13. April 2019
Inland, Inländer
Die Melancholie der Millionäre (Caspar Pfaundler)
Ein Wiener Original in einem großartigen Film: Dr. H. ist Hausbesitzer, allerdings wäre das Haus um ein Haar an die Kirche gegangen, es bedurfte eines ausdrücklichen Hinweises auf die Möglichkeit, das Testament umzuschreiben. Die Verwandtschaftsverhältnisse, die H. das Haus einbrachten, sind abenteuerlich, und beruhen im Innersten auf einem gefälschten Dokument im Wien in der Nazizeit. Dieses Gravitationsmoment einer Doppel- oder Nichtidentität durchzieht den ganzen Film, der im Grunde aus einer Reihe von Redseligkeiten besteht, darunter eine lange Doppelperformance der zwei Brüder, die nicht verwandt, aber verschlungen sind.
Sie ist der andere Blick (Christiana Perschon)
Ein Film über die Kunst von fünf Frauen, für den eine sechste Künstlerin (Iris Dostal) gleichsam die tabula rasa grundiert, auf die er aufgebracht wird, und in dem eine siebte Künstlerin, die Filmemacherin Christiana Perschon, mit der Kamera einen zweidreidimensionalen Leinwandraum schafft, der allen Protagonistinnen ganz wunderbar zu entsprechen scheint. Renate Bertlmann, Linda Christanell, Lore Heuermann, Karin Mack und Margot Pilz erzählen von ihrer Arbeit (und demonstrieren sie direkt oder spielerisch) und davon, wie sie zu dieser Arbeit gekommen sind, als Frauen in einem Kunstbetrieb, der nicht nur in Österreich, dort aber in den inzwischen kanonisierten Avantgarden besonders männerlastig war. Mit diesem Film kann man ganze Gegenbewegungen lancieren und auf älteren aufbauen.
Introduzione all’oscuro (Gaston Solnicki)
Ein Film über und mit und für Hans Hurch, eine Wien-Projektion, die erkennen lässt, dass das, was mir an dem Schärdinger Hans Hurch oft zu forciert wienerisch war, in einem exzentrischen Sprößling einer argentinisch-jüdischen Großfamilie, wie es Solnicki offensichtlich ist, tatsächlich so etwas wie ein Gegenüber finden kann. Lieblingsmoment: der Dandy (allein der Name Gaston berechtigt im Grunde zu allen Spinnereien) klimpert ein wenig auf einem Bösendorfer, danach belehrt ihn die sehr schöne Verkäuferin, dass das Wiener Traditionshaus inzwischen Yamaha gehört, wenn er einen Flügel wollte, müsste er dort bestellen. Insgesamt eine gewinnende Wien-Fantasie, mit einigen spekulativen Momenten. Sie lässt einen den Hans doch wieder sehr mögen.
Ein ganz normaler Tag (Heide Pils 1977)
Ein Tag aus dem Leben der Angestellten Renate Iglauer, 29 Jahre alt, in 45 Minuten. Morgens geht alles ganz schnell, in letzter Minute vor dem Verlassen der Wohnung entscheidet sie sich doch noch für einen BH. Das Detail wird am Nachmittag noch wichtig. Den Weg zur Arbeit legt sie mit einem kleinen Renault zurück, in der Firma wird tachiniert, weil der Chef noch nicht da ist. Renate nützt die Gelegenheit, um noch einmal auf die Straße zu gehen, sie beantwortet eine Kontaktanzeige, das geht nur in der Telefonzelle (mit der Mutter spricht sie auch im Büro). Offiziell ist sie unterwegs, um ein Gabelfrühstück zu besorgen. Trotz der offensichtlich geringen Produktivität der Mitarbeiter scheint es sich um ein gut gehendes Unternehmen zu handeln, man stellt Kataloge für den lateinamerikanischen Markt her. Der Vorgesetzte ist dann ein wenig pikiert, weil er erfahren hat, dass Renate am Nachmittag einen Termin beim Generaldirektor hat (ich habe die Sache mit dem BH so gelesen, dass sie kurz versucht war, die «Waffen einer Frau» zu benützen, das dann aber für riskant – oder zu kalkuliert, das bleibt offen – hielt). Sie möchte mit ihm über eine Aufstiegsmöglichkeit in der Firma sprechen, für die sie aus demütigend simplen Gründen nicht in Frage kommt: den Posten wird ein Herr Doktor bekommen (Renate hat eine nicht ganz gerade und nicht vollständig akademische Ausbildungsgeschichte. Sie war eine Zeitlang in Paris. Da assoziiert der Generaldirektor keine beruflichen Qualifikationen damit.) Das Rendezvous mit dem Unbekannten endet, bevor es beginnen kann: Renate sieht ein paar Männer in einem kleinen Cafe, darunter auch einen Raucher mit dem gelben Hemd (Erkennungszeichen), und macht auf der Schwelle kehrt. «I glaub, i wer narrisch.» So, wie das gefilmt ist (Schwenk durch das Lokal von Einzelkunde zu Einzelkunde), bezieht sich das auf die Männer allgemein. Mit dem Freund trifft sie sich an diesem Abend auch nicht mehr, der will nicht ausgehen, sie soll lieber etwas kochen. Schlussbild Renate im Schaukelstuhl, ihre Hausschuhe (Schlapfen) sind nicht gerade bequem, der Stuhl auch nicht. Zahlreiche bekannte österreichische TV-Gesichter, in der Hauptrolle Johanna Brix (Bild), von der nicht viel zu finden ist, jedenfalls keine Hinweise auf eine Karriere.
In der Kaserne (Katharina Copony)
Katharina Copony erinnert sich an eine frühe Kindheit in einer Kaserne in der Steiermark, wo ihre Großmutter die Kantine führte, und ihre Mutter erwachsen wurde. Drei Generationen aus einer Zeit, die hier nicht mit Bildern aus dem Familienarchiv eingeholt wird, sondern in der Gegenwart nachgespielt wird - die Soldaten sind von heute, die spielenden Kinder auch, die Kostüme erinnern an damals, den Rest macht die Tonspur. Copony hat Stimmen über die Zeit damals gesammelt, an denen nun die Bilder (sie wirkten auf mich ein bisschen wie de-enactment) hängen. Familienmotivisch gibt es Parallelen zu Regina Schillings Kulenkampffs Schuhe, aber der etwas spröde Ansatz von In der Kaserne ließ mich schließlich vor allem auf die Bundesheer-Szenen schauen (was für sinnlose Übungen, in Zeiten von Drohnenkriegen, Fassbomben und Cyberangriffen, dachte ich immer wieder).
Szenen meiner Ehe (Katrin Schlösser)
Katrin und Lukas sind ein Paar. Es gibt auf beiden Seiten Kinder aus einer früheren Beziehung, es gibt Angehörige, aber in erster Linie sind Katrin und Lukas aufeinander bezogen, und zwar sehr stark. Katrin filmt ihre Liebe, manchmal ist er der Kameramann, meistens sie. Die Liebe geht durch Reflexionen und Krisen, aber in erster Linie bleibt sie stark. Lukas ist öfter zu sehen, seine Selbstbezogenheit gefällt der Kamera (die Kamera ist nicht identisch mit Katrin, die ihn liebt, aber es wirkt ein wenig, als würde die Liebe die Fotogenität von Lukas verstärken, oder ist es umgekehrt?). Seine Familie spielt auch eine größere Rolle: das Haus auf dem Land (traumhaft gelegen), die gebrechliche Mutter, die Anforderungen der Pflege. Der Film ist auf eine sehr freimütige Weise privat, spielt auch mit den Offenlegungen, und man konnte förmlich spüren bei der Vorführung in Graz, wie die Einladung zur Identifikation intensiv angenommen wurde. Interessant, dass schließlich das bürgerliche Tabu relevanter ist als die Sexualität (die von Lukas irgendwann hinterfragte Lieblingsstellung wird explizit benannt): kaum gesprochen wird über das, womit viele andere Paare kämpfen, über Geld und Auskommen und finanzielle Prioritäten. Vielleicht ist einfach genug da. Dann wäre das eine Ehe unter nicht alltäglichen Bedingungen. Ist sie aber sowieso. Und nicht erst durch die Kamera.
Inland (Ulli Gladik)
Ein Mann geht durch Favoriten und sucht seinen Bezirk. Er findet, dass die Gegend nicht mehr ihm gehört, sondern Ausländern. Später stellt sich heraus, dass er selbst einmal einer war - ein Ziegelböhm aus der Tschechoslowakei. An seiner Haltung (ausländerfeindlich, FPÖ-Wähler) ändert das nichts. Ulli Gladik stellt im Wesentlichen drei Menschen vor, die man als Verfechter der schwarzblauen Koalition und ihrer Machtstrategien sehen könnte: einen Sozialfall namens Alexander, eine Wirtin, und einen Mitarbeiter der MA 48, der sich später in Favoriten bei einem türkischen Frisör die Haare schneiden lässt. Der Türke ist Österreicher, und schneidet billiger, aber nicht schlechter als die österreichische Konkurrenz. Inland ist eine Recherche, die über die Alltagsgeschichten der kürzlich verstorbenen österreichischen Menschenkundlerin Elisabeth T. Spira hinausgeht, weil Gladik erkennen lässt, dass sie nicht nur Leute vorstellen will, sondern dass sie eine Sprachebene (oder eine Reflexionsebene) sucht, auf der eine Politik komplexer Zusammenhänge zumindest in Ansätzen (und als Überforderung) in den Blick kommt.
The Remains - nach der Odyssee (Nathalie Borgers)
Eine syrische Großfamilie hat auf dem Weg nach Europa dreizehn Angehörige verloren, als das Boot kenterte und unterging. Es liegt nun 350 (oder doch nur 95?) Meter unter dem Meeresspiegel. Von den Überlebenden kamen die meisten aufgrund eines UNHCR-Hilfsprogramms nach Wien, nur ein Bruder (er verlor die Frau und zwei Kinder) sitzt aufgrund der Dublin-Regeln in Deutschland fest und kann kein Aufenthaltsrecht in Österreich bekommen. Nathalie Borgers stellt ihrem Film ein Zitat aus der Antigone des Sophokles voran: Solange Tote nicht bestattet sind, herrschen die Bedingungen der Tragödie.
Chaos (Sara Fattahi)
Drei syrische Frauen, die jeweils auf charakteristisch andere Weise im Exil oder auf der Flucht sind: eine in Schweden, eine in Damaskus, und die dritte, die Filmemacherin, in Wien. Es geht nicht in erster Linie um die Dokumentation der Schicksale, auch wenn die beiden anderen Frauen viel zu erzählen hätten: sie haben beide ein Kind verloren, eine hat sich in Damaskus vollkommen zurückgezogen, die andere sucht in der Kunst und gelegentlich im Wald nach etwas, was ihre (bipolare) Verstörung ein wenig lindern könnte. Sara Fattahi hat in Wien schon eine Ansprache gefunden: die Stimme von Ingeborg Bachmann, der sie (oder die ihr) durch die Stadt folgt, und mit der sie sogar flüchtig identisch zu werden scheint. Chaos ist vor allem ein Film über einen Zustand, der keiner ist oder wenn, dann ein negativer: nirgends mehr daheim sein zu können.
Bewegungen eines nahen Berges (Sebastian Brameshuber)
In Eisenerz, einer Stadt im tiefen Innersten Österreichs (nur Mariazell ist noch weiter drinnen), lebt ein Mann aus Nigeria namens Cliff Agu in einer alten Halle. Er verarbeitet hinfällige Autos, wenn er mit einem fertig ist, liegt der Motor, in Plastik verpackt und zum Abtransport fertig, da wie ein Transplantationsherz aus dem Zeitalter der Schwerindustrie. Sebastian Brameshuber erzählt die Geschichte von Cliff wie eine moderne Sage, die auf eine alte Sage antwortet: ein gefangener Wassermann habe einst seine Freiheit und die Rückkehr ins Wasser erkauft, in dem er der Gegend ewige Eisenerzbestände versprochen habe. Dieses Versprechen hat der Erzberg, nach dem Eisenerz benannt ist, nur dann gehalten, wenn man Recycling als Rohstoffgewinnung begreift. Die erste Stunde des Films stellt die Geduld ein wenig auf die Probe, denn es passiert nicht viel, und Brameshuber will möglichst wenig von dem erzählen, was eine normale Reportage über Cliff wissen wollen würde (ich allerdings, ehrlich gesagt, auch): wie kommt er nach Österreich, was ist sein Status, wer zahlt den Strom, mit dem er sich rasiert? Nach einer Stunde wechselt der Film dann abrupt die Seite, in das Land, aus dem Cliff kommt, und in dem er dann noch in den Busch geht, das Telefon allerdings immer bei sich, als müsste er auch in Nigeria jederzeit erreichbar sein für seine ungarischen Geschäftspartner: «we’ll continue to hustle».