14. November 2010
Der Horizont ist eine Leerstelle Zur 34. Duisburger Filmwoche
Auch der Dokumentarfilm kann eigentlich keinen privilegierten Zugriff auf das Reale für sich reklamieren. Seine welterschließende Kompetenz muss an jedem Film je von neuem getestet werden. Die Bedingungen dieser Tests hängen nicht allein von den Filmen ab, denn sie vollziehen sich auch im und am Rahmen, in dem die Filme sich ereignen. Filmfestivals bilden einen prominenten Rahmen, der stärker auf die Performanz des Gezeigten und seine lebensweltlichen Rückkoppelungen einwirkt als der Fernsehalltag und die starr ein bizarr wettbewerbsverzerrendes Verleihprogramm abspulenden Multiplex- und Programmkinos. Man nimmt andere Filme wahr, und unter anderen Bedingungen als gewöhnlich. Festivals schaffen einen Wahrnehmungsrahmen der Außergewöhnlichkeit.
Für viele der gezeigten Arbeiten bleibt es bei dieser Ausnahme. Sie schaffen den immernoch avisierten Sprung in die «reguläre» Öffentlichkeit nie. Zudem arbeiten die meisten Festivals dabei zuallererst an der Selbstwahrnehmung, worüber die in der Regel nicht bewältigbaren und in zahllose Nebenreihen und Subwettbewerbe zersplitterten Programmierungen die Rezeption einzelner Filme nicht befördern. Die Kompensation ästhetischer Indifferenz durch hysterische Betriebsamkeit begünstigt primär merkantile Interessen, Deals, Messen, Zuschauerzahlen. Diese wirken wiederum auf die Programmierung zurück. Denn mehr ist ja bekanntlich mehr.
Dagegen legt man in Duisburg unter der Leitung von Werner Ruzicka und der diesjährigen thematischen Überschrift «Horizont» größten Wert darauf, jedem Film und jedem Zuschauer gleichwertige Rezeptionschancen einzuräumen: Es gibt nur ein einziges Kino, das die Filme im Abstand von mindestens einer Stunde vorführt. Diese Anordnung ermöglicht, dass alle Teilnehmer des Festivals über dieselben Filme sprechen können. Denn die diskursive Einholung des Gesehenen ist in Duisburg unauflöslich mit der Schau der Filme im Kino verbunden. Beim Verlassen des großen Saals des Filmforums weist ein Schild mit der Aufschrift «Diskussionsraum» den Weg zur zweiten Halbzeit. Das Kino ist in Duisburg emphatisch auf eine Idee von Kino-Öffentlichkeit bezogen, die sich erst im Anschluss an die Projektion in der leiblichen Kopräsenz des Publikums und im Zigarettendampf der Diskutanten voll realisiert. Und diese Gemeinschaft soll in der Lage sein, ein gesamtgesellschaftliches Bewusstsein zumindest denkbar zu machen, einen vorübergehenden Ausgangspunkt zu skizzieren, der Aufschluss gibt über das, was ist, was kommen könnte.
Dokument erfolgreichen Downsizings
Von wo aus aber sprechen die Filmautoren, die nicht in der deutschsprachigen Gremienwirtschaft zu Hause sind und trotzdem innerhalb dieses Systems arbeiten? Wie und warum machen sie überhaupt weiter, mit welchen Perspektiven? In seinem Film STERNE schreibt Frank Wierke die Geschichte der Umstrukturierung des Popmusikmarktes am Beispiel der Band Die Sterne. Deren vormaliges Label V2 war 2006 groß gescheitert und von Universal übernommen worden. Die Sterne standen erstmals seit Bandgründung ohne Verleger da. An diesem finanziellen und organisatorischen Nullpunkt beginnt Wierke allein mit seiner Mini-DV-Kamera die Aufnahmen. Dabei tritt er im Stil des direct-cinema nicht in Erscheinung, seine Anwesenheit wird nur über Interview-ähnliche Situationen, in denen sich Sterne-Sänger Frank Spilker direkt an ihn wendet, sowie gelegentliche Kamerablicke, markiert. Über die Dauer von 80 Minuten erzeugt der Film eine Dynamik der Unmittelbarkeit, die es ermöglicht, den fragmentarischen und jederzeit fragilen Prozess der Musikproduktion kontinuierlich zu verfolgen und so der Komplexität der künstlerischen Leistung Rechnung zu tragen. Kreativität erscheint hier gerade nicht als genialisch-selbstbezügliches Moment, sondern als bis zuletzt riskanter sozio-ökonomischer Balanceakt. Der Film endet mit dem Erscheinen der ersten Feuilletons zum Comeback der Band. Im anschließenden Gespräch bezeichnet Spilker den Film als Dokument eines erfolgreichen Downsizing-Prozesses, der systemerhaltenden Verkleinerung eines für seine Umwelt zu groß gewordenen Organismus’. Dass aus dieser Beobachtung keine Rückschlüsse auf die Arbeit des Dokumentaristen selbst gezogen werden können, liegt in der Form des Films begründet. Während vor der Kamera der schmerzliche Prozess einer rückhaltlosen Dekonstruktion von Pop-Mythen abläuft, bleiben der Dokumentarist und seine Arbeitsbedingungen wie sein wirtschaftliches Subsystem unausgesprochen und in der Unsichtbarkeit des Off verborgen.
