener Ausdruck) «gefrozzelt» fühlt.

Frieda Grafe und Enno Patalas berichten aus Lyon, wie sich dort eine Retrospektive über CINÉMA REALISTE ALLEMAND ein Bild vom deutschen Film der Zwischenkriegszeit zu machen versuchte: Czinner, Lamprecht, Dupont, Lang, Grune und als Höhepunkt Phantom von Murnau. «Er stellt vor die Wahl: sich selbst aufzugeben durch die Unterdrückung dessen, wozu es einen drängt oder als Wahnsinniger zu gelten in einer Umgebung, deren Regeln zu akzeptieren man nicht bereit ist. Diese schwerfälligen Überlegungen haben nur annähernd zu tun mit Murnaus Film. Der schwebt.»

Jutta Burghardt berichtet über Film in Schwarzafrika. Sie steigt mit einem harten Satz ein: «In Deutschland erfuhr man dieses Jahr von der Existenz eines Films, den es seit etwa 1962/63 gibt: den Film, den Afrikaner für Afrikaner machen.» Der Text ist sehr ambivalent und noch in den kritischen Wendungen von den Vorurteilen einer hegelianisch inspirierten Geschichtsauffassung geprägt: «Eigentlich sollten die Europäer erstmal ihren Mund halten. Zumal dann, wenn ihre Kritik ein Bewußtsein in statu nascendi trifft, an deren (sic) Unterdrückung sie die Schuld haben.»

Erster Höhepunkt des Hefts ist der Abdruck des Szenarios zu Schwestern der Revolution von Rosa von Praunheim, der im Heft davor kurz erwähnt und in Mannheim mit einem «Filmdukaten» ausgezeichnet worden war. So weit ich sehen kann, gibt es den Film nirgends, er wäre von größtem Interesse. Denn er entwickelt eine Gender- und Queerness-Theorie, ohne von den damals gerade erst einsetzenden Elaborierungen dieser Konzepte schon viel wissen zu können.

Thema ist, wie sich die (männlich begriffenen) Schwulen zu der Frauenfrage verhalten sollen. Sie schlagen sich auf die Seite der Frauen: «Schwestern der Revolution ist eine Kampfgruppe von Homosexuellen innerhalb der politischen Linken, die sich für die Befreiung der Frau einsetzt.» Die Szene des Films ist vage postapokalyptisch (vielleicht vergleichbar mit der Müllhalde in Godards One Plus One).

In den Dialogen geht ständig Identitätsdifferenz (schwul/nicht schwul) mit einer naturhaft begriffenen Geschlechterdifferenz durcheinander. Ein «Mädchen» sagt: «Das Geschlechtliche ist etwas Furchtbares, das mir nicht gestattet, mein eigenes Leben zu führen. Gegen die Macht der Natur konnte ich nicht meinen Willen durchsetzen, hinzugehen wo ich will, ohne eingefangen zu werden von den Fallstricken der Liebe.» Das Motiv für den (das Wort fällt so nicht) Feminismus der Schwulen ist dann schon komplexer: «Wir haben uns entschlossen, Frauen, die wir nicht mögen, zu helfen, aus dem triftigen Grund, weil die Autorität des Mannes, den wir bewundern, nur scheinbare Befriedigung ist und uns nur den Ausweg lässt, Sexualität als Neurose zu erleben.»

Revolutionäre Überwindung der Neurose bringen erste «Momente einer zukünftigen Gesellschaft ..., die sowohl alle Lebensverhältnisse erotisiert, als auch Aggressionen produktiv macht». Im Verhalten der Schwestern der Revolution zeigt sich auch eine schwule Selbstkritik: «Sie solidarisieren sich nicht in der Not, weil sie selbst von ihrer Minderwertigkeit überzeugt sind. Homosexuelle Bindungen halten nicht, weil keiner sich unterwerfen will, in einer Gesellschaft, die darauf eingestellt ist, daß man sich unterwirft.»

Die Frauen sind Opfer wie Symptome dieser Gesellschaft. Die Frau wird als «Hüterin ihres K.Z.» gesehen, ihr bleibt kein anderer Traum der Vollendung als der des Masochismus. Dann doch sehr festlegend: «Dieser magische Eros der Frau ist anarchistisch, weil er kein Bewußtsein von der Bedingtheit des Wirklichen erworben hat.» Dagegen ein weibliches Protestmotiv: «Ich will kein Osterhase sein, obwohl ich sensibel und anlehnungsbedürftig bin.»

