berlinale 2024

6. März 2024

Alles noch da Zum Internationalen Forum 2024

Von Leonard Krähmer

Deda-Shvili an rame ar aris arasodes bolomde bneli

Deda-Shvili an rame ar aris arasodes bolomde bneli (Lana Gogoberidze)

© 3003 Film Production (courtesy of Berlinale)

 

Back to Hongkong, so die sinngemäße Ankündigung der neuen Sektionsleiterin Barbara Wurm bei der Programmvorstellung des Forums im Vorlauf der Berlinale. Hongkong liegt heute in Indien oder Südkorea. Eine Hinwendung zu populären Formen, auch zu denen des konventionelleren Erzählens, mit oder ohne Genrekorsett. Ein Versprechen? Eine Drohung? Die cinephil distinguierte Schnappatmung folgt auf dem Fuß: Wo wird das Fragmentarisch-Marginale bleiben, der filigrane Essayfilm, der Post Cinema-Hybrid, das experimentelle Wagnis, bei dem am Ende nur eine Handvoll Beharrlicher im Saal übrig ist?

Um es kurz zu machen: Es ist alles noch da, in der ein oder anderen Form (und oft in der anderen), irgendwo unter den 30 Filmen des Hauptprogramms plus Special. Das Spektrum hat sich nur in Richtungen erweitert – erweitert nicht aber im Sinne eines Forum Expanded, dazu ist die Trennschärfe gestiegen –, die nicht unbedingt abzusehen waren, auch wenn sie vielleicht nicht ganz neuen, sondern bereits vorgezeichneten Linien der nun auch nicht schmalen Forumstradition entspringen mögen.

Hier ein erster kursorischer Versuch, das Feld abzustecken: Ein aufwändig produziertes, parabolisches period piece (Săptămâna Mare) und ein nicht so aufwändiger Essayfilm (IHRE ERGEBENSTE FRÄULEIN) über brodelnde antisemitische Ressentiments; eine Studie patriarchaler Unterdrückungsstrukturen im Gewand des Roadtripfilms (KOTTUKKAALI); ein japanischer Feelgoodmovie, der kleine Höflichkeitsgesten als Angestelltensolidarität kosmischen Formats feiert (YOAKE NO SUBETE); drei unterschiedliche Biopics über Frantz Fanon, Maria Lassnig und Maria Leiko, die Biopic-Konventionen auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichem Erfolg zu unterlaufen versuchen; mit SPUREN VON BEWEGUNG VOR DEM EIS ein klassischer Experimentalfilm, der ein Verlagsarchiv durch sensorische Materialitätsemphase erkundet – und mit IL CASSETTO SEGRETO ein Gegenpart, dessen Archivierungspraktiken mehr der persönlichen Erinnerung verpflichtet sind.

Dass ich an einem Samstagnachmittag im Rang des übervollen Delphi Filmpalasts sitzen und mir PA-MYO, einen starbesetzten Horrormysterythriller samt geöffneten Gräbern und Feng-Shui-Geomantie anschauen und dabei auch noch Spaß haben würde – darauf hätte ich jedenfalls nicht gewettet. Die Stimmung war gut, die koreanisch-berlinische Community präsent, saß sogar auf den Stufen im Gang. Am koreanischen Box Office bricht der Film unterdessen Rekorde; so viel zur populären Form.

Von PA-MYO ließen sich sanfte Verbindungen ziehen, ins Forum Special (Motto: Relations & Resistance) zum Beispiel, wo sich die koreanisch-japanische Geschichte nicht aus Gräbern kriechend Gehör verschafft, sondern die VOICES OF THE SILENCED ertönen lässt, während der Co-Regisseurin Park Soo-nam das Augenlicht schwindet. So sanft die Verbindung auch sein mag, so arbiträr ist die Übung, ein keineswegs arbiträres Programm im Nachhinein gegen den Strich lesen zu wollen. Zu bestimmen, wie es um den prototypischen Forumsfilm steht, ist ebenso müßig. Zumal mit Rücksicht auf einen Wettbewerbsjahrgang, der erneut den Beweis antritt, dass die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm poröser denn je sind, indem er Bären bereithält für postkoloniales Experimentalkino in Gestalt von DAHOMEY und PEPE. Den Forumsprototypen gibt es also nicht. Das könnte auch keiner wollen, falls heute noch Bestand haben soll, was Ulrich Gregor 1997 als Selbstverständnis des Forums benannt hat: «Pfade in den Dschungel der weltweit wuchernden Filmformen und -stile schlagen.»