Emergenz des Geschichtlichen
Wenn auch Serpil Turhan die Option, selber vor der Kamera zu erscheinen, hier nicht nutzt, so interpretiert sie doch die klassische und auch in den Duisburger Filmen dominante Ausgangssituation - Protagonist vor, Dokumentarist hinter der Kamera - auf interessante Weise, indem sie einen Altersheim-Insassen zunächst den Text Wolokolamsker Chaussee 1 von Heiner Müller ablesen lässt. Unter ihrer Regie verfestigen sich in HERR BERNER UND DIE WOLOKOLAMSKER CHAUSSEE von Hand entwickelte 16mm-Filmaufnahmen mit Körper, Stimme und Text zu einem befremdlichen Monument des Verdrängens. Zunächst hat man das Filmbild im Verdacht am Computer manipuliert worden zu sein. Schnell wird klar, dass die Kratzer, Bildstandsprünge und anderen Beschädigungen im Filmmaterial selbst liegen. Wie er selbst erklärt, war Herr Berner Mitglied der Waffen-SS und als solches an vorderster Front in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten in Tschechien, Polen und der UDSSR unterwegs. Er beharrt allerdings auf seiner Version der Geschichte: selbst nie geschossen, mit KZs nichts zu tun, Krieg als schönste Zeit. Turhan lässt Berners Aussagen unwidersprochen, fragt vage nach, sie realisiert hier kein vorgeschriebenes Drehbuch, verfilmt keine lineare, substantielle Geschichte, sondern versucht die Emergenz des Geschichtlichen ihrem Material zu überlassen. Weil der Film auf Gesprächen basiert, die nicht synchron mit den Bildern aufgenommen wurden, folgen auf die einzelnen Einstellungen aus dem Altersheim häufig Schwarzfilm-Passagen, über die deutsche Untertitel und Sprache weiterlaufen. Die Bilder sprechen eine eigene Sprache, nicht die des Voice-Overs. So wie das 16mm-Material durch die manuelle Entwicklung offen wird für unbestimmte und irreversible Manipulationen, so öffnet Serpil Turhan einen Heiner Müller-Text für die Auslegung durch einen Leser, der aus eigener Anschauung zu wissen meint, wovon die Rede ist. Wie der Gewinner des arte-Dokumentarfilmpreises René Frölke (VON DER VERMÄHLUNG DES SALAMANDERS MIT DER GRÜNEN SCHLANGE) studiert Turhan an der HFG Karlsruhe. HERR BERNER hat dort in einem Seminar bei Thomas Heise seinen Anfang genommen, und ist ein weiteres Indiz dafür, dass sich an den Kunsthochschulen verstärkt autonome Filmpraktiken ausbilden, die an Formatvorgaben aus Sender-Redaktionen oder sonstwoher erst einmal nicht interessiert sind. Was wäre möglich, wenn auch die Verantwortlichen der großen und gut ausgestatteten Film- und Fernsehhochschulen sich eher am Duisburger Dellplatz orientieren würden statt auf den «Boulevard der Stars»zu schielen?
Darüber fällt aber auch auf, dass der vitale Dokumentarismus in den bildenden Künsten, der seit Jahrzehnten Gebrauch von Videotechnik und paradokumentarfilmischen Verfahren macht, in Duisburg nicht vorkommt. Noch immer scheint eine Grenze zwischen Dokumentarfilm-als-Kunst und Kunst-die-dokumentiert zu verlaufen, die nicht zuletzt auch durch den Kinoraum markiert und aufrecht erhalten wird. Durch verbindliche Anfangszeiten, geschlossene Räume und festgelegte Dauer; durch Stillstellung der Anwesenden und einer fortwährenden Respektierung des Prinzips Projektion. Die Medialität des Dokumentarfilms ist noch immer nicht «Inter-». Der Zwischenraum bleibt Leerstelle. Ein Horizont, den man im Blick behalten kann.