6. September 2023
Das Meer, das wir nie sehen werden Bericht vom FID Marseille 2023
Mit einer Anekdote, in der die Namen Melanie Klein, D. W. Winnicott und Nahel M. vorkommen, richtet sich Mathilde Girard vor der Premiere ihres Films QUE QUELQUE CHOSE VIENNE ans Publikum. Winnicott und Klein, das hat was mit Psychoanalyse zu tun, Girard publiziert neben ihrer filmischen Tätigkeit zu Psychoanalyse und Philosophie. Der dritte Name, Nahel M., ist Anfang Juli in aller Munde. Wie passt das zusammen? Eine Frage im Übrigen, die sich beim Schauen einiger FID-Filme aufdrängt, Prädikat eklektisch. Worauf Girards Anekdote «en detail» abzielt, kann mir mein schwindendes Schulfranzösisch nicht sicher sagen – es wird wohl in Richtung Kondolenz- und Solidaritätsbekundung gegangen sein. Die landesweiten Ausschreitungen infolge der Erschießung des 17-Jährigen durch einen Polizisten in Nanterre hatten international Wellen geschlagen, waren weit mehr als talk of the town – allein talk of the festival waren sie kaum, Girard ist eine Ausnahme. Was man daran nun ablesen kann und was nicht – über den Elitismus von Filmfestivals, deren Symbolpolitik, über die Wechselwirkung zwischen Spielort, Anwohner*innen und tatsächlichem Publikum – mögen andere beurteilen.
Girards Film jedenfalls ist auch in einer nicht allzu fernen Vergangenheit zu verorten, von der kaum mehr gesprochen wird: Die Zeit der Lockdowns und Ausgangssperren. Im Kino lebt sie durch die Latenz zwischen Produktion und Distribution noch etwas länger; die Themen wiederholen sich trotzdem. Einsamkeit, Alltag und Isolation prägen bei Girard das Stimmungsbild, zumindest in einer der drei Ebenen, die eine Frau in ihrer Wohnung zeigt, beim Aufwachen, Kaffeekochen, Naturdokus schauen. Girards Verdienst ist es, die Lockdown-Affekte auf ihre strukturelle Dimension abzuklopfen und in der Montage mit Wiederholungen zu arbeiten. So gibt es außerdem statische Aufnahmen nächtlicher, wenig bevölkerter Pariser Straßen (Ménilmontant, Belleville), die ein lineares Vergehen von Zeit anzeigen: Ein Asia-Supermarkt ist geöffnet, später im Film geschlossen. Schließlich, die dritte Ebene, ein intimer Dialog zwischen zwei Fremden im Taxi, wo sonst, der mit den anderen Bildreservoirs zunächst in keinerlei inhaltlichem Zusammenhang zu stehen scheint, formal aber mit ihnen kurzgeschlossen wird. Die mehr neben- als miteinanderlaufenden Stränge wollen auf eine Gleichförmigkeit hinaus, auf ein Warten, dass etwas kommt, wie es im Titel heißt. Der stammt aus dem Lied La nuit n’en finit plus von Petula Clark, das mit einer unprätentiösen, und dennoch von herzzerreißender Dringlichkeit strotzender Lip Sync Performance (per Videocall) den eindrücklichen Höhepunkt eines Films bildet, dem es um Höhepunkte nicht geht.
Nicht nur, aber vor allem im französischen Wettbewerb sieht man sich häufig mit collagenartigen Versatzstücken aus Bildern und Tönen konfrontiert, die sich mal mehr, mal weniger zu etwas fügen (wollen), immer aber über den Fortbestand, die Legitimation der filmischen Form selbst nachdenken. Vielleicht ein notwendiger, dezidiert selbstreflexiver Zugriff auf die Welt; sie so disparat zeigen, wie sie nun mal ist. An gewichtigen Themen mangelt es nicht, oft geht der Blick Richtung Zukunft, da geht es bekanntlich sowieso ums Ganze, so auch in NOUVEAU MONDE ! von Elisabeth Perceval und Nicolas Klotz (vgl. das Gespräch in cargo #55). Ein Neuanfang (der Welt, des Kinos) muss her oder hat schon stattgefunden, exklamatorisch durch und durch, inmitten bretonischer Küstenlandschaften, weder von der Filmgeschichte (Jean Epstein) noch sonst unberührt (die Klimakatastrophe), will der Film eine beachtliche Diskursmasse schultern. Immerhin die guten Absichten kann man ihm nicht vorwerfen.