In der Hinsicht kann es schon mal nicht schaden, dass das von Barbara Wurm zusammengestellte Sichtungsteam ausgesprochen jung, weiblich und überhaupt mit allerlei Diversitätsmacheten ausgestattet ist. Mir hingegen wird nichts anderes übrigbleiben, als zum Querschnitt durch das Programm anzusetzen und Clusterbildung zu betreiben. Was eine diachron motivierte Bestandsaufnahme des heutigen Forums im Spiegel seiner bewegten Geschichte angeht, ist meine Urteilskraft mindestens mal von Alters wegen beschränkt; sehr wohlwollend verfolgt, wenn auch sporadisch, habe ich nur die Zeit unter Cristina Nord. Was auch nicht weiter schlimm ist, wenn ich mich dazu anhalte, auf großspurige Thesen zu verzichten, so das eben geht, und die Filme sprechen zu lassen, so sie das eben können.

 

Vom Riss in der Leinwand und der Wahrheit dahinter: DEDA-SHVILI AN RAME AR ARIS ARASODE BOLOMDE BNELI / HENRY FONDA FOR PRESIDENT / INTERCEPTED

Einer kann das in allen erdenklichen Registern. Lana Gogoberidzes DEDA-SHVILI (MOTHER AND DAUGHTER), obzwar im Special programmiert, bringt neben vielen anderen Qualitäten auch jene mit, so etwas wie den thematischen Kern der diesjährigen Auswahl zu enthalten. Lanas Mutter Nutsa Gogoberidze, die erste (lange vergessene) Regisseurin Georgiens, ist Movens und Adressatin dieses synästhetisch verfahrenden Stücks Erinnerungsarbeit. Es geht um die transgenerationale – das heißt hier: matrilinear in die Gegenwart reichende – Weitergabe von Wissen, Leidenschaften und Traumata, wenn Lanas unermüdliche Ü90-Stimme den langen Atem der Geschichte zurückverfolgt und dabei nicht nur Abgründe sowjetischer Gewaltherrschaft durchmisst, sondern auch im Bildarchiv der eigenen Familiengeschichte stöbert, Sequenzen aus eigenen und den (wiedergefundenen) Filmen der Mutter eng führt mit dem Leben, das sich in sie eingeschrieben hat.

Wie Lana Gogoberidze am Eröffnungsabend der ihr im März gewidmeten Retrospektive im Kino Arsenal betont, ist das für sie sowieso nicht voneinander zu trennen: Mutter und Tochter, Leben und Lyrik und Kino. Die Werkschau ist passend betitelt: Ein Leben im Kino. Und man glaubt das aufs Wort, nicht nur, weil Gogoberidze en passant und in jeweiliger Originalsprache Gedichte von Baudelaire (L’Ennemi) und Heine (Schöne Wiege meiner Leiden – auch so hätte die Retro heißen können) vorzutragen vermag, sondern auch, weil das Werk Beweise genug liefert, elf an der Zahl.

Im «blauen Zimmer» von DEDA-SHVILI laufen die historischen Fäden zusammen, mnemotechnischer Knotenpunkt und kraftspendende Quelle, einem Archiv ähnelnd – das Archiv wäre ein weiterer Themenschwerpunkt des Jahrgangs –, aber emotional strukturiert, insofern der versehrte Schutzraum der Kindheit zugleich die widerständige Kunst hervorbringt, wie auch den Freiheitsdurst (mit und ohne Eluard), und trotzdem die Grundierung im Leid nie vergisst. Manuscripts don’t burn, even when thrown into a fire. Oder, dann doch mit Éluard: Et par le pouvoir d'un mot / Je recommence ma vie / Je suis né.e pour te connaître / Pour te nommer // Liberté.

HENRY FONDA FOR PRESIDENT ist auf dem Papier ein weniger routiniertes Projekt, weil sein Autor bislang nicht Filmer, sondern eben Autor, Direktor und Kurator gewesen ist. Alexander Horwath hat also einen Film gemacht und einen persönlichen noch dazu; es ist die Geschichte seiner Leidenschaft mit dem Kino in Gestalt von Henry Fonda, der zeitlebens nur Leinwandpräsident geblieben ist. 1980 in Paris – Fonda dreht gerade seinen letzten Film, Reagan wird bald Präsident werden – lernt man sich kennen und schnell auch lieben. Der eine weiß, wie der andere die langen Beine im Bildkader auszustrecken pflegt oder dass er die Augen verdeckt, wenn es emotional zu werden droht.

