11. Februar 2009
Bevor ich vergesse Bericht vom 6. Filmfestival in Lissabon & Jacques Nolot im Gespräch
Zu den Filmen des französischen Schauspielers, Drehbuchautors, Filmemachers Jacques Nolot, zum exzellenten Zweitling Una Semana Solos der argentinischen Regisseurin Celina Murga und zu Jean-Claude van Damme, der Jean-Claude van Damme am Rande des Nervenzusammenbruchs spielt.
Ein drastisch nüchterner Film über den Tod der eigenen Mutter. «Lasst mich in Frieden mit Maurice Pialat». Sagt im Interview sinngemäß Jacques Nolot, in dessen Regie-Debüt L'Arrière Pays man das Sterben, den Tod und – gewiss am Schockierendsten – in einer langen Einstellung den nackten Körper der toten Mutter sieht. Wenn der Schauspieler, Drehbuchautor, Regisseur Nolot, der einer der beiden «Independent Heros» des diesjährigen Indielisboa-Festivals war, eine Attitüde hat, dann ist es die der Nicht-Attitüde. Woran es fehlt, sind Überschüsse aller Art – Referenzen zu Vorbildern weist er ebenso von sich, wie die Diskussion über Regie-Entscheidungen. «Man nimmt die Kamera», sagt er, «und stellt sie vor den Schauspielern auf. Voilà.» Nolot zeigt die Dinge und er zeigt sie so, als gäbe es mehr, als man so nüchtern vorgeführt sieht, dazu auch gar nicht zu sagen gäbe. (Natürlich stimmt das nicht. Natürlich ist die Ökonomie seiner Einstellungen eine Sache ziemlich großer Kunst.)
Dünn, sehr dünn, manchmal auch gar nicht vorhanden, ist dabei die Linie zwischen Autobiografie und Fiktion. Ja, Jacques Nolot war der Lover von Roland Barthes, ja, das Zitat, das er im Film Avant que j'oublie Barthes als Zitat über die Filmfigur Pierre zuschreibt, ist – sagt Nolot – ein Zitat von Barthes über ihn selbst. Im Erstling L'Arrière Pays, den Nolot drehte, als er bereits über fünfzig war, kehrt ein Mann nach langen Jahren der Abwesenheit ins Dorf zurück, in dem er Kindheit und Jugend verbrachte, in dem er sehr unter seiner Ausgrenzung als Homosexueller litt. Jetzt ist er ein erfolgreicher Fernsehschauspieler, die Leute wollen Autogramme, sein Bruder, der Polizist, kann von seinen schwulenfeindlichen Bemerkungen nicht lassen. Manchmal kommen Jacques (gespielt von Nolot) Erinnerungen an einst, übergangs- und kommentarlos schneidet der Film sie als Bilder in die Bilder der Gegenwart: ein Rugbyspiel, lüsterner Kamerablick auf knappe Sporthosen und das, was sich darin verbirgt.
Eher eine Nachlebensgeschichte: Avant que j'oublie (2007). Pierre, der frühere Gigolo und Schwarm älterer Männer, muss nun selbst für den Sex zahlen. In allen Details tauscht er sich mit einem etwa gleich alten Freund über die Preise aus, die die beiden für käufliche Lust bezahlen. Schonungslos führt der Film Pierre, seinen Körper, zu Beginn vor. Ein dicker alter Mann mit schlaffer Haut wälzt sich nachts im Bett, geht in die Küche, kehrt zurück. Später ein junger Mann an der Tür, ohne viele Umstände gehen sie Schlafzimmer, man diskutiert kurz über Vaseline oder nicht (nein, sagt der Stricher, da schmiert Pierre sie sich ins Haar) – und dann muss Pierre Einhalt gebieten: Es geht nicht, er ist zu schlapp, sein Körper macht nicht mehr mit.