Umso erfrischender, wenn ein Film sich weniger vornimmt und sich überhaupt der Verknappung verschreibt. In DANS LE SILENCE ET DANS LE BRUIT gibt es zwei Zustände, Lärm und Stille, an einem Ort, der psychiatrischen Klinik La Chesnaie zwischen Orléans und Tours. Clément Roussier und Hadrien Mossaz, die beiden Regisseure, haben hier einen Video-Workshop veranstaltet, aus dem dieser Film wurde. Ein in mehrfacher Hinsicht kollaboratives Unterfangen also, das den Klinikbewohner*innen ihren Raum, ihre Stimme zugesteht. Tonangebend zunächst jedoch die entschleunigten, statischen Einstellungen mit provenzalischer Farbpalette – die Menschen bewegen sich darin, begegnen einander in präzisen Situationen reiner Zwischenmenschlichkeit: Tarotkarten zum Amüsement, ein Kippendreh-Tutorial, vor allem aber erzählen, zuhören, schweigen. Formale Brüche gibt es, wenn die Protagonist*innen selbst zur Kamera greifen und sich in spielerischen, subjektiven Einschüben ihrer unmittelbaren Umwelt versichern – das ist das existenzialistische Ausgangsmaterial aus den Workshops. Keine schönen, sondern taktil-therapeutische Bilder, die hoffen lassen, dass nicht alles verloren ist, solange man existiert. Behutsamkeit und Stille weichen Lärm und Hektik erst im Schlussbild, als es in die Stadt geht (natürlich Marseille), «zurück ins Leben», wie man in solchen Fällen zu sagen pflegt. Rückkehr, Aufbruch, Flucht? In der Miene der jungen Frau, die da schnellen Schrittes vorüberpromeniert, liegt eine Portion Zweifel, vielleicht ist es Trotz. Fragen, die offen bleiben, während sich die Kamera, über die Küste schwenkend, fast respektvoll, aus der Nahaufnahme zurückzieht.
Mit respektvollen und durchdachten Kadrierungen hat man es auch in SOFIA FOI von Pedro Geraldo zu tun, der völlig zurecht den Preis für das beste Debut gewann. Erzählt wird, wenn überhaupt, aus dem Leben einer Studentin, die ihre Bleibe verliert und überhaupt schon verlusterprobt ist, nicht zuletzt die Kindheit ist passé, auch wenn ein Trolley mit Hase-Felix-Motiv Gegenteiliges behauptet. Ort der elliptischen Handlung ist der Campus der Universität São Paulo, nicht gerade ein «safe space», vor allem ein Nicht-Ort, dessen dunkle Ecken die fixen 4:3-Einstellungen immer so kadrieren, dass klar ist, es gibt da noch mehr, hors-champ. Schon am Anfang unheimlich hohe, distanzierte Kamerawinkel, meist aber Close-Ups, insbesondere wenn rückgeblendet wird in eine bessere, vielleicht glückliche Zeit, zu einem utopischen Raum, am Wasser, mit einer geliebten Person, die nicht mehr da ist, und deswegen der Erinnerung umso näher. Mir brennt sich eine unscheinbare Sequenz ein, die das ganze Potenzial dieser fein komponierten Arbeit bündelt: Die sachgerechte Wartung eines Kajaks, nachdem es elegant, den Bildkader verlassend und wieder zurückkehrend, ans Ufer gesteuert wurde. Das alles ist mit einer unaufgeregten Ruhe fotografiert, auch davor, als etwas Unerhörtes erkannt wird, das Eigentliche sieht man nicht, nur indirekt, über das Erkennen eben.
Auch wenn SOFIA FOI mit verhältnismäßig wenigen Schnitten auskommt, fällt bei der Bildgestaltung eine, wie mir scheint, etwas in Vergessenheit geratene Kinokulturtechnik ins Auge, die zumindest beim FID eine kleine Renaissance erlebt: Die Doppelbelichtung. Das Übereinanderlegen von Bildern hat ja im Experimentalfilm durchaus Konjunktur, im narrativen Kino ist es kein unverzichtbarer Baustein der Filmgrammatik mehr (abgesehen von Leuten wie Mikhaël Hers vielleicht). In SOFIA FOI ergeben Überblendungen von Bildern (und außerdem einem sehr präsenten Klangteppich) insofern Sinn, als sie schlichtweg das symbolisieren, was sie sind: Übergänge, zwischen Kindheit und Erwachsensein, Nacht und Tag, Leben und Tod.