Spielerisch gesellt sich diese zärtliche Lektüre der Fondagesten zu einem Interview, das ihr Urheber im Jahr vor seinem Tod gegeben hat, und einem kundigen Crashkurs durch mal locker 300 Jahre amerikanischer Geschichte, die seit der Siedlungshybris eine Gewaltgeschichte mit Genoziden, Kriegen und Lynchmorden ist. In Fondas Leben und Werk steckt das alles drin, so die Annahme, wenn man die Technik des Chiaroscuro in seiner ideologischen Dimension zu verstehen bereit ist. Horwath filmt daher die Schauplätze und Tatorte, wie sie heute aussehen und erzählt vom Riss in der Leinwand und der Wahrheit dahinter (und zwar mit eigener Stimme, persönlich gefärbt – die einstündige TV-Version spricht Hanns Zischler). Ein Essayfilm, der DEDA-SHVILI mindestens darin ähnelt, dass er abgründigste Gewaltgeschichte mit Biografischem, Politisches mit Privatem und natürlich dem Kino zusammendenkt.

In INTERCEPTED ist der Riss in der Leinwand noch nicht historisierbar, nicht mal lesbar geworden, weil er erstens einen Riss durch Landschaften, Städte und Familien meint und zweitens im Begriff ist, noch tiefer zu werden seit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine. Bereits seit der Krim-Annexion fängt der ukrainische Geheimdienst Telefonate von russischen Soldaten mit ihren Müttern, Schwestern, Ehefrauen in der Heimat ab und macht sie der Öffentlichkeit zugänglich. Oksana Karpovych nimmt diese Tonaufnahmen – sie fokussiert auf das erste Halbjahr nach der full-scale invasion – und kontrastiert sie mit Bildern, die die Resultate dessen zeigen, wovon die Soldatenstimmen berichten und prahlen: Zerstörte ukrainische Landschaften, Krater in Häusern und Straßen. Aber auch widerständige Menschen, die retten, was zu retten ist oder mit dem Fahrrad Erledigungen machen. Das Leben geht weiter, inmitten des Krieges.

Dass Karpovych auf das Zeigen von Kampfhandlungen oder atrocity footage verzichtet, ist als (ästh)ethische Intervention gegen die Abnutzung und Normalisierung dieser ohnehin zirkulierenden Bilder zu verstehen. Es ist die Diskrepanz zwischen Ton und Bild, Täter- und Opferperspektive, die affiziert – und zwar so sehr, dass man sich fragt, was mit der diffus-dramatisierenden musikalischen Untermalung der gelegentlichen Kamerafahrten über die Landstraßen gewonnen ist. Was die Soldaten erzählen, reicht von neidvoller Bewunderung des aus ihrer Sicht luxuriösen ukrainischen Lebensstils (gleichzeitig sieht man einen gedeckten Tisch in einer fluchtartig verlassenen Küche mit zerbombten Fensterscheiben) bis hin zu präzisen Schilderungen sadistischer Foltermethoden. Die Antworten der Frauen von zuhause sind dabei mitunter nicht weniger grausam, gefüllt mit blindem Hass und Propaganda. Und doch, aller Abscheu zum Trotz, machen es die intime Gesprächssituationen schwer, darin nicht doch auch die Menschlichkeit zu erkennen, den Sohn und die Mutter, die Traumatisierung. Der ukrainische Sicherheitsdienst veröffentlicht die Gespräche auch mit dem Hintergedanken, möglichst viele Russ*innen über die realen Kriegsgeschehnisse aufzuklären. INTERCEPTED gelingt es, dazu einen humanistischen Beitrag zu leisten, der darüber hinaus sogar ein bisschen Hoffnung spendet.

