31. Oktober 2020
Vor dem Code Die Zeitschrift FILMKRITIK vor 50 Jahren (25): Heft 10 1970
Das Paar Grafe / Patalas hält das Heft mit einer Klammer zusammen.
Weiter vorn im Tagebuch beschäftigt sich Enno Patalas mit neuer, linker Medientheorie. Er zitiert aus Büchern und Texten von Friedrich Knilli und Hans Magnus Enzensberger, ohne die Titel zu nennen (bei Knilli handelt es sich um Deutsche Lautsprecher. Versuch einer Semiotik des Radios, bei Enzensberger um den Baukasten zu einer Theorie der Medien, erschienen in Kursbuch). Linke Medientheorie will «die Menschen zum Reden bringen», «ihre Utopie ist die liberale Diskussion», ihre Vision ist «eine durch Konferenzschaltung verbundene Menschheit, sich ununterbrochen Botschaften übermittelnd» (mittlerweise eingelöst, damals eher noch als Rückkanal bei Sendungen gedacht).
Patalas repliziert nicht auf der Ebene der Theorie, sondern spielerisch: «Wer sich eine Utopie machen will davon, wozu die Multiplikation von Radio- und Fernsehsendern gut sein kann, der findet bessere Inspiration in den Filmen von Ophüls als in den Aufsätzen von Knilli und Enzensberger.»
Frieda Grafe «repliziert» auf die Vorlage von Patalas in dem zentralen Text des Hefts: einem Essay über Die verkaufte Braut von Max Ophüls, einem Film aus dem Jahr 1932, der im März 1970 im Studienprogramm des Bayerischen Fernsehens lief, und danach in anderen Dritten Programmen. Medientheoretisch im eigentlich Sinn ist der Text allenfalls dort, wo Grafe feststellt, dass von der Vorlage, einer komischen Oper von Smetana, nur «eine Art Digest» übriggeblieben ist. Und dass der ganze Film von einem «Ausverkauf der bürgerlichen Darstellungsformen zu Einheitspreisen» geprägt ist.
Ein Heiratsvermittler in einem böhmischen Dorf will eine Verbindung von Geld mit Geld organisieren, die Liebe bringt alles durcheinander. «Die Zerstörung bürgerlicher Vorstellungen von Eigentum, von folgerichtiger, reibungsloser Zirkulation der Reichtümer ist total und subtil.» Der bürgerlichen Moral «droht in Ophüls’ Filmen immer der Bankrott durch die Liebe, als dem Unberechenbaren, das Reichtum entstabilisiert». Während bei Smetana schließlich doch das Geld zum Geld findet, macht Ophüls aus der Vorlage «ein Tableau, das jeder Vorstellung von rechtmäßigem Erbe, Folgerichtigkeit und Kontinuität Hohn lacht».
Nachklänge des spannenden Theorie-Hefts aus dem August kann man aus den bilanzierenden Passagen in Grafes Text über Die verkauften Braut erkennen: «Bei Ophüls tendiert die Sprache zur Reklame, nicht weil die böse Reklame die reine Sprache verdorben hat, sondern weil diese Tendenz der Sprache inhärent ist. Sie hat immer mehr versprochen, als sie zu halten in der Lage ist.» Und dann ziemlich grundsätzlich: «die gegenwärtige Krise der Darstellung, der Repräsentation, das Ende der klassisch-realistischen Erzählweise mit einem alleinverantwortlichen Autor, mit einer Wahrheit, mit einem Sujet und mit einem Schluß, der die Ordnung herstellt».
Keine eineinhalb Spalten braucht Peter Nau für seine Auseinandersetzung mit den Materialfilmen von W & B Hein. Nau spielt mit dem Format des Leserbriefs, als einer Textsorte, die zu seiner Form von Intervention gut passen würde. Die Materialfilme tun das nicht, was Film zumeist tut: sie sind kein Trägermaterial für Bilder «von» etwas, sondern sind mit ihrem Materialcharakter selbst Bildereignis, sie bilden also nichts ab oder referieren auf nichts außerhalb des Materials selbst.
