22. Oktober 2022
Eine Nummer kleiner Und ein Klotz
Das 65. Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (DokLeipzig) war das erste seit Ausbruch der Corona-Pandemie, das wieder in Präsenz stattfinden konnte (online sind zehn ausgewählte Filme nach Festivalende eine Woche lang im Stream zu sehen). Gemessen an 2019 war alles eine Nummer kleiner: Säle, Programm, Partys, Buffets. Und die Eröffnungsfeier, die am 17. Oktober ohne große Reden über die Bühne ging. Man kann das mögen, weil kaum etwas überflüssiger ist als Geldgeber aus der Politik, die dem Festival seine Geschichte erzählen. Aber das lokale und mediale Interesse, das eine Eröffnung auf sich zieht, schafft andererseits einen Raum für Öffentlichkeit und damit für Positionierung.
So präsentierten die Kurzfilmtage Oberhausen in diesem Frühjahr einen ziemlich irren, in seinen Widersprüchlichkeiten über die Fragen von Repräsentation allein in der ersten Hälfte unterhaltsamen Auftakt, der in den Hochzeiten des Feuilletonismus als «Deutsche Szene» in der FAZ hätte gewürdigt werden müssen. Festivalleiter Lars-Henrik Gass hatte zu Beginn der Veranstaltung der lokalen Klimainitiative Sterki bleibt Raum gegeben für ein Statement; Transpis und aus Zweigen und Blättern gebastelte Kronen als Kopfschmuck inklusive. Danach lief – auch als Reaktion auf Will Smiths Ohrfeige bei der vorausgegangenen Oscar-Verleihung – der legendäre Auftritt der kürzlich verstorbenen Sacheen Littlefeather, gefolgt von Text-Einblendungen aus dem Buch der Münsteraner Historikerin Heike Bungert, die zu den indigenen Menschen Nordamerikas forscht, das allerdings unter der Fremdbezeichnung, an der hierzulande der ganze Assoziationskarneval von Winnetous Edelmut hängt, weil sie den nämlichen Begriff nicht problematisch findet. Es folgte der CDU-Bürgermeister Werner Nakot, der auf den ziemlich konkreten Vorschlag der Sterki bleibt-Gruppe (Aussetzung des vor langer Zeit geplanten Autobahnbaus anstelle des Waldes und Überprüfung mit Blick auf die Ziele des Pariser Klima-Abkommens von 2015) einzig mit der bedrohlichen Freude darüber reagierte, dass man in Oberhausen nicht in Russland lebt und also demonstrieren kann, weil solche Proteste wie der gerade vorgetragene in Russland unter Putin einfach nicht möglich wären, was in Variationen sicherheitshalber noch weiter bekräftigt wurde. Auf den Lokalpolitiker folgt die Vertreterin des Landes, die anstelle der damals noch amtierenden Ministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen dem Festival seine Geschichte erzählte, sich dabei aber mehrfach bis pausenlos dafür zu entschuldigte, dass sie nur eine Vertreterin der Ministerin sei.
So munter war es in Leipzig dieses Jahr also nicht. Und auch wenn man den schlanken Auftakt schätzen kann – die Vorgängerinnen des neuen Festivalleiter Christoph Terhechte (seit 2020) haben ihre Redezeit für filmpolitische Statements genutzt, etwa eine Frauen-Quotierung verkündet und mit dem Ausstieg aus dem auf Premieren abonnierten A-Festivalzirkus geliebäugelt (Leena Pasanen, 2015-19) oder kritische Worte ans deutsche Filmförderwesen gerichtet (Claas Danielsen, 2004-2014). Terhechte äußerte Solidaritätsadressen in Richtung Ukraine und Iran; auf die Entwicklungen in letzterem habe man mit Filmprogrammen nicht mehr reagieren können.
Mit einem «Klotz» (Co-Kurator Felix Mende, gemeinsam mit Carolin Weidner) begann am Tag darauf die Retrospektive, die den «Defa-Dokumentaristinnen» gewidmet war. Und die in ihrem dekanonisierend-cinephilen Zugriff auf die abgelegte Defa-Geschichte Leben ins Archiv brachte. Beispielhaft dafür war die Wahl des «Klotzes» als Eröffnungsfilm, der als «Brett» auch adäquat beschrieben wäre: Du bist min von Annelie und Andrew Thorndike, dem power couple der frühen DDR-Staatskunst, das in seinem Studio 67 exklusive Arbeitsbedingungen hatte wie sonst wohl nur Heynowski und Scheumann in ihrem eigenen Studio. Du bist min war mit 12 Millionen DDR-Mark der teuerste Film, den die Defa je produziert hat, ein nur knapp zweistündiger Essay, an dem die siebenjährige, wechselvolle Produktionszeit allerdings nicht spurlos vorübergegangen war. Ursprünglich mal geplant als Wiedervereinigungsgeschichtsfeature zum 20. Republikgeburtstag (als «Die Deutschen»), blieb am Ende ein stählerner Heimatsubjektivismus als Kompilationsfilm auf 70mm und mit 6-Kanal-Ton aus der zu Ende gehenden Ulbricht-Ära, dem im Kino kein Erfolg beschieden war. Während Andrew Thorndike (1909-1979) mit der technischen Realisierung von aufwendigen Luftaufnahmen beschäftigt war, liest die Schauspielerin Christine von Santen die Texte von Annelie Thorndike (1925-2012). «Ein deutsches Tagebuch» heißt Du bist min im Untertitel, und gemeint ist damit das Tagebuch, auf dem der Name Annelie Thorndike steht, auch wenn das gesprochene Wort mitunter vom mitlesbar geschriebenen abweicht. Intim im gängigen Sinne des Begriffs wird es allerdings sowieso kaum.