 

Human Hibernation

Human Hibernation (Anna Cornudello Castro)

© courtesy of Berlinale

 

Biopolitiken mit Panther, Katze & Kuh: DER UNSICHTBARE ZOO / THE HUMAN HIBERNATION / GOKOGU NO NEKO

Äußerst tierlieb nimmt sich dieser Jahrgang aus, lädt beispielsweise ein zum Besuch in den Zürcher Zoo, einer der besten der Welt, sagen Fachkundige. Romuald Karmakar hat acht Jahre dort verbracht, zwischendurch ist eine Pandemie passiert und am Ende trotzdem ein dreistündiger Film daraus geworden, dessen Direct Cinema-Agenda stark an Frederick Wisemans Institutionenmosaike angelehnt ist. Fraglich ist, für mich jedenfalls, ob er sich damit einen Gefallen tut. Denn Wiseman hat bereits einen Film auf dem Kerbholz, der ZOO (1993) heißt und einen schonungslosen Blick hinter die Kulissen (und es sind wirklich Kulissen) des Miami Zoo bietet, wie die Menschen darin eine künstliche Natur simulieren und sich dabei mehr als einen blutigen Zacken aus der Krone der Schöpfung brechen. DER UNSICHTBARE ZOO hat einige Schlüsselsequenzen daraus recht sichtbar geborgt; ein Zebra wird fachmännisch zerteilt, obduziert und den Löwen zum Fraß vorgeworfen – bei Wiseman ist es ein totgeborenes Nashornbaby, das erfolglos reanimiert wird und anschließend das gleiche Schicksal ereilt; ein Brillenbär namens Oja wird umgesiedelt – bei Wiseman ein Alligator; auch den Entertainmentfaktor hat Wiseman schon reflektiert. So unfair die Referenz sein mag, so sehr drängt sie sich doch auf, obwohl Karmakars Ansatz vielleicht bescheidener, reservierter ist: Er scheut rhetorische Argumente, Pointen und überhaupt jede Verdichtung.

Wenn sich in den 30 Jahren seit Wiseman nur das biopolitische Antlitz verändert hat (sehr gut: die schweizerdeutschen Besprechungen zur Elefantenherpeseindämmung und Tapirkontrazeption), dann schaue ich als Zuschauer ähnlich aus der Wäsche wie der Gorilla am Ende: so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Bilder gäbe und hinter tausend Bildern kein Montageprinzip, dass diese Welt im Innersten zusammenhält. Oliver Kahn hingegen, verkannter Rilke-Exeget, hat mit seinen luziden Impulsen zur Käfigmetaphorik ein Desiderat geschlossen: «Ist mein symbolischer Käfig das Tor? Ist mein symbolischer Käfig der Sechzehnmeterraum […] oder ist mein symbolischer Käfig psychologisch? Ist der Käfig das eigene Anspruchsdenken? Ist der Käfig der ständige Druck von außen – ist es das, was die Unfreiheit und damit ja einen Käfig um einen herum erzeugt? (Pause) Oder was ist der Käfig?» Und was, möchte ich hinzufügen, ist DER UNSICHTBARE ZOO? – Kahn, nach langer Denkpause: «Sicher von allem etwas.»

Ein willkommener Gegenentwurf zum unsichtbaren Zoo wäre – in vielerlei Hinsicht – Anna Cornudellas Film THE HUMAN HIBERNATION, eine hybride ASMR-Naturutopie mit quasidokumentarischen und sehr gesetzten SciFi-Spurenelementen, vor allem aber vibes, vibes, vibes. Die Prämisse – eine Proto-Gesellschaft von Menschen, die Winterschlaf hält, Tiere, die in ihrer «häuslichen Umgebung» gefilmt werden, wie es am Ende heißt – das sind narrative Angebote, die der Film macht und ich dankend ausgeschlagen habe, weil es schon genug zu bestaunen gibt in diesem Film, in seinen Bildern und Klängen. Wie Helena Wittmanns Arbeiten ist THE HUMAN HIBERNATION an den Schnittstellen von Installations-, Sound- und eben Filmkunst angesiedelt, nur ist sein Resonanzkörper nicht das Meer, sondern der Wald.

