5. September 2011
Venedig 2011
Gegen Mitte des Festivals endlich der erste Film. Endlich einer, nach einem Dutzend Wettbewerbsfilme auf dem venezianischen Lido, der sich auf seine spezifischen Mittel verlässt, von Bildern und Tönen her entfaltet, nicht auf ein Theaterstück oder eine Romanvorlage verweist und aus diesen seinen flotten Plot mit hochkarätiger Besetzung bezieht. Wie bei George Clooney oder Roman Polanski oder Tomas Alfredson, die literarisch Bewährtes in raffiniert montierte, dialoglastige und ausstattungsreiche Filmerzählungen übertragen und, nach den Sternchen in den Kritikerspiegeln zu urteilen, das Festival mit Paukenschlägen auf angemessenes Niveau katapultieren. Clooney passt sich als Präsidentschaftskandidat mit The Ides of March in cäsarische Vorlagen ein, Alfredson liefert in Tinker, Tailor, Soldier, Spy ein verhaltenes Kalte-Kriegs-Spiel in grau-brauner Tönung und Anlehnung an John Le Carré. Zusammen mit Steven Soderbergh und David Cronenberg treten sie mit hohem Unterhaltungsanspruch gegeneinander an, um bekannte Theaterdramaturgien mit neuen Aktualitätsmarkern zu füllen. Clooney und Soderbergh liegen Kopf an Kopf, was cooles Setting, flüssige Montage, Suspense und Staraufkommen betrifft. Kate Winslet ist gleich dreimal am Lido zu sehen, Madonna nur einmal, dafür in einem von roten Schmetterlingen überflogenen Kleid. Clooney gibt keine Interviews, Polanski reist nicht an, Soderbergh will in Zukunft lieber Maler werden. Die Plots: Schacher um politische Loyalität, Spionageaffären, Virusepidemie, dazwischen psychologische Kriegsführung zwischen Elternpaaren ob der devianten Brut.
Danach endlich ein Film. Ein künstlerischer Film, in dem ungezügeltes Schauen der Hauptfaktor ist. Aus ihm, seinem insistenten, körperlichen Hineinblicken in diese Welt drängt ein Begehren heraus, das Handlungen und Handgriffe, Verkettungen und Verhängnisse erzwingt, Filmbilder verunklart, den Aufreizungen, Vibrationen und verzweifelten Versuchen ihrer Überwindung seine Deutlichkeit und Überschaubarkeit zum Opfer bringt. Das filmische Drama: der unstillbare Griff nach dem sinnlich Verlockenden. Es ist erkennbar das Drama des Filmemachens selbst, das, von Schau- und Hörlust gespeist, nach immer mehr Sehen und Hören und Mehr-Lust verlangt. Das Filmfest selbst lebt von diesem unstillbaren Bilder- und Töneverzehr.
Die Rede ist von Steve McQueens britischem Wettbewerbsbeitrag Shame. Nur einem ehemaligen Videokünstler scheint es noch unabdingbar, nach Art seines früheren Films Hunger selbst bei politischem Anspruch langsam von Einstellung zu Einstellung zu denken und den Zuschauer durch eine Galerie selbstständiger, nach farblichen und grafischen Kriterien komponierter Fotografien zu schicken. Diesmal enthält der Film keine realpolitische Anklage, sondern entfaltet zwischen den sich gleichenden ersten und letzten Sequenzen des Films die sexuelle Gier eines Mittdreißigers (Michael Fassbender), der mit seinen Blicken nicht nur seine weiblichen Gegenüber in der New Yorker Subway verunsichert, sondern sich Frauen auf alle erdenklichen Weisen vor die Augen und in die Hände spielt - und für seine Performanz der Gier zu Recht mit dem Goldenen Löwen geehrt worden ist.
Ein Großteil des Films besteht aus Sexszenen, in denen man den Protagonisten sich an und zwischen weiblichen Körpern ausagieren sieht – in sich steigernder Motorik und intensivierendem Rhythmus. Darüber verunschärft sich das bildlich Figurierte wie auf den Gemälden von Gerhard Richter, wird zu abstrakten Figurationen von Aufbäumen und Zusammenfall. Und läuft gegen die rationalisierte Lebenswelt des Triebtäters an, die in ausgesucht arrangierten Einstellungen zu sehen gegeben wird: Nicht unähnlich dem Protagonisten in Mary Harrons Verfilmung von American Psycho arbeitet er in einem durchgestylten Hochhausbüro mit Draufsicht auf Manhattan, gibt sich professionell gefühlskalt, nach außen unauffällig und vertritt eine Philosophie der Bindungslosigkeit, bis er mit dieser demonstrativen Winner-Haltung die eigene Schwester (Carey Mulligan) in einen Selbstmordversuch treibt. Plötzlich schockiert, holt er sie ins Leben zurück; bei einem ihrer Auftritte als Sängerin scheint schon früher eine Regung in ihm auf. Dennoch lässt die letzte Sequenz als Variation der ersten erahnen, dass sich nichts wirklich geändert hat. Die obsessive Suche wird bleiben samt dem mit Sexspielen zugemüllten Computer, über den sich sein Chef beschwert - zu unseren Gunsten, da McQueens Schaulust jedes einzelne seiner Bilder auf künstlerische Singularität überprüft.