Nau sieht in diesem Manöver (einer klassischen Avantgarde-Strategie) «nur die Kehrseite des totalen Affirmationscharakters der meisten Filme (...), aber eine Alternative». Dann beschreibt er eine Einstellung, ein Bild aus dem Film It’s Only Money (Frank Tashlin 1962, die Filmkritik verzichtet auf diese Angaben, man gibt vor, es wäre geläufig, worüber zu sprechen ist): ein Auto in der Dunkelheit hält auf einer Straße mit Bäumen, dahinter das Meer. «Das ist viel schöner – in seiner Reduktion auf den Bildausschnitt – als in Wirklichkeit. (...) Gegenüber dieser Gewalt sind die Befreiungakte des Materials bei W & B Hein allerdings ‹nur› aggressiv.»
Der zweite Haupttext neben dem vom Frieda Grafe gilt Truffaut L’Enfant sauvage, auf den die Filmkritik hier also zurückkommt. Jürgen Ebert schreibt darüber eine grundsätzlichen Text mit dem Titel Von der Aufgabe des Kinos. Zu Beginn taucht eine begriffliche Unterscheidung auf, die heute vielleicht sogar wieder adaptabel wäre, wenn man sie mit einem passenden Verständnis von Kritik versehen würde: Publikumsfilme gegen Kritikerfilme. Kritikerfilme wären heute vielleicht nicht solche, die von Kritikern hochgeschrieben werden, sondern um die sich nach den Festivalpremieren ein internationales Text- und Verweisgespräch entwickelt, das ihre Karriere begleitet und vielleicht sogar unterstützt.
Das Kaspar Hauser-Motiv bei Truffaut überträgt Ebert direkt auf das Medium Kino: Gegenstand des Films «ist die Erfindung des Kinos, moralisch verstanden, das heißt die Geburt eines Bewußtseins». Kinos sind «eine Einrichtung der Zivilisation», der Junge aus dem Wald erlebt im einem Film eine Sozialisierung, in der «Kindheit und Kino zu einem Motiv verschmolzen» werden. «In der Kindheit und im Kino ist die sinnliche Aufnahmefähigkeit am größten.» Truffaut erinnert mit seinem Film über eine Kindheit «an die Kindheit des Films», er lässt «die Sprache der Bilder sprechen».
Schließlich ist in diesem Heft noch ein Ereignis zu verzeichnen: die Filme von Peter Kubelka tauchen zum ersten Mal auf. Dietrich Kuhlbrodt begegnet ihnen mit starker Ambivalenz, das zeigt der «liturgische» Ton in der Einleitung. «Höret und sehet, sein Reich ist gekommen, und es ist ganz von dieser Welt. Wer darinnen haust, wird des Staunens und Wunderns nicht müde, und reichlich wird ihm gewährt: Film. Wer so belohnt werden will, muß sich aufnahmebereit gezeigt haben, lernbegierig und willens, dem großen Lehrer Kubelka zu folgen.»
Mit Unsere Afrikareise, einem Film über österreichische Spießer auf Safari, kann Kuhlbrodt viel anfangen. Er sieht eine «eindeutige Polemik», aber «der Film erledigt sich nicht mit dem Transport der Mitteilung. Zusehends wird er schöner, da Kubelka sein Anliegen formuliert und bis in letzte Detail allegorisiert. (...) was als perfekt-elegante Form der Polemik Abbruch zu tun scheint, verleiht ihr, der schnell verrauchten, in der Struktur Dauer und Nachhaltigkeit».
Höhepunkt des schmalen filmischen Werks von Kubelka aus den 60er Jahren ist der abstrakte Arnulf Rainer. «In den 6 1/2 Minuten von Arnulf Rainer ist die Reinigung vollzogen. Aus dem Film über den Maler wurde eine gänzlich gesäuberte Leinwand. (...) Ein unabsehbarer, kultischer, unerläßlicher Film, im besten Sinne situationslos (...) Den Bildern ist jeder subjektive Überschuß ausgetrieben.» Dann kommen die Einwände: «Mich regt Kubelkas Starre auf», Kuhlbrodt verspürt bei Kubelka eine «emanistische Gewißheit», «er gewährt», er schafft eine «Ordnung der Freiheit», aber eben keine Freiheit. «Kubelkas An-anarchismus: ein atmosphärisches Reich zwischen Kult und Computer» – immerhin weiß der Filmkünstler, der die Streifen seiner Filme auch als Objekte zeigt und die Partituren dazu als Kunstwerke sui generis, viel von der Codiertheit der Kunst, und damit von dem untergründigen Thema dieses Hefts.