Auf eine Sogwirkung läuft das nur dann hinaus, wenn die filmischen Gewerke entsprechend besetzt sind, und das sind sie: Artur-Pol Camprubís analoge Kamera malt, mit zwischen Totale und Close-Up alternierendem Pinselstrich, Tableaus von bestechender Schönheit. Auf eine diagonale Linie von Zugvögeln folgt im nächsten Bild eine Schlange, die sich orthogonal über die gegenläufige Diagonale des Bildkaders schlängelt. In einem Kuhauge blitzt das Universum auf; Skalierungen, die zugleich beruhigen und verunsichern. Ob so eine Welt wünschenswert wäre, bleibt in der Unschärfe des analogen Korns. Dazu Laura Tomás Cascallós mal mimetisch, mal kontrapunktisch gewebter Soundklangteppich, der – wie sie im Premieren-Q&A verrät – eigentlich noch gar nicht fertig sei. Gedreht wurde in schneebedeckten South Dakota, mit viel Zeit, Geduld und einer konsequenten, aber nie belehrenden Anti-Anthropozentrismus-Agenda. Kühe laufen nicht auf Zuruf in gemächlichem Tempo den Horizont entlang, denn nicht nur hier gilt: The cows are not what they seem.

Noch ein Tierfilm, ein Katzenfilm noch dazu, der dann wieder einem engeren dokumentarischen Programm verpflichtet ist, aber ähnlich großzügige, artenübergreifende Care-Strategien predigt. Kazuhiro Soda ist zurück im Forum und mit ihm auch seine zehn Gebote des Filmemachens. In der Titeleinblendung wird ein Observational Film versprochen, und den bekommt man mit GOKOGU NO NEKO auch. Soda macht seinen Beobachtungsstandpunkt jedoch sehr transparent, wenn er Ushimado (wo er nach vielen Jahren in New York wieder lebt) und den dort ansässigen Shintō-Schrein mit und ohne POV-Kamera porträtiert. Die überwiegend alten Bewohner*innen wehren sich gegen die steigende Katzenpopulation, die sie als Unrat produzierende Plage erleben, während der Tourismus darin ein cuteness asset sieht. Soda zeigt die von Freiwilligen sorgfältig unternommenen Sterilisationsbemühungen, die Krisensitzungen im Gemeinderat (TOP 1: Katzenkot) und den Versuch, eine Balance der menschlichen und tierischen Bedürfnisse zu finden. Gerahmt ist das durch Frühlingserwachen und den ewigen Kreislauf der Dinge, überhaupt sehr ins Metaphysische transponiert: ein steiniger Weg führt zur heiligen Stätte hinauf, wenn nicht direkt ins Himmelreich.

 

Rich and Poor Images zwischen Berlin, Isfahan, Bayern: WAS HAST DU GESTERN GETRÄUMT, PARAJANOV? / SHAHID

Vom Frühling und dem Kreislauf der Jahreszeiten ist auch in WAS HAST DU GESTERN GETRÄUMT, PARAJANOV? von DFFB-Absolvent Faraz Fesharaki die Rede. Was mir beim ersten Schauen nicht aufgefallen war: der Film deckt einen Zeitraum von 10 Jahren ab. Begonnen mit dem Umzug nach Berlin, hat Fesharaki Skype-Gespräche mit seiner Familie in Isfahan (und Wien) aufgezeichnet und aus 80 Stunden Material einen 80-minütigen, aber sehr reichhaltigen Film geschnitten. Er sagt, es sei zunehmend ein Porträt seiner Mutter geworden. Vorgedrängt hat sie sich nicht, zumindest nicht mehr als die anderen, denn über die Webcams in Isfahan und Wien hat der gelernte Kameramann (WAS SEHEN WIR, WENN WIR ZUM HIMMEL SCHAUEN?, 2021) keine Kontrolle. Die Kadrierung erfolgt in erster Linie durch die Körper selbst, die sich am anderen Ende des Äthers, oft fragmentarisch, ins Bild schieben oder einander verdecken, was auch humoristische Momente schafft, an denen es diesem überaus poetischen Film ohnehin nicht mangelt.

Das Lachen muss man den Familienmitgliedern durch die Pixelunschärfe von den Lippen ablesen, die schlechte Internetverbindung zaubert mühelos ruckelnde Jump Cuts auf die Bildschirmleinwand oder blecherne Verfremdungseffekte auf die Tonspur. Ausgerechnet eine erhitzte Debatte über die Rolle der Frau in der patriarchalen iranischen Gesellschaft wird immer wieder von Verbindungsproblemen unterbrochen; das muss die Zensur sein, scherzt die Mutter, während sie in der Sache klar die moralische Oberhand behält gegenüber dem Vater, der Marx nur im Rekurs auf Béla Tarr versteht und weiter den Status quo verteidigt. Beide Elternteile sowie den Cousin in Wien, der im österreichischen Radio mit seiner Tar auftreten darf, zeigt Faraz Fesharaki als facettenreiche, mit den Nachwehen der Revolution in ihrem Heimatland ringende, aber unterm Strich schlichtweg ursympathische Korrespondenzpartner*innen.