An diesen Anspruch kommt als erster Todd Solondz mit seinen ironischen Bild-Ton-Diskrepanzen heran, aus deren Reibung sich der Charakter des Losers Dark Horse (Justin Bartha) herausschält, dessen naiver Versuch der Glückserzwingung im Kammerspiel mit Christopher Walken, Mia Farrow und Selma Blair zu einem filmischen Kleinod gerät. Und dann ist da Andrea Arnolds Spielfilm Wuthering Heights, der trotz Anleihe bei Emily Brontes Roman erneut die triebhafte Unterseite der Bilder erahnen lässt. Landschaft und Leidenschaft, fortgesetzte Schläge und Erniedrigungen der Hauptfigur Heathcliff verdicken sich zu mehrdeutigen Affektbildern, für die Robbie Ryan berechtigt ausgezeichnet worden ist. Denn sie laden den Film mit Rachegelüsten auf, die aber in erneut stilisierten, an Landschaftsmalerei angelehnten und langsam vorbeidefilierenden Bildern zerdehnt und schaulustfördernd gezügelt werden.
Und schließlich ist da eine zum Film gewordene Synkope, der israelische Wettbewerbsbeitrag Hahithalfut/The Exchange von Elan Kolirin. Dank einer nur minimalen Irritation im Alltagsgeschehen wird dem Protagonisten (Rotem Keinan) die vertraute Welt unbekannt; in seinem Dauerstaunen möchte er nach Art von Bartleby sein gewohntes Leben lieber nicht weiterführen, wirft Handy und Handtasche weg, unternimmt mit einem Nachbarn eine Expedition in den Keller des eigenen Hauses, entgleitet seiner Frau als zurechnungsfähiger Partner und probiert gelegentlich an Nachbarn kunstnahe Interventionen aus. Zum Missfallen eines Großteils des Publikums verwandelt sich darüber der Film in eine komisch bizarre, handlungsarme, von absurden Einfällen zu gestischen Erprobungen stolpernde Zeitbildlichkeit.
Auch Soderbergh möchte sich in Contagion stärker als früher der bildenden Kunst annähern, weshalb er den image flow seines Film mit ruhigen pseudodokumentarischen Einstellungen auf leere Flughäfen oder verwüstete Geschäfte interpunktiert. Und doch folgt sein vorwärtsdrängender Thriller, dynamisch wie die thematisierte Virusepidemie, zugleich clean und düster wie deren Ausbreitung, zahlreichen formalen und inhaltlichen Klischees: zum Beispiel jenem vom Virusherd im kleinen chinesischen Dorf, wo Fledermäuse das Virus auf Bananen und von dort in die ganze Welt übertragen, mit pathetischem Vorblick auf den Genozid dieses Dorfs. Reisende von Hongkong nach Chicago tragen es in die USA und sterben wie eine der Überbringerinnen (Gwyneth Paltrow) gleich in den ersten Filmminuten samt Kleinkind, woraufhin Ehemann (Matt Damon) samt zweitem Kind zum privilegierten wissenschaftlichen Untersuchungsobjekt wird. Wie immer wird die Katastrophe von der Kleinfamilie her erzählt. Wie immer geht es um Familienangehörige, die alle Familien der USA und des Weltrests repräsentieren; wie immer ist der Präsident mit von der Partie, seine Sicherheitspolitik ebenso wie deren unzulängliche Aufklärung.
In Gestalt von Jude Law tritt der notwendige Gegenspieler auf den Plan, der auf seinem Blog vermeintliche Gegenmittel anpreist und einen bundesweiten Run auf diese Medikamente samt Plünderung und Notstand auslöst. Die Deadline-Dramaturgie wird noch unterfüttert durch den Wettlauf um die Aufbereitung des Impfstoffs, den eine heldenhafte Medizinerin an sich selbst ausprobiert, während eine andere Wissenschaftlerin von den Angehörigen des bedrohten chinesischen Dorfes gefangen gehalten und erst gegen ein Antiserum freigelassen wird; als sie erfährt, dass die Urwäldler nur Placebos bekommen haben, wendet sie sich empört von ihrem US-Befreier ab... Alle Bilder müssen dem Affekt der drohenden Ansteckung dienen, die hier sichtbarlich auch eine des unaufhaltsamen Bilderflusses ist.
Die Spuren einer Katastrophe zeichnet auch der Regisseur Jonathan Demme, allerdings dokumentarisch, nach, wenn er eine US-Bürgerin und Einzelkämpferin porträtiert: Carolyn Parker: The Good, The Mad and the Beautiful. Nach der Verwüstung durch den Wirbelsturm Katrina engagiert sich die schwarze Menschenrechtskämpferin für einen vernachlässigten Stadtteil von New Orleans, kehrt als erste zurück, klagt an, packt zu und ironisiert die eigene Situation. Demme lässt sie vom Tod von Nahestehenden berichten, von der Ungerechtigkeit der Geldvergabe an bessere und andere Stadtteile, vom Leben der Schwarzen und ihrem gospelgestützten Zusammenhalt. Demmes improvisierte Hommage unterstreicht zwar empathisch ihren verrückt-schön-guten Einzelkampf, verleiht ihm aber nicht ausreichend formales Gewicht.