Was bitter klingt, offenbart immer wieder seine komischen Seiten. Man sieht Pierre im Auto auf dem Weg zum Cruisen in Pigalle-Nähe; er telefoniert mit dem Handy; im Fahrerfenster, das diese Einstellung rahmend begrenzt, taucht ein Polizist auf dem Motorrad auf: Man hört ihn, aber sein Gesicht sieht man nicht. «Sie wissen, dass das verboten ist», sagt er. «Ja», antwortet Pierre. «Aber ich habe mich gerade eingeschissen.» Der Polizist zögert, fährt dann kommentarlos weiter. Das Erstaunliche an Nolots Filmen ist: Sie schrecken vor keiner Krudheit zurück, aber führen diese Krudheiten mit großer Selbstverständlichkeit als alltäglich und in ihrer Alltäglichkeit komisch vor. Was deshalb funktioniert, weil sie auch das ganz Banale wie das Existenzielle in seiner Banalität zeigen, Pierre etwa, der HIV-positiv ist, der aus Angst vor den Nebenwirkungen der Tabletten (Haarausfall!) mit sich ringt, ob er sie jetzt nehmen soll oder nicht. Das Ende des Films – das Pierre als Transe und Musik von Gustav Mahler involviert – ist dann umso sublimer, als es die ihm innewohnende potenzielle Lächerlichkeit ins Dunkle hinein transzendiert. Den mittleren der drei Nolot-Filme – La Chatte a Deux Têtes, englisch: Porn Theater – habe ich nicht gesehen. Er spielt in einem Hetero-Porno-Kino, in dem aber auch Schwule und Transvestiten einander beim Sex beobachten und miteinander Sex haben, während sie andere beim Sex beobachten. Drastisch, sachlich, kühl, rückt – höre ich – Nolot das ins Bild.
Der andere «Independent Hero» des Festivals war Werner Herzog. Einst ein deutscher Regisseur, heute in der Welt und in Los Angeles zuhause und in Lissabon nur per Grußbotschaft präsent, vertreten durch seinen Halbbruder und Produzenten Lucki Stipetic. Die Kombination zwischen Weltstar und Außenseiterfigur zeichnet, neben dem grundsätzlich hervorragenden Geschmack seiner Programmleiter, das Indielisboa-Festival aus; im letzten Jahr überzeugten sie mit den Heroes Johnnie To und José-Luis Guerín; verschwunden ist in diesem Jahr leider die zuletzt sehr ambitioniert kuratierte Retrospektiven-Reihe, in der vor zwei Jahren Olaf Möller die Berliner Schule, eher noch: ihr Vor- und Umfeld, vor Augen führte. Im letzten Jahr gab es Einblicke in die Vorgeschichte des rumänischen Kino-Aufschwungs. Die Reihen war wohl eher schlecht besucht, wie überhaupt der Publikumszuspruch recht schwankend und unberechenbar ist.
Das Festival hat einen internationalen Wettbewerb und dazu auch eine prominent besetzte Jury, in der in diesem Jahr unter anderem Forums-Leiter Christoph Terhechte und Venedig-Chef Marco Müller vertreten waren. Das ist freilich eher Beiwerk als Zentrum des Festivals, das vor allem – und ähnlich wie die Viennale – als Filter fungiert, der die interessantesten Produktionen abseits des Mainstreams, teils auch abseits des Festival-Mainstreams, in dichter Form präsentiert. Neben einem Großaufgebot amerikanischer Indpendent-Filme von Kelly Reichards Wendy and Lucy bis zu Lance Hammers Ballast war etwa Celina Murgas Una Semana Solos zu bestaunen, mit dem die Argentinierin im letzten Jahr den Regiepreis des Festivals von Thessaloniki gewann.
Mit einer großartigen ersten Einstellung führt Murgas Film hinein in eine sehr eigene Welt. Man sieht, in dieser ersten Szene, eine junge Frau in Bewegung, die Kamera bleibt etwas zurück, ein junger Mann, der der Frau/dem Mädchen folgt, kommt ins Bild. Das Gleitende dieser ersten Einstellung wird der Film, der sich nie zu einem wirklichen Narrativ verdichtet, nicht verlieren. Wir folgen den beiden und ihren Freunden bei ihrem Sich-Treiben-Lassen in einer von (fast) allen Erwachsenen verlassenen Gated Community von Reichen vor den Toren von Buenos Aires. Die Gruppe von Kindern und Jugendlichen hängt in Häusern herum, bricht in andere Häuser ein, spielt Video-Spiele, verarscht die «Copy-Cops», die in der Anlage für Ordnung sorgen sollen, aber, als von den Eltern gedungen, nicht wirklich können. Wie durch einen Traum schwebt man durch diesen Film, einen Traum allerdings, der zunehmend düstere Töne und Untertöne bekommt und Sozialkritik in schneidender Unausdrücklichkeit betreibt. Etwas, aber nur etwas kristalliner wird der Erzähl-Aggregatszustand von Una Semana Solos in dem Moment, in dem Juan, ein Jugendlicher aus einer niederen Schicht, ins Slacker-Leben am Swimmingpool der Jeunesse Dorée eindringt.
An einem ganz anderen Ende des filmischen Spektrums liegt Mabrouk El-Mechris aufs äußerste hybrides Meister-Action-Comedy-Selbstreflexions-Machwerk JCVD. Hauptdarsteller ist Jean-Claude Van Damme, der eine Figur gleichen Namens bzw. sich selbst spielt. In einer wüsten Action-Film-Rahmenhandlung wird er zur Geisel in einem Postbank-Überfall, während aber zwischendurch immer wieder die persönlichen Dramen – Steuerschuld, Scheidung – des belgischen Filmstars Van Damme verhandelt werden. Höhepunkt des Films: Eine Szene, in der Van Damme aus der Action-Film-Szene nach oben entschwebt und einen mehrere Minuten dauernden bekenntnishaften Monolog über die Fehler in seinem Leben, über die Privilegien, die er dennoch genießt, hält. Das ist weder authentisch noch lachhaft und eben darum ein großer Kino-Moment.
Ausgesprochen reich ist das übrige Angebot des Festivals: Eine offenkundig vom Zielpublikum, das man fröhlich durch die Gänge lärmen sieht, viel besuchte Reihe von Kinder-Filmen, Blicke aufs portugiesische Gegenwartskino, Gespräche, Q & As in intimer Atmosphäre, die portugiesische Vorpremiere von Manuel de Oliveiras neuem Film Singularidades de uma Rapariga Loira in Anwesenheit des Regisseurs und mancherlei mehr. Von einer Segelbootfahrt – nach meiner Abreise, leider – und den festivalunabhängigen Attraktionen der Stadt Lissabon ganz zu schweigen. Indielisboa ist ein in jeder Hinsicht aufregendes Festival, dessen Nachteile – etwa die beträchtliche Entfernung, in der die Spielstätten zueinander liegen – spielend durch Programmqualitäten auszugleichen versteht.
Kurzbio Jacques Nolot
Nolot wird 1943 im Dorf Marciac in der französischen Provinz geboren. Mit sechzehn geht er, ohne Schulabschluss, nach Paris. Verdient sein Geld als Gigolo, wird der Liebhaber von Roland Barthes. Er nimmt Schauspielunterricht, lernt André Téchiné kennen, für den er später zwei Drehbücher schreibt. In Filmen von Claire Denis, mit der er befreundet ist, spielt er kleinere Rollen, auch bei Téchiné. 1986 sein erster Kurzfilm, MANÈGE. Eindrucksvoll ist LE CAFÉ DES JULES (Buch: Nolot, Regie: Paul Vecchiali, 1989), der komplett in einem Café spielt, in dem nach belanglosem Geplänkel die Dinge zu eskalieren beginnen. Preise und Ruhm gibt es dann für die bisher drei Langfilme, die in Nebenreihen in Cannes und Venedig zu sehen waren.