16. Juli 2019
Vielfalt erforschen Zum Programm «NRW persönlich» der 65. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen
Man kann ja so ziemlich alles beforschen. Beton zum Beispiel. Und ganz gleich, welcher Gegenstand gewählt wird, stets ist klar, er strotzt vor Geheimnissen und Überraschungen. Wer denkt, Betonobjekte seien klassifikatorisch schlichter als etwa Insekten, wird in dem etwa anderthalb minütigen Kurzfilm Vielfalt erforschen von Rainer Knepperges und Kathrin Leuthe schnell eines Besseren belehrt: «Auf der Erde existieren derzeit 100 Millionen Arten dekorativer Betonobjekte. Bekannt und erfasst sind aber nur etwa 1,8 Millionen. Der Baustoff Beton verschwindet. Er wird ersetzt durch Glas und Holz. Noch empfinden wir dieses Verschwinden nicht als Verlust. Menschen, die im Beton leben, haben es sich zur Gewohnheit gemacht, Beton zu bemalen. Menschen machen sich ihre Welt schöner. Tiere können das nicht.» Das männliche Voice-Over erinnert an Kommentatoren in Dokumentarfilmen, es klingt eigenartig stilisiert, mit seiner ungewöhnlich monotonen Intonation. Trotz des gleichmäßigen Flusses der Worte und ihrer präzisen Artikulation nimmt man den lakonisch gesprochenen Knepperges-Kommentar jedoch nicht nur als bloße Information.
In Vielfalt erforschen geschieht Tolles im Verhältnis zwischen Ton und Bild. Die meist starren Aufnahmen dokumentierten die manchmal nützlichen, oftmals aber völlig sinnfreien, gar absurden Objekte, machen visuell verschiedene Typen aus und zeigen – sehr unterhaltsam – den Widerstand, der dem brutalistischen Baumaterial durch bemalende Aneignung oder Aufhübschung entgegengebracht wird. Die im Film benannte anthropologische Differenz scheint nicht immer von ästhetischem Nutzen für den Menschen zu sein. Zwischen der nüchternen Diktion des Kommentars und bizarren Betonobjekten erschließt der Film eine unerschöpfliche Artenvielfalt des Stadtmobiliars: von schneckenhaften Spiralgebilden in grauem Sand über kopflose Betonschildkröten auf gepflasterten Plätzen bis hin zu einer großen Betonmauer, die mit einem riesigen, freundlich schmunzelnden Marienkäfer verziert wurde. Mittels eines Bildbearbeitungsprogramms wurden die einzelnen Betonraritäten aus ihrer Umgebung gelöst und zu einer pixelhaften Silhouette in Schwarzweiß mit poröser Oberflächenstruktur abstrahiert.
Momenthaft erinnert die Betonrecherche von Rainer Knepperges und Kathrin Leuthe an die «Pollerforschung» von Helmut Höge, denn Vielfalt erforschen zeigt nicht nur außerordentlich wundersame Exemplare dekorativer Betonobjekte. Wie beim Phänomen der Poller scheinen diese im Alltag eine leicht zu übersehende Stadtmöblierung und bei deren Gestaltung ersinnen die Menschen unwahrscheinliche Formen und Farben. Man hat eine Menge Freude an der verschmitzten Alltagsphänomenologie: Offenkundig geht es bei den Erkundungszüge auch um ein menschliches Begehren, Dinge zu klassifizieren und in spezifische Gruppen einzuteilen.
Vielfalt erforschen könnte Ausgangsmaterial für weitere Stadtbeobachtungen sein und taugt als ein Motto nicht nur für den Film, sondern auch für die 65. Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen. Insgesamt liefen über 600 Filme: Neben den (inter)nationalen Wettbewerben zu Kurzfilmen gab es Themenprogramme (etwa zu Filmtrailern der klassischen Hollywood-Ära, allesamt auf Zelluloid präsentiert), Vorführungen von Archiven und Verleihen, Podiumsdiskussionen, Masterclasses, Vorträge und einzelnen Filmemacher*innen gewidmete Profile (zu Kiri Dalena, Kayako Oki, Alexander Sokurow und Eva Stefani) – letzte trugen eine stärkere Kurator*innensignatur als die wildwüchsigen Wettbewerbssektionen. Unter den kuratierten Programmen des Festivals war «NRW persönlich» wohl mein liebstes.
Für den Auftakt dieser neuen Reihe bekam Filmemacher, Darsteller (aktuell als Kunstsammler in Klaus Lemkes Neue Götter in der Maxvorstadt) und (Bild-Essay)-Autor Rainer Knepperges eine Carte Blanche und gestaltete ein Kinoprogramm voller großartiger Miniaturen, das nicht nur eigene Arbeiten umfasste: So begeistert der DIY-Charme des 13-jährigen Amateurfilmemachers Robert Führer, der 1978 einen sensationellen Actionfilm Autojagd mit Spielzeugautos, rasanten Schnitten und aufbrausenden Sound Found Footage drehte. Diese Vorliebe für Genrefilme verdeutlicht Knepperges eigener zusammen mit Christian Mrasek gedrehter Kurzwestern Das nasse Grab der Grenzbanditen – Pulverdampf ist kein Parfum von 1998.
Fritz Illings Dokumentarfilm Sie heirateten in Gretna Green hingegen ist eine kleine Großstadtgeschichte aus dem Jahr 1964 über ein West-Berliner Paar, über ihre rührenden Lebensanstrengungen und aufstiegsorientierten Wirtschaftswunderwünsche. Mit Neugier für alltägliche Dinge folgt der Schwarzweißfilm ihnen bei ihren diversen Erwerbstätigkeiten und Freizeitvergnügungen – eingebettet in die große Wirklichkeit einer Stadt. Leise Bitterkeit klingt in den bestürzend offenherzigen Voice-Overs an, dass Sehnsüchte der Menschen flüchtig sind und ihre Beziehungen von bedenklicher Haltbarkeit. Die mit Musik rhythmisierte Großstadtsymphonie konturiert soziale Lebenswirklichkeiten im Kleinbürgermilieu und vermittelt dabei eine prekäre Poesie.
Eine weitere Alltagsminiatur Oss Oss Wee Oss! (1953) von Musikethnologen Alan Lomax erfasst Stimmungen und Sinnlichkeiten eines einzigartigen, dionysisch frohen Maibrauchs in Padstow, einer kleinen Hafenstadt an der Nordküste Cornwalls: Zwei Steckenpferde oder Osses tanzen von Trommeln, Akkordeons und Gesängen begleitet durch die mit bunten Blumen und Girlanden geschmückten Straßen der Stadt – eine farbenfrohe Prozession mit eigenwillig tanzenden Männer. Anstelle dieses mit Tänzen und Trommeln zelebrierten Heidenspaß tritt in Franz Müllers Leichtmatrosen (2010) kompetitive Konkurrenz: Als Darsteller tanzt Knepperges vor der Kamera – einen Tanz, den er zuvor mit «Stein gewordenes Hamsterrad der Einsamkeit» betitelt. Zu dem schönen Song der Band Masagan posiert und probiert Knepperges als Leichtmatrose tolle Tanzbewegungen, um eine Frauenjury zu beeindrucken. Bewegungen verflüssigen sich, geraten in Fahrt, erstarren – auf einer Terrasse, in Marrakesch, zu Rhythmen marokkanischer Musik.
Auf höchst amüsante Art wird in Tour Eifel (2000) dysfunktionale Kommunikation freigelegt: Der Film von Knepperges und Mrasek beginnt mit einer Autofahrt aufs Land, durch die verschmutze Windschutzscheibe blitzt die Sonne, auf der Tonspur erklingt beschwingte Jazzmusik. Dann folgt ein abrupter Wechsel. Das entnervte Gesicht eines Mannes erscheint und erklärt: «Halt! Das ist mir jetzt wirklich zu durcheinander.» In ruhigen, fast stoisch anmutenden Schwenks zeigt die Kamera vier Männer (später auch noch eine Frau), die im Freien auf Bänken hocken, um ein klärendes Gespräche zu führen. Doch es löst sich nichts. Vielmehr wird alles nur verworrener. Um welche Inhalte es geht, bleibt gänzlich unklar. Die Männer reden aneinander vorbei, machen sich gegenseitig Vorwürfe, beschweigen sich passiv-aggressiv. Am Ende sind alle genervt, frustriert, beleidigt.
Geradezu enzyklopädisch geht es in Tour Eifel um Kommunikation, ihre Irrwege und Störungen: von Du-Botschaften, Pauschalisierungen und Generalisierungen über subtile Anspielungen, verdeckte Abwertungen und Übertreibungen bis hin zu Psychologisierungen. «Der Rolf sagt nämlich deshalb nichts, weil er genau das denkt, was ich sage.» Auch nonverbal hat der Film einiges an wenig wertschätzender Kommunikation zu bieten: erhobene Zeigefinger und runzelige Stirnfalten, laut erhobene Stimmen, trotzig verschränkte Arme und demonstrativ verweigerte Blickkontakte. Die tollen Dialogen wirken gleichzeitig wirklichkeitsgebunden und kunstvoll, aber nie gekünstelt. Die Redewendungen sind tatsächlich bei Improvisationen dem Mund abgeschaut und wurden dann fürs Drehbuch verdichtet. Tour Eifel war auch ein finanzieller Erfolg, da er billig auf Video gedreht wurde.
Knepperges plädiert beim Filmemachen für das Prinzip produktiven Scheiterns: Es wäre sicherlich ein Fehler, die beim Dreh gemachten Fehler zu korrigieren. Technische Experimentierfreude, Liebe zum Genre-Kino, ein Hang zum Dokumentarischen, rührende Alltagsgeschichten und eine humorvolle Leichtigkeit machen die besondere Mischung seines Programms aus. Die Auswahl der Filme zeigt vor allem eines: eine offene Auffassung von Kurz- und Kürzestfilmen – erhellend, erheiternd und ans Herz gehend.