6. Februar 2009
Wer ist das Volk? Auch in diesem Jahr sind die herausragenden Arbeiten im Forum Dokumentarfilme: Cong Fengs Doctor Ma’s Country Clinic und Material von Thomas Heise
Dr. Ma ist ein schweigsamer Mann, der seinen Patienten erst einmal geduldig den Puls fühlt, bevor er erfragt, was nicht stimmt. Seine Landarztpraxis liegt im Kreis Gulang, einer unwirtlichen Gebirgsregion im Norden Chinas. Die Ambulanz besteht aus einem einzigen Raum. Sie ist Behandlungszimmer, Wartezimmer und Apotheke in einem. Ein Ort intensiver Kommunikation. Das Reden über die physischen Beschwerden geht oft unmittelbar in Systemkritik über. Korruption, Enteignungen, das Fehlen einer funktionierenden Rechtssprechung und die Intransparenz der Bürokratie lauten die wiederkehrenden Themen. Die Krankheiten sind häufig direkte Produkte der Arbeitsbiographien. Die unbeschreiblichen Arbeitsbedingungen in der örtlichen Kohlegrube haben beispielsweise einer ganzen Generation von Männern eine Staublunge eingetragen – und ein Höchstalter von 60.
Dr. Ma unterhält die öffentlichste und (auch für den Zuschauer) informativste Arztpraxis, die man sich überhaupt nur vorstellen kann. Menschen aus der ganzen Region bringen ihre Geschichten mit, tauschen sich aus, stimmen überein. Vom chinesischen Boom haben sie nichts mitbekommen, außer, dass der Migrationsdruck zugenommen hat und die Jungen in heimatlose Wanderarbeiter verwandelt wurden. Die Alten bleiben derweil krank und verarmt zurück; manche Dörfer sind vom Bevölkerungsschwund vollkommen ausgelaugt, der Boden ist durch einseitige Beanspruchung und Umweltverschmutzung unfruchtbar geworden.
Nur selten verlässt Cong Fengs DV-Kamera die Arztpraxis: wenn es lautstarken Streit vor der Tür gibt über vorenthaltenen Lohn, ein Hausbesuch unvermeidlich ist oder einer der Arbeiter die Kohlegrube vorführt. Und noch einmal eindrucksvoll ganz am Ende: eine Beerdigung mit harten Trinkspielen und einem bunten Sarg im dichten Schneetreiben.
Es sind Filme wie Wang Bings monumentaler Tiexi District (Forum 2002) oder außergewöhnliche Langzeitbeobachtungen wie Doctor Ma’s Country Clinic, die tatsächlich eine «digitale Revolution» andeuten. Sie eröffnet dem Kino einen neuen langen Atem, der noch die entlegensten Orte und Zusammenhänge erreicht. Cong Feng filmt über weite Strecken aus der Hand, in einer Ecke der engen Praxis stehend. Mit schnellen Zooms reagiert er spontan auf neue Gesichter und aufkommende Gespräche. Ein Direct Cinema: Das Wahrnehmen einer Situation und ihre filmische Umsetzung sind in gewissem Sinn identisch. «It’s great if filming can heal our pain», heißt es einmal in den Untertiteln. Die Frau, die diesen Satz spricht, glaubt nicht so recht daran. Und dennoch gibt es wohl keinen Film, in dem das ausgebeutete und zurückgelassene chinesische Landproletariat vergleichbar ausführlich zu Wort kommt. In eine nationale Fortschrittserzählung lassen sich die vielen inoffiziellen Geschichten, die hier teils resigniert, teils engagiert ausgebreitet werden, in jedem Fall kaum übersetzen.
(Ein Buch-Hinweis zum Film: Chen Guidi / Wu Chuntao: Zur Lage der chinesischen Bauern: Eine Reportage, Zweitausendeins 2007, 600 Seiten, ca 40 Euro)
Zuletzt für Kinder. Wie die Zeit vergeht (2008) war Thomas Heise in das Archiv seiner eigenen Filmographie gegangen und hatte neue Montagen mitgebracht. Das alte Material verband sich mit dem in Halle-Neustadt neu gedrehten und wurde als «Übermalung» präsentiert, als Meditation über die Zeit des Dazwischen.
Material folgt dieser Spur im Sinne eines werkimmanenten Found-Footage-Films. Der Fundort ist der eigene Bestand, die Bilder enthalten im emphatischen Sinn die Geschichte des Finders. Das Kernsujet ist das alte – die deutsche Geschichte – der Tonfall ein modifizierter. Material ist elegischer, fragmentarischer und privater als Heises vorhergehende Arbeiten, man könnte auch sagen: offener als zuvor wird die eigene Biographie auf den Lauf der Geschichte bezogen. Und: mehr denn je vertraut Heise darauf, dass das Material für sich selbst spricht, nicht erklärt, gerahmt, deutlicher kontextualisiert und mit einem orientierenden Index versehen werden muss. In der idiosynkratischen Geschichte ist die allgemeine enthalten; ein Ansatz, der die Eintrittsschwelle höher setzt.
Bilder aus 20 Jahren: Die Aufnahmen sind zum Teil Outtakes und stammen vorwiegend aus den Jahren um 1989, reichen aber bis in die Gegenwart. Immer wieder taucht der Theaterregisseur Fritz Marquardt auf (der auch in Volker Koepps Uckermarck eine prominente Rolle spielt), man sieht ihn mit Heiner Müller bei den Proben zu Germania Tod in Berlin und bei einem Ausflug ins Grüne.
In Erinnerung bleiben insbesondere Heises Aufnahmen von den Demonstrationen auf dem Alexanderplatz. Schabowski wird als Redner nicht in den Kader gelassen, Heise filmt stattdessen in die Menge, zeigt die Reaktionen Einzelner. Als suche die Kamera nach einem revolutionären Subjekt, das sich in der Totale nicht zeigt. Als Individuen treten Strafgefangene und Strafvollzugsbeamte auf. Erstere wollen eine zweite Chance, zurück in die Geschichte, die sich außerhalb der Gefängnisse, im Off, gerade umwälzt, letztere sorgen sich um den bevorstehenden Riss, der ihre Biographien zweiteilen wird.
Zu den übrig gebliebenen Bildern, die «rechts und links der Filme» (Heise) entstanden waren, kommen im letzten Drittel Bearbeitungen offizieller Übertragungen. Eine legendäre Volkskammersitzung in der Günther Krause (letztlich erfolgreich) versucht, der Öffentlichkeit die Befragung von Stasi-Informanten vorzuenthalten und in der der PDS-Abgeordnete Peter Stadermann wortreich und ohne Schuldbewusstsein seinen Rücktritt erklärt (16 Tage später saß er für die PDS in einem anderen Parlament, dem Landtag von Mecklenburg-Vorpommern). Material endet mit Bildern des entkernten Palastes der Republik. Gegen den neuen Historismus der Stadtschlossbefürworter setzt Heise darauf, dass Geschichte eine materielle Seite hat. Und Fritz Marquardt singt dazu das Lied vom Rehlein und vom Kuckuck und der frühen Zeit.