Im letzten Drittel des Films weichen die Steyerlschen Poor Images vertrauter High Definition, die digitale Korrespondenz einer brieflichen. Faraz schreibt seiner Mutter einen Brief und hängt vier Filmsequenzen an, die Orte zeigen, an denen er sich verliebt hat: Tegeler Forst, Rosa-Luxemburg-Steg, Freiluftkino Friedrichshain und ein Café Nähe Rio-Reiser-Platz. Die Mutter antwortet mit einer Anekdote vom Fluss Zayandeh Rud, der sich nach langer Trockenheit endlich wieder mit Wasser füllt. Der Kameramann – jetzt wieder in seinem Element – schwenkt von den am Ufer sitzenden Eltern sehr langsam zum, zu Deutsch: lebenspendenden Fluss herüber. Dabei aber bleibt es nicht; ein kitschiger Kita-Kinderchor aus der (auch medialen) Vergangenheit, der schon anfangs und zwischendurch zu hören war, ergreift das Wort. Am Ende also wieder zurück in die Unschärfe, digitalisierte VHS-Mitschnitte mit unschuldigen Kindern drauf, die mit großen Augen in Reih und Glied vom Frühling singen, der wiederkommt, aber auch die Fäuste erheben, wenn sie Amerika den Tod wünschen. Eine bittersüße Ambivalenz, die gleichwohl affiziert. Papa Fesharaki, der Marx nicht verstanden hat, würde das wohl Dialektik nennen.

Wie man einen Essayfilm auch drehen kann, zeigt Narges Kalhor mit SHAHID. Mit beachtlichem Erfindungsgeist hat sie es geschafft, dem arg beackerten Feld der Autofiktion etwas Neues und Erfrischendes abzuringen. Narges Kalhor möchte sich ihres Mittelnamens Shahid (persisch: Märtyrer) entledigen und des auf ihm lastenden Erbes männlicher Gewalt gleich mit. «Certainty lies in tomorrow, today ist shrouded by doubt» heißt es am Anfang auf Farsi. Als Kalhor, die Tochter eines Beraters des ehemaligen iranischen Präsidenten Ahmadinedschad, für ein Festival 2009 in Deutschland war, konnte sie anschließend nicht in die Heimat zurückkehren und beantragte politisches Asyl. Das erfährt man in SHAHID am Rande; die Probleme mit den Behörden sind jetzt anders gelagert. Was beginnt wie eine Satire auf die Untiefen bayrischer Bürokratie im Kreisverwaltungsreferat Hauptabteilung 2 [sic!], entwickelt sich in rasantem Tempo und unter Berücksichtigung aller erdenklichen Stilmittel – Slow Motion, Tanz, Gesang, KI-Animation, Text- und Fotomontagen und eine selbstreflexive Handlung mit Fallstricken – zu einem aufrichtigen Blick auf die vertrackte (post)migrantische Gegenwart.

Am Ende, wenn alle Fassaden und Metaebenen wegbrechen, stehen vor dem Greenscreen eine Umarmung und einige (nicht neue, aber sehr direkt präsentierte) Erkenntnisse. Dass Traumata sich nicht einfach vergegenständlichen oder simpel wegtiefenpsychologisieren lassen, nicht einmal von Therapeuten, die Ribbentrop heißen. Dass es in der binnenmigrantischen Solidarität Abstufungen und so etwas wie Privilegienschuld gibt. Und dass Empowerment und Transgression auch bedeuten können, sich filmische Formen und Konvention so unerbittlich und couragiert anzueignen, dass sie zerbrechen.