Interessant ist das irrlichternde Begehren der Ich-Erzählerin, sich aus der Vogelperspektive der Luftaufnahmen von Saaleburgen mit DDR, Deutschland, Kultur, aber auch mit Männern zu verbinden in ihrem Selbstgespräch («Die polnischen Männer haben so ein gewisses … Annelie! … verdammt, ich wurde ganz verlegen»). Bei Goethe geht das mit der Zuneigung nicht so schnell («Viel musste geschehen, eh ich zu ihm fand, aber nun hat er mich wohl aufgenommen in seinem Weimar»), dafür strahlt dessen fame so hell, dass das eingeblendete Portraitbild nicht benannt werden muss. Zitiert wird aus dem Werk des Großdichters auch unbekanntere Liebeslyrik («Was soll uns stets vereinen? / Die Lieb»), ehe eine Männerstimme mit Wandrers Nachtlied («Über allen Gipfeln ist Ruh’») nach 70 Minuten in den Schlaf, wenn nicht die längste Nacht rezitiert, aus dem sich Du bist min dann mit fünf feschen Wasserskifahrerinnen wieder aufweckt, damit das Annelie-Ich eine halbe Stunde vor Schluss noch mal autobiografisch ausholen kann («Und hier beginnt nun meine Geschichte»). Denn die Ehe mit Andrew entstand über dessen Film Der Weg nach oben (1952), der an einer Vorzeigeschule in Penzlin gedreht wurde, der Annelie seinerzeit vorstand. Zur Lehrerin ist sie wiederum dank eines eindrucksvollen Rotgardisten geworden, der hier Wassili heißt und in einer nachgespielten Szene auch zu sehen ist – und im Filmtext später noch herumgeistert («So spielt das Leben, Vassili!» oder: «Mein Vassili, mein Held, ein stolzer, freier Mann»).
Es ist also nicht immer klar, auf wen oder was sich der titelgebende und im Film zitierte mittelalterliche love song denn nun bezieht («Denn, so sage ich mir, indem ich dieses Land in Liebe verwandele, verwandelt es mich»). Am Ende wird ein Bekenntnis zum Staat daraus, das ansatzlos der plötzlich auftauchenden Bevölkerung übergeholfen wird («Du bist min. Ich bin din. Ich? Wir sind din!»). Dabei lebt Du bist min schon auch davon, wen Annelie Thorndike so alles kennt durch ihre Filme (Ulbricht, den Generaldirektor von Carl Zeiss Jena, den russischen Mathematiker Sergei Lwowitsch Sobolew). Die dokumentarischen Ausflüge in den Westen landen bei NPD-Versammlungen, Vertriebenentreffen und Honoratiorenstammtischen, wo allerdings journalistisch unpräzise von namenlosen Menschen auf gewisse Nazi-Typen geschlossen wird. Sich selbst imaginiert Annelie Thorndike in einer Passage, die eigentlich von einer Usedomer Fischeputzerin handeln soll, in flinken Überblendungen einer familiären Ahnenreihe bis zur Dürer-Mutter zurück und dann wieder nach vorn zur »Käthe Kollwitz’ Proletarierin». Das Begehren von Du bist min zielt darauf, sich historischer Größe und gegenwärtiger Prominenz anzuwanzen.
Mögliche Hindernisse beim Bezug aufs Gestern werden schnell abgeräumt, es steht schließlich das 20. DDR-Jubiläum bevor. Bei der Bilanz und mit Blick auf Werktätige vor einem Werkstor befindet die Erzählerin, «dass wir die deutsche Schuld getilgt haben». Um in die Sowjetunion zu schalten und mit der Erinnerung an den Erfolg von Das russische Wunder (1959-63), den sie und ihr Mann hatten, aufs Sequel zu schielen: «Diese schufen das russische Wunder, und diese das wahrhaft deutsche. Bin ich jetzt pathetisch? Ich möchte doch bloß jedem Arbeiter im Land zum neuen Jahr gratulieren»).
Daraus ist bekanntlich nichts geworden. Und aus der besseren Heimatliebe, von der Du bist min träumt in seinen redundant-amourösen Beschwörungen von Landschaft und Kultur, auch nicht. Ironischerweise liegt das im Film als gut erhaltenes Musterdorf bedrehte Mackenrode eine Ortschaft von Fretterode und drei von Bornhagen entfernt – Eichsfeld-Destinationen, die heute vor allem für ihre neonazistischen Bewohner bekannt sind.