Der Film bzw. das abgedruckte Drehbuch endet nicht revolutionär, sondern mit einer bürgerlichen Zweierbeziehung eines Mannes und einer Frau: «Ich empfinde mich so stark als Frau, daß mich niemand haben will, denn niemand möchte eine Frau haben. Ich bin noch keinem Mann begegnet, der mich so nimmt, wie ich bin. Ich möchte mich unterwerfen, indem ich selbst nichts dazu beitrage.» Das Drama des Selbstmissverständnisses setzt sich durch. «Verzeih mir, mein Schatz, lass uns alles vergessen.» Die Schwestern der Revolution, wenn ich das richtig verstehe, müssen sich neu formieren.

Vermutlich redaktionell nicht als ausdrückliche Montage zu Praunheim intendiert, aber de facto als solche lesbar sind dann zwei Texte in der Kritik über Werner Nekes und Dore O. Hier wiederholen sich die Kategorien der Geschlechterdifferenz als Zuschreibungen an eine männliche vs. weibliche Ästhetik, noch dazu bei einem Filmemacherpaar: «Nebula ist ein Emanzipationsfilm, der sein dokumentarisches Material in den Kontext eines emanzipierten Sehprozesses einbezieht: noch in den Alltagsszenen, die er auf Nachbar-Balkonen beobachtet, und in den Fensterhöhlen gardinenverhängter Wohnungen läßt sich authentische Unterdrückung ausmachen», schreibt Jörg-Peter Feurich über Nekes.

Dietrich Kuhlbrodt macht die Schere auf: «Formale Technik auf der einen Seite (Nekes), unmittelbare Selbstentäußerung auf der anderen (Dore O.)». Und er fasst die Filme von Dore O. so zusammen: «Die Schönheit des Werks entfaltet sich während des Ansehens: in der Erfahrung (oder in der Erinnerung der Erfahrung) der Vielfalt der Möglichkeiten – in einem Raum, den die Sprache noch nicht zivilisiert hat.»

Zweiter Höhepunkt des Hefts ist der Kritische Kalender von Wim Wenders, der auf drei Seiten vielleicht einen seiner besten Texte enthält. Über Das Schloß in den Ardennen: «Das ist ein Film für taubstumme Kriegsblinde. Otto Muehl sollte daraus lernen und auch nach Hollywood gehen.» (Die stumpfe Provokation von Muehl rumort schon seit zwei Heften herum.) «In dem dritten Kollefilm bewegen sich die Leute, während sie sich lieben, wie RAUPEN: das liegt an dem Kameraausschnitt, nicht an der Liebe. Die FSK sollte anfangen, so etwas zu bemängeln.»

Bei Alexandria - Treibhaus der Sünde (Justine) von George Cukor erwähnt Wenders eine Totale: «Man kann sich vorstellen, daß Cukor sie aus seinem Hotelzimmer gedreht hat, weil ihm die Stadt gefallen hat.» Kein Pardon gibt es für Fassbinders Katzelmacher: «Das Grauenvolle an diesem Film ist, daß er bis ins kleinste Detail lustlos ist.» Ein «Totenfilm» (ausgenommen Hanna Schygulla).

Über Blutige Spur von Abraham Polonsky, eines der Opfer der McCarthy-Kampagne: «Er hat einen unglaublich sorgfältigen und liebevollen und zurückhaltenden Film gemacht, der Unterdrückung und Brutalität nicht exemplifiziert wie die Western der letzten Zeit, die dahergepoltert kommen und auch in den Augen nur Krach schlagen, sondern der sich im Gegenteil auf die Seite der Unterdrückten stellt: indem er ihre Verwundbarkeit erfahrbar macht. Willie Boy ist ein resignierter Film, nicht wehleidig, aber traurig. (...) Einmal sieht man Willie Boy von oben in einer Totalen laufen, den Oberkörper merkwürdig vorgebeugt, mit herabhängenden Armen und schleppenden Schritten, aber trotzdem schnell und zügig. Das ist das empfindlichste Bild, das ich je von einem Indianer gesehen habe.»