Die westliche Welt und ihre Randzonen: neben der rhetorisch gewandten New Yorker Bürgerlichkeit von Polanskis Carnage nach Yasmina Rezas Theaterstück Der Gott des Gemetzels und der ausstattungsgesättigten englischen Adelswelt bei Madonna, die mit W.E. das narrative Anschlussstück an The King’s Speech liefert, tut sich bei diesem Filmfest eine unbekannte Welt vorzugsweise in den asiatischen Tropen auf. Der Konzeptkünstler Rirkrit Tiravanija, dafür bekannt, dass er Essenseinladungen als Kunstevents inszeniert, lässt seinen thailändischen Film Lung Neaw Visits his Neighbours mit Essensgeschenken eines alten Mannes an buddhistische Mönche beginnen. Das Thema Essen zieht sich leitmotivisch durch den gesamten Film, da die meisten Alltagsgesten wie Blütensammeln, Reissetzen, Fegen, Feuermachen mit ihm verbunden sind. Das Paradies, das Tiravanija hier ins Bild setzen möchte und in dem der selbstgenügsame Mann angekommen sein soll, dieses Gegenmodell zur westlichen Nicht-Nur-Bildersucht - es entsteht auch hier aufgrund der improvisierten Dokumentarfilmästhetik eher nicht.
Dagegen erwächst aus den genau beobachteten Alltagsgesten von Tao Jie/A Simple Life der Hongkong-Regisseurin Ann Hui ein den westlichen Verhältnissen sehr verwandtes und doch im Konkreten unterschiedenes Stimmungsbild von Leben alternder Chinesen in den entsprechenden Heimen. Wenn auch kein Paradies, so wird hier doch die liebevolle Pflege und Begleitung einer infarktgeschädigten Hausangestellten (Deanie Yip, als beste Schauspielerin geehrt) durch ihren Ziehsohn (Andy Lau) vorgeführt, dessen ansonsten hektisches Leben als Filmproduzent das stillgestellte Überleben der Senioren noch schärfer hervortreten lässt. In den beiden Extremen, zwischen Geburt und Tod, entwirft Ann Hui eine detailreich verhaltene Skizze menschlicher Existenz. Damit bildet er auch einen Kontrapunkt zum beeindruckenden Höllentrip des chinesischen Films People Mountain People Sea von Cai Shangjun, der den persönliche Rachfeldzug eines Arbeiters als Abstieg in immer tiefere soziale Schichten bis zu illegalen Bergwerken vorführt und dafür mit dem Regiepreis ausgezeichnet worden ist.
Schließlich begibt sich David Cronenberg in eine andere abgründige Landschaft: jene des menschlichen Unbewussten. Er führt dessen Entdecker Carl Gustav Jung (erneut: Michael Fassbender) und Sigmund Freud (Viggo Mortensen) als durch die Patientin und spätere Psychoanalytikerin Sabina Spielrein (Keira Knightley) zusammengehaltene «intellektuelle ménage à trois» vor. Allerdings verhilft sein Vorhaben, A Dangerous Method in den von Spielrein verkörperten und stimulierten Begehrens- und Libidoäußerungen plastisch werden zu lassen, nicht wie bei McQueen oder Arnold dazu, den Filmstil selbst ins Abgründige zu treiben. Auch die thematisch beschworene Ambivalenz scheint realistische Rekonstruktionen und rumpelkammerhafte Ausstattungen samt Zigarre nicht zu verbieten. Der Film erschöpft sich trotz der beschworenen kopernikanischen Wende Freuds in hollywoodnahen Dualismen von bürgerlicher Familie und leidenschaftlicher Eskapade, von Berufsethos und berufsbedingter Neulanderkundung – und riskiert selbst keine themenentsprechende Formerfindung à la früherer Filme von Cronenberg.
Auch wenn das Filmfestival der anderen Ästhetik, der filmischen Neulandsuche, in der Orizzonti-Reihe ausdrücklich einen gleichwertigen Rang neben den Großspielfilmen zuerkennen möchte, so stellen sich revolutionierende Ausdrucksformen nicht schon durch die Aufnahme in diese Reihe ein. Eine weitere Psychopsychoanalyse, diesmal des Gerichtspräsidenten Daniel Paul Schreber unter dem Titel Shock Head Soul von Simon Pummell, steigt den «Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken» in abwegig allegorischer Umsetzung nach. Während Sabina Spielrein bei Cronenberg durch ununterbrochenes Grimassieren auf ihre psychische Verstörung und ihre Lust am Geschlagenwerden aufmerksam macht, soll sich die Verstörung von Schreber aus pseudodokumentarischen Zeitzeugenaussagen und eigenen Texten erhellen. Das Neue an Schrebers Selbstdiagnose, seine kategoriale Umdeutung der Schizophrenie und deren Auflösung in einen Prozess wird freilich ebensