carthage film festival tunis 2014
9. Dezember 2014
Einflusszonen Die 25. Journées Cinématographiques de Carthage in Tunis
Erster Bildeindruck: Jede Menge Jungvolk in den Straßen, kopftuchfrei und ungezwungen, das sich in die zahlreichen Kinosäle des Stadtzentrums von Tunis drängt, anlässlich der 25. Journées Cinématographiques de Cartage. Wenn die Wettbewerbsvorstellungen ausverkauft sind, beginnt ein schwunghafter Unterschleif mit den Badges der Journalisten, die mehrfach an der Kinokasse vorgelegt werden, auf dass man noch an eine Kinokarte kommt. Die Säle sind daher mehr als gefüllt, das Publikum geht gerne mit, spendet Szenenapplaus, freilich noch mehr Beifall für den anwesenden Politiker samt Frau, schreibt auch gerne zwischendurch SMS. Der Aufforderung, für den Publikumspreis zu votieren, wird jeweils begleitet von dem Witz: Wählen Sie! Wählen Sie, damit Sie zwischen den beiden Wahlgängen (für das Präsidentenamt) nicht aus der Übung kommen! Wofür aber spendet dieses Publikum den Sonderapplaus? Welchen Film wünscht es prämiert? Und: Ist dieses Kinopublikum repräsentativ für das Land?
Obwohl die hier ausgewählten Wettbewerbsfilme, die um den Tanit d'Or konkurrieren, unter dem Vorzeichen «arabisch-afrikanisches» Kino laufen, möchten sich die zeitgenössischen Tunesier nicht länger als Araber verstehen. Sie seien ein mediterranes Mischvolk, einst nomadische Berber, mit den Sizilianern nicht weniger verwandt als mit Algeriern und Palästinensern. Als wettbewerbsfähig erachtet werden neben den Maghrebfilmen solche aus Palästina, Syrien, dem Libanon oder dem Irak ebenso wie Beiträge aus Kenia, Senegal, Burkina Faso, Nigeria und Südafrika. Nach der Eröffnung mit Timbuktu von Abderrahmane Sissako aus Mauretanien, der wie bei Afrikamera in Berlin als «der« arabische Beitrag hochgelobt wird, werden neben Spielfilmen auch Dokumentar- und Kurzfilme und Programme des «Weltkinos» aus vorwiegend europäischen Ländern gezeigt. Zwei Festivaltrailer eröffnen die jeweilige Vorführung: Der erste verweist mit drastischen Bildern darauf, dass die Gewalt gegen Frauen ein Verbrechen ist; der zweite fordert, im Namen der Unesco, zur Hilfe für notleidende Kinder auf.
Einer der beeindruckendsten Filme, der gleich zu Beginn präsentiert wird, ist Les terrasses von Merzak Allouache aus Algerien: Ein hartes Stimmungsbild aus dem zeitgenössischen Algier, das ob seiner klandestin improvisierten Machart unglücklicherweise nicht für den Wettbewerb ausgewählt worden ist. Aus unterschiedlichen Szenen, auf den Dachterrassen verschiedener Stadtviertel gedreht, erwächst ein Bild vielfältigen Nichtlebenkönnens: Ein junger Mann wird von seinem eigenen Bruder mittels wiederholtem Waterboarding gefoltert und getötet; ein als Autorität verehrter Scheich lädt junge Frauen zu exorzistischen Ritualen ein, um sie hinter verschlossener Tür zu schlagen; eine ältere Frau lebt mit geistesgestörter Tochter und ebenfalls derangiertem Enkel auf dem Dach; die Tochter bringt den neuen Hausbesitzer, der sie aus ihrer Unterkunft vertreiben möchte, kurzerhand um; eine junge Nachbarin, von ihrem Mann regelmäßig geschlagen, springt in den Tod; wieder einer haust wie ein Tier in einem Holzverschlag; alle haben Ausblick auf das Meer, das gleichwohl keinen Trost zu spenden scheint. Und doch geschehen auch hier kleine Wunder: Ein Kind sucht den im Holzverschlag Hausenden zu befreien; der Mord am Investor wird von der Polizei gedeckt; Jugendliche musizieren auf der Terrasse, die Absurdität dieses ins Verborgene gezwungenen Lebens wird in seiner Verdrehtheit mit Liebe und Bitternis zugleich ausgestellt.
Die algerische Wettbewerbsversion L'Oranais des bekannten Komödienregisseurs Lyes Salem erzählt dagegen in unzeitgemäß theatralischer Manier noch einmal vom Unabhängigkeitskrieg und seinen Folgen. Während der Sieg über die Franzosen in Gestalt gewisser Heroen gefeiert wird, haben diese mit verschiedenen Folgelasten zu kämpfen: Einer der Freiheitshelden erfährt bei seiner Rückkehr nach Hause, dass seine Frau als Rache für einen getöteten Franzosen von dessen Sohn geschwängert worden ist. Gerade die Tatsache, dass er dieses Kind als seines ausgibt, bringt das Problem von dessen französischem Aussehen, fortgesetzte Lügen und Entzweiung mit sich. Die neue Machtkonsolidierung verlangt ihrerseits Opfer; im Umfeld des Präsidenten «sterben» Verwandte, auch dessen Sohn sagt sich angesichts der beobachteten Korruption von ihm los. Gerne hätte man die Fortsetzung in die Gegenwart gesehen...
Ungleich drängender erscheinen die Probleme, die zwei palästinensische Filme thematisieren. Der Spielfilm Omar von Hany Abu Assad wiederholt in Variation, was in dem Dokumentarfilm Infiltrators von Khaled Jarrar zu sehen ist: Möchten die Palästinenser Jerusalem und die islamischen Kultstätten besuchen und nicht die hinderlichen Einreisemodalitäten über sich ergehen lassen, sind sie zum Mauerspringen verdammt. Da sie keine andere Wahl haben, wie sie betonen, befleißigen sie sich erstaunlicher Mauerkletterkünste; allerdings werden sie häufig, einmal oben oder drüben, von der israelischen Polizei angeschossen oder gejagt. Während der Dokumentarfilm verschiedene Weisen der Mauerunterwanderung vorstellt, in sie hineingetriebene Löcher, durch welche Essen nach Palästina geschoben wird, oder menschengroße Schlupflöcher für anderen Grenzverkehr, exponiert der selbstkritische Spielfilm vor allem innerpalästinensische Konflikte und wechselseitige Verdächtigungen im Widerstandskampf. Wer einmal von der israelischen Polizei gefangen und ins Gefängnis gesteckt wurde, unterliegt der Mutmaßung der Doppelagentenschaft. Ein solcher Verdacht zerreibt eine Gruppe von drei Männern, die unter dem Stress der Fernbeobachtung durch israelische Militärs und im Kampf um die Gunst einer jungen Frau sich gegeneinander ausspielen und massakrieren, wobei derjenige am besten wegkommt, der die beiden anderen belogen und ausgetrickst hat. Szenenapplaus für die akrobatischen Mauerspringkünste und für das Finale, in dem der jüdische Sicherheitsbeamte und Erpresser, hier eindeutig der Hauptfeind, erschossen wird. Der Film erhält den Tanit d'Or und den Publikumspreis.
Am Rande zu Israel angesiedelt ist auch der libanesische Wettbewerbsbeitrag La Vallée von Ghassan Salhab, der mit betonter Zeitdehnung das undurchschaubare Zusammenleben einiger Personen im Bekaatal präsentiert, welche in einem chemischen Labor vermutlich Drogen produzieren. Ihr Refugium wird durch einen Eindringling, den sie als Opfer eines Autounfalls auflesen und der vorübergehend sein Gedächtnis verloren hat, durcheinander gebracht: Im Unklaren darüber, ob er nicht ein Spion ist, beschließen sie ihn zu eliminieren. Dieses Vorhaben wird indes vereitelt durch einen israelischen Luftangriff, der sie in Alarmbereitschaft versetzt, bombardierte Orte im Umland und sie selbst in fortgesetzter Handlungsunfähigkeit zeigt.
Wohltuend wirken im Vergleich dazu Filme, die die Zonen der auch imaginären Einsperrung verlassen und sich an die symbolische Bearbeitung dessen machen, was das zeitgenössische Migrationsschicksal vieler ist: Der senegalesische Film Des Etoiles der jungen Regisseurin Dyana Gaye folgt verschiedenen Senegalesen bei ihrer Ankunft in westlichen Städten, durch Turin ebenso wie durch New York. Feinfühlig porträtiert sie deren Befremdung, Arbeitssuche, Obdachlosigkeit sowie gewisse Schritte der Eingewöhnung und Selbstermächtigung. Anstatt weiterhin auf ihren Ehemann Abdoullah zu warten, der vor ihrer Ankunft nach New York abgehauen ist, lernt die junge Senegalesin Italienisch, nimmt einen Putzjob an und befreundet sich mit einem ebenfalls heimatfernen Ukrainer. Der Film wurde dafür mit dem Spezialpreis der Jury geehrt.
Das lang erwartete irakisch-norwegische Roadmovie Before Snowfall von Hisham Zaman setzt mit dem sattsam bekannten Beweggrund des beabsichtigten Ehrenmords an der Schwester ein: Sie, die das irakische Dorf mit ihrem Geliebten fluchtartig vor der arrangierten Hochzeit verlassen und sich nach Norwegen durchgeschlagen hat, wird nun vom Bruder verfolgt. Da das Netzwerk der irakischen Kurden gut funktioniert, gelingt ihm, zunächst in einem Öltank versteckt, deren Verfolgung über Istanbul und Berlin bis nach Oslo. Allerdings gelingt es ihm zuletzt nicht, die Schwester zu erschießen, vielleicht weil er auf seiner langen Reise von einem Romamädchen begleitet worden ist. Er wird dafür selbst ermordet von einem ehemaligen Mitdörfler, weil er beim Überqueren der grünen Grenze nach Griechenland die verantwortlichen Schmuggler an die Grenzpolizei verpfiffen hat. Das irakisch-kurdische Netzwerk ist lang; der Film wurde für die moralische Kurskorrekur mit dem bronzenen Tanit geehrt.
Der marokkanische Wettbewerbsbeitrag C'est eux, les chiens von Hicham Lasri wiederum folgt einem älteren Mann, der im Zuge des arabischen Frühlings nach 30 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird und nun an sein früheres Leben mit Frau und Kindern anzuknüpfen sucht. Für die launige Drüber- und Drunterschilderung der unvermeidlichen Desorientierung wird der Film mit dem silbernen Tanit belohnt. Seltsamerweise verschenkt dagegen der syrischer Wettbewerbsbeitrag Arwad von Samer Najari und Dominique Chila, mit kanadischer Unterstützung ermöglicht, die Gelegenheit zur Bezugnahme auf die aktuelle Situation. Er zeigt ein rein psychologisches Ehe- und Eifersuchtsdrama, obwohl der syrische Ehemann zwischendurch sogar in seinem Herkunftsland weilt. Außer der – für ihn verhängnisvollen – Meeresküste und einem Stück kanadischen Parks gelangt keine Welt in diesen Film.
Der Film Soleils von Dany Kouyate und Olivier Delahaye aus Burkina Faso, einem mit seinem schwarzafrikanischen Filmfestival FESPACO identifizierten, aufstrebenden Filmproduktionsland, präsentiert dagegen eine seltsam anachronistische Geschichte: Die Tugend der Griots und einer auf das 13. Jahrhundert zurückgehenden Gemeinschaft von Jägern mit hohem Ethos wird den europäischen Weltdeutungen und Philosophien überlegen porträtiert. In äußerst didaktischer Manier führt der weise Geschichtenerzähler ein heranwachsendes Mädchen durch steif inszenierte Szenen weltanschaulichen Irrtums, inkorporiert in Hegel und Voltaire, belehrt sie über allseits grassierende Vorurteile und verhilft ihr zur Initiation in den heimischen Männerbund.
Mit gebündeltem deutschem Knowhow produziert, schildert der kenianische Wettbewerbsbeitrag Veve von Simon Mukali in groß angelegter düsterer Actionmanier Vorgänge von Korruption und Kriminalität im Dienste politischen Karrierismus, welche Opfer auch unter Jugendlichen kosten, wie bereits im Vorgängerspielfilm Nairobi Half Life exponiert. Der Film endet gleichwohl mit kleinen Hoffnungsschimmern, wozu die Tötung der Hauptkriminellen gehört – wofür es Szenenapplaus ebenso wie für eine Sexszene gibt.
Der tunesische Wettbewerbsbeitrag Bidoun 2 von Jilani Saadi schließlich zeichnet sich durch dramaturgische Unberatenheit und krampfhafte Komik wunderlicher Protagonisten aus. Jordanien bietet mit Theeb von Naji Abu Nowar einen gefälligen Wüstenfilm mit Beduinenromantik, ein weiterer algerischer Wettbewerbsfilm mit Loubia Hamra von Narimane Mari reizvolle Impressionen von Kinderspielen: Sollten diese zeitenthobenen und willentlich unpolitischen Plots eben vom Versuch eines ästhetischen Entkommens aus der ideologischen Klemme der Gegenwart erzählen?
Um wieviel mitteilsamer sind da zahlreiche Dokumentarfilme, die nur um gesellschaftliche Probleme wissen! Sei es, dass sie von straffälligen oder marginalisierten Jugendlichen unterschiedlicher Partei- und Religionszugehörigkeit in gewissen Vierteln Beiruts oder auf dem tunesischen Land, von ihrer gesellschaftlichen Frustration und Verzweiflung berichten, wie in Guardians of Time Lost der libanesischen Regisseurin Diala Kachmar oder in El Gort des Tunesiers Hamza Ouni. Hier spätestens wird deutlich, dass man vom Kinopublikum in Tunis nicht auf die Lage der Gesamtbevölkerung rückschließen kann. Die gesellschaftliche Ächtung «unfruchtbarer» Frauen ist Thema der Dokumentation Mother of the Absent von Nadine Salib aus Ägypten. Allerdings erscheinen die teils vorsintflutlichen Methoden, welche die Hebammen nach wie vor gegen die Unfruchtbarkeit aufbieten, nicht als geeignete Heilmittel zur Behebung dieser gesellschaftlichen Diskrimination. Die Aussichtslosigkeit des politischen Kampfes gegen die IS-Assad-Allianz wird wiederum von dem Dokumentarfilm Our terrible country von Ali Atassi und Ziad Homsi aus Syrien dramatisch nahe gebracht. Und nicht zuletzt wird am Image der Freiheitsikone schlechthin in Mandela, the Myth and Me von Khalo Matabane aus Südafrika gekratzt, werden narrative Lücken und physische Opfer des kamerunischen Unabhängigkeitskriegs in Jean-Marie Tenos Essayfilm Une feuille dans le vent angemahnt.
Insgesamt wird von tunesischer Seite die mangelnde Sichtbarkeit und Rezeption dieses Kinos außerhalb internationaler Filmfestivals beklagt, was auf den fehlenden Filmmarkt ebenso wie das mangelnde Interesse westlicher Fernsehanstalten zurückgeführt wird. Nicht zu übersehen ist, dass die meisten Filme nur dank europäischer Unterstützung zustande kommen, wobei sich die Kooperationspartner die Einflusszonen aufteilen: Während sich Deutschland gegenwärtig um den Aufbau einer kenianischen Filmindustrie bemüht, fließen französische Gelder nach Burkina Faso, koproduziert Norwegen einen Film aus dem Irak usf. Von westlichen Experten wird den arabischen Ländern der verstärkte Ausbau bilateraler Beziehungen empfohlen, auf dass Kooperationen zwischen nationalen Fonds möglich werden. Die Tatsache, dass dank solcher Abkommen Eurimages viel Geld für israelische, also, wie betont wird, auch palästinensische Filme bereit stellt, wird hier nicht unbedingt goutiert, gleichwohl mit Preisen gewürdigt. Wissend um die prekäre Situation, gibt man sich hochherzig und hofft auf eine filmwürdige Zukunft des Lands, weshalb nun die Journées Cinématographiques de Carthage alljährlich anberaumt sind.