 

Architekturen der Marginalisierung: L’HOMME-VERTIGE / OASIS OF NOW

Certainty lies in tomorrow, today ist shrouded by doubt: Das Mantra aus SHAHID trifft nicht zu für zwei Filme, die in sehr unterschiedlichen Modi, anhand von architektonischen Strukturen, über die sich darin bewegenden Menschen erzählen, denen kein Morgen Hoffnung macht. In L’HOMME-VERTIGE porträtiert Malaury Eloi Paisley ein Ensemble von Einzelgänger*innen, die in Point-à-Pitre, Guadeloupe, ihren buchstäblich wegbröckelnden Zukunftsaussichten trotzen, manche sind cracksüchtig, manche obdachlos. Der Name der Firma, die reihenweise Häuserblocks abreißen lässt, steht auf einem Banner und er spricht Bände: Avenir Déconstruction. Irgendwann später im Film läuft eine Telenovela über einen Fernsehbildschirm, deren Titel ebenfalls emblematische Züge trägt: L’Envers du paradis. Paisley ist hier aufgewachsen, in die Welt gegangen und zurückgekommen, weil es sie drängt, von diesen Menschen und ihrem (Über-)Leben in einer nach neokolonialen Profitmaximen heruntergewirtschafteten Umgebung Zeugnis abzulegen.

Initialzündungen waren ein Workshop unter der Leitung von u. a. Alice Diop (ihr Einfluss ist im Film zu spüren), vor allem aber die Begegnungen mit den im Schwindel begriffenen Menschen – Ti Chal, Kanpèch, Priscilla, Bernard, Jean-Charles, Eric, Eddy –, mit denen die Regisseurin auch abseits der Kamera sorgsame Beziehungen geknüpft hat. Den gesamten Film über ist nicht nur der wechselseitige Respekt vor und hinter der Kamera zu spüren – einmal sogar ist Paisley selbst im Bild, um Ti Chal bei der Morgenrasur zu assistieren –, sondern auch ein überzeugendes Gesamtkonzept, die karibische Tradition des Spiralismus, nach dem der Film seine Bilder und Klänge (Baulärm, Gespräche und Free Jazz) zu Tales of a City, so der internationale Filmtitel, ordnet. Geschichten, denen alle zuhören sollten.

Welche Geschichten OASIS OF NOW erzählt, ist weniger klar, obwohl dieser zurückgenommene Film vermeintlich einfach und reduziert komponiert ist. Im Zentrum steht auch hier die Architektur eines Wohnviertels, diesmal Kuala Lumpur, Malaysia. An den Rändern, zwischen den Oberflächen der Betonfassaden, auf den Absätzen der Treppenhäuser und in unübersichtlichen Familienkonstellationen schieben sich feine Arrangements aus Händen, Blicken und Würfelspielen – alles eine Frage des Framings. Die subtil, aber hinreichend angedeutete Handlung fokalisiert sich, mehr oder weniger, über die Vietnamesin Hanh, die im wahren Leben Nail Artistin ist. Diesem Film ist sie eine stille Kraftquelle.

Sie lebt illegal hier und deswegen in einem permanenten Dazwischen, immer mit der latenten Angst, aufzufliegen. Sie hat eine Tochter, kümmert sich um ein Mädchen, das nicht die Tochter ist, es aber sein könnte. Überhaupt kümmert sich Hanh um vieles, ihre Beweggründe unklar, aber einer scheint genau der zu sein: in Bewegung zu bleiben, nicht zu stagnieren. Eine Razzia findet statt, kein Grund hektisch zu werden, weiß Hanh, weiß auch der Film. Die Szenen schichtet er aus autobiografischen Erfahrungen der Schauspielerin und des Regisseurs; Migrationserfahrungen in einer multilingual situierten Marginalisierungsarchitektur, die jedoch gerade an ihren Rändern Refugien für Zwischenmenschliches bietet: Oasen der Zuwendung, beschränkt auf die Gegenwart, unter Vorbehalt geöffnet Richtung Zukunft.

 

Oasis

Oasis (MAFI)

© Felipe Morgado MAFI (courtesy of Berlinale)

 

Südamerikanische Kollektivarbeiten: REAS / OASIS

Die interaktive, von gegenseitigem Respekt geleitete Art der Filmproduktion, ist ein Grundpfeiler dieser Forumsauswahl. Sie lässt sich aber noch zuspitzen: Die in Berlin lebende argentinische Regisseurin und Performerin knüpft mit REAS an ihren ebenfalls im Forum vorgestellten TEATRO DE GUERRA (2018) an. Hat sie in ihrem Vorgängerfilm noch argentinische und britische Veteranen aus dem Falklandkrieg, in einer Mischung aus inszenierten Reenactments und Playback Theater, zusammengebracht, sind es in REAS ehemalige inhaftierte Frauen (und ein trans Mann), die Arias im zerfallenen Caseros-Gefängnis in Buenos Aires versammelt.

Die vielschichtige Funktionsweise hat sich kaum geändert: die Grenzen von fiktionalisierten Szenen, eigenen Erfahrungsrealien und Kinomagie sind fluide wie eh und je; wie bei den Soldaten geht es viel um Körper und ihre Unterwerfung unter das disziplinierende Dispositiv, ob nun Militär- oder Gefängniswesen. Gleich zu Anfang muss sich Yoseli nackt ausziehen, später sieht man den Wärterinnen beim Ankleiden zu. Aber auch das Kino hat das Zeug zum Dispositiv und so ist es in diesem nur scheinbar theatralen Raum möglich, dass die disziplinierten (und im Übrigen auch bedeutungsschwanger tätowierten) Körper ihre Agency zurückgewinnen, indem sie die Zurichtungen und Routinen des Knastalltags unterlaufen, etwa durch Tanzchoreografien und einen bunten Genre-Mix von herrlich schmalzigen Musicaleinlagen. Von Sehnsuchtsorten wie Paris oder New York, Barcelona oder Mailand, singt die junge Frau hinter Gittern. Sogar geheiratet wird und am Ende wird selbst der Gefängnishof zum Strand; das alles ist möglich in einem kollektiv erarbeiteten Film, man muss es nur machen.

Ein Kollektiv steht auch hinter dem chilenischen Beitrag OASIS. Felipe Morgado und Tamara Uribe zeichnen verantwortlich für diesen Film, dahinter steht das chilenische Kollektiv MAFI (Mapa filmico de un país), eine Gruppierung von Filmemacher*innen, die aus verschiedensten Winkeln des Landes und über drei Jahre hinweg statische Aufnahmen beigesteuert haben, um aktivistische Protest- und Demokratiebewegungen unterschiedlichster Couleur aufzufächern. Morgado und Uribe et al. haben daraus einen Film montiert, der aus einer lange Reihe einminütiger Einstellungen mit O-Ton besteht, deren Verhältnis zueinander lange rätselhaft bleibt, weil weder durch Kommentare noch durch größere dramaturgische Eingriffe Kontext oder Kohärenz geliefert werden. Man sieht Polizeigewalt und Ausschreitungen auf Demonstrationen, die zunächst keinem politischen Lager zuzuordnen sind. Zwischendurch ist man im Parlament, es tagt die verfassungsgebende Versammlung, ein Redner spielt plötzlich Gitarre. Als kumulative Kette von Suchbildern hat der Film einen detektivischen Reiz, der mit der Laufzeit steigt und zusehends eigene Kohärenzen produziert.

Den Kontext muss man sich woanders holen. OASIS borgt seinen Titel vom ehemaligen chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera, der kurz vor Beginn der landesweiten Proteste im Oktober 2019 verkündete: «Inmitten eines von Krisen geschüttelten Südamerikas, sehen wir auf Chile; unser Land ist eine wahre Oase.» Das Zitat steht als Texttafel ganz am Anfang; die Bilder, die folgen, arbeiten sich daran ab und entlarven es als groteske Fehleinschätzung. Das Ergebnis ist das seismographische Mosaik eines Landes, das kein konsistentes Bild erzeugt, sondern auf die stattfindenden und versäumten Umwälzungsprozesse verweist; eine Gegenwart, die multiple Krisen zu meistern hat – von sozialer Ungleichheit über Klimakollaps bis zu den Bedrohungen der Demokratie – lässt sich vielleicht gar nicht anders skizzieren, gerade weil am Ende mehr Fragen als Antworten bleiben.

Krisenhaft steht es auch um die Berlinale; offene Fragen gibt es zuhauf. Nach diesem Scharnierjahr werden sich die zukünftigen Forumsausgaben einerseits in Abhängigkeit von den programmatischen Umwälzungen der neuen Intendanz bestimmen (Encounters wird als Konkurrenzsektion voraussichtlich wegfallen) und andererseits gegen die staatsräsonierenden Nabelschau- und Provinzialisierungstendenzen deutscher Entscheidungsträger*innen, denen die Filme längst egal sind, behaupten müssen. Man kann dem Forum nur wünschen, dass es letzteres als Chance begreift, sich auch weiterhin auf die bewährten Traditionen zu besinnen, nämlich Kino zu machen, das sich nicht selbst genügt, sondern vom kontrovers geführten Dialog mit seinem internationalen(!) Publikum lebt.