Im US-Wettbewerbsbeitrag AN EVENING SONG (FOR THREE VOICES) von Graham Swon ist die Doppelbelichtung nicht semantisch einzuhegen, sondern oberstes Gestaltungsprinzip mit Generalbefugnis. Die Montage hier ist eine immer weiter fließende Bewegung, ohne harte Schnitte, jedes Bild kommt aus dem vorherigen und schickt sich an, ins nächste einzugehen. Bei Bazin kann man nachlesen, dass Mehrfachbelichtung schon in der Frühzeit des Kinos als probates Mittel galt, um Übernatürliches und Fantastisches zu darzustellen. In den Wäldern dieses Films treibt ein haariges Geschöpf sein Unwesen, und auch sonst ist man dem Folkloristischen zugetan. Der erfolglose Trivialliterat Richard greift auf diesen Stoff zurück für den «trash», den er produziert; seine Frau Barbara schreibt ebenfalls, aber mit mehr Anspruch: «the sort of thing reviewed in some important papers but not really read by regular people at all». Das Paar zieht aufs Land, nimmt sich eine Magd, Martha, die dritte Stimme des Abendliedes, das Jahr ist 1939, der Modus melodramatisch. Das Liebesdreieck, das der Film erzählt, ist das erwartbare, aber notwendige Gerüst, an dem sich die Form schillernd abarbeiten darf. Denn die Überblendungen und Auflösungen gehen nicht nur mit einem einlullend sphärischen, aber hinreichend geheimnisvollen Soundtrack einher – auch das Erzählen tendiert ins Fluide, in die Polyphonie. Die drei Stimmen der Figuren wechseln sich munter ab beim Voice Over; sie erzählen das Melodram (klar, es geht auch um das Erzählen selbst), aus ihrer Perspektive, mit ihren stilistischen Möglichkeiten, nicht zuletzt mit Humor und einer ordentlichen Prise Kitsch: Ein Traumbericht gerät zur sinnlichen Annäherung, während die Kamera unablässig Kreise zieht, ein andermal und nicht nur einmal sieht man Hannah Gross in schönen Kostümen durch Wälder streunen, heute liefe das unter «Cottagecore».
Hühner verschwinden und dann Menschen; es treten Wünsche und Träume zutage, die über den Horizont der Midwest-30er hinausweisen – und doch, für das Publikum gehören sie ganz konkret in diese Vergangenheit, auch das liegt an der Bildgestaltung. Swon und sein Kameramann Barton Cortright haben eine Apparatur entwickelt, bei der eine Digitalkamera die Mattscheibe einer großformatigen Analogkamera abfilmt, ein hybrides Unterfangen, das einerseits die unpraktikable Lichtempfindlichkeit des Analogfilms mit digitalen Mitteln austrickst. Andererseits sorgt die verschachtelte Bilderzeugung dafür, dass die charakteristische körnige Textur des Analogen erhalten bleibt. Dass sich der Effekt nach einer Weile abnutzt, ist zu verschmerzen. Denn die Konsequenz dieses Geflechts aus Genres, Texturen und Texten ist beachtlich – seine unverhohlen immersiven, hypnotischen Absichten erfüllen sich mindestens darin, das Stimmungsbild eines Gestern zu erzeugen, das gleichzeitig authentisch und gebrochen ist.
Mit ähnlichen Schlagworten könnte man den jüngsten Film von Deimantas Narkevičius (vgl. Gespräch in cargo #59) belegen, besonders in puncto Hypnose- und Immersionsabsichten. TWITTERING SOUL (ČIULBANTI SIELA) ist wie AN EVENING SONG ein Kostümfilm mit Cottagecore-Anwandlungen und fantastischen Elementen (und die sind hier durchaus elementar), der aber das gesungene dem gesprochenen Wort vorzieht. In den südlitauischen Landstrichen dieses Films geht es pagan und archaisch zu, hier ist, Ende des 19. Jahrhunderts, von Industrialisierung keine Spur. Die Menschen sind dennoch nicht mehr sehr verlässlich zuhause in der gedeuteten Welt, sie wirken kleiner, bewegen sich wie durch Miniaturlandschaften; alles ist entrückt und sträubt sich gegen jede Entzauberungslogik mit allerlei Riten, Sprüchen und Volksweisen. Ein period piece also, das just die Frage nach der Periodisierung stellt: was meinen wir, wenn wir Moderne sagen? Und welcher krisenhaften Situation waren diejenigen ausgesetzt, die nicht in die Fanfaren des Fortschritts bliesen, sondern an den alten, ewigen Gesängen der Ahnen festhielten? Narkevičius antwortet darauf nicht mit geschichtsphilosophischem Ballast, sondern mit einer Feier des Unzeitgemäßen in naturmystischen Bildern und Klängen. Die Märchenwelt, die wir sehen, sehen wir durch die vom heidnischen Aberglauben geschärften Augen der Figuren. Hexen, Nixen und andere Gestalten gibt es hier wirklich und zwischen den Schattierungen von Grün wabern magische Lichtpunkte. Eine veritable Tragödie spielt sich ab, erzählt wird aber vor allem in Versatzstücken aus Fabeln und wundersamen Geschichten, Schatten vergessener Ahnen, die – so will es das Fantasy-Genre – in erster Linie dem «Worldbuilding» verpflichtet sind. Oft gleitet die Kamera sanft durch die Wälder, um zu zeigen, was es hier alles gibt, während die Bildkompositionen recht starr bleiben, was auch eine technische Bewandtnis hat.
Denn TWITTERING SOUL ist mit stereoskopischen Linsen gedreht worden, ein 3D-Film letztlich, aber nicht im gegenwärtigen Sinne. Für Narkevičius reiht sich der Film in ein jahrzehntelanges Experimentieren mit Film- und Videoformaten ein, eine Suche nach unterschiedlichen physischen Qualitäten und Materialitäten, die den gelernten Bildhauer nun passenderweise zur frühen Fotografie und deren Annäherung an das skulpturale, raumgreifende Bild führt. Ob man darin mehr als ein Gimmick sieht, wird das Urteil über den Film wohl entscheidend beeinflussen. Als reine ästhetische Erfahrung bieten die «campy» Naturbilder genug Projektionsfläche und eben auch -tiefe, vorausgesetzt man bringt die grundsätzliche Bereitschaft mit, sich verzaubern zu lassen – und das ist doch nicht zu viel verlangt.
Während Filme wie AN EVENING SONG oder TWITTERING SOUL die Versenkung des Publikums einfordern, verfährt O MARINHEIRO genau umgekehrt. Er wirft die Zuschauer*innen auf sich selbst zurück, indem er sich so weit in seine Bestandteile zerlegt, bis kaum etwas übrig ist. Dieses Etwas aber erstrahlt in einer neuen Klarheit, die erst durch die Reduktion hervortritt (insofern steht er vielleicht auch paradigmatisch für eine Poetik des FID-Films). Yohei Yamakado hat sich an Fernando Pessoas Seemann gewagt, ein eigentlich unverfilmbares Stück, ein «statisches» Drama. Dessen ist sich der in Frankreich ausgebildete Japaner bewusst – mit einer Literaturverfilmung hat das wenig zu tun: die Leinwand ist die meiste Zeit über schwarz, dazu wird Pessoas Text von einer (obwohl es drei Sprechrollen gibt, das war aber zu teuer) angenehmen Frauenstimme fast vollständig verlesen. Bild und Ton sind Register, die es zu trennen gilt. Tatsächlich gibt es einen sprachlosen Rahmen aus Bildern: Pittoreske 16 mm-Aufnahmen von der Lissabonner Küste, ein Zimmer mit einer jungen Frau am Tisch. Sie schließt die Augen und damit beginnt die Schwärze, eine profunde Schwärze, die nur vom Bild einer Tür und dem Einsetzen eines John Cage-Stücks mit dem passenden Titel Dream unterbrochen wird. Das Ende, ein Aufwachen, ein Echo der Bilder vom Anfang, intensiver jetzt, die Frau ist verschwunden, die Ränder der Einstellungen wirken etwas verschoben und überhaupt ist alles anders.
Zwischendurch ist man eingeladen, die Augen zu schließen, dann bleibt nur der Klang der Worte aus dem portugiesischen Originaltext. Die Untertitel stören das Schwarz, aber aus ihnen ließe sich die Bedeutung der Worte ableiten. Verrenkte Sätze im Konjunktiv, «Sprechen wir, wenn ihr wünscht, von einer Vergangenheit, die wir nicht gehabt hatten», ließen den Schluss zu, dass im Seemann Sein und Zeit aus den Fugen geraten – Entgegnungen wie «Ihr sagt nichts als Worte» verweisen auf andere Prioritäten jenseits des Textes, die Unmöglichkeit des (richtigen) Ausdrucks schlechthin. Der Film hingegen ist, Werktreue hin oder her, mehr an der Aufführungssituation und dem Dispositiv Kino interessiert. Vielleicht denkt man an Marguerite Duras und ihre Poetik der Absenz in L’HOMME ATLANTIQUE, wo das Schwarzbild mit der Position des*der Zuschauer*in identifiziert wird. Die Vorführung von O MARINHEIRO war, wenig überraschend, begleitet von etlichen walk-outs; sicher ein guter Gradmesser für das Irritationspotenzial, das Yamakados radikalem Minimalismus inhärent ist.
Ebenso wenig überraschend, dass ihn Jury-Präsidentin Angela Schanelec mit dem zweitwichtigsten Preis des internationalen Wettbewerbs, dem Prix Georges de Beauregard International, auszeichnet. Zumal der Blick aufs Meer, nach der Preisverleihung im Mittelmeermuseum, in der Nähe des Hafens, einen weiteren Beleg dafür lieferte, wie O MARINHEIRO auch abseits des Kinosaals nachwirkt. Schlussbild des Festivals, auf mediterran-kitschige Weise versinkt die Sonne im Meer, Pastellfarben allenthalben, und eine Zeile aus dem Seemann klingt nach: «Nur das Meer anderer Länder ist schön. Das Meer, das wir sehen, macht uns immer sehnsüchtig nach jenem, das wir nie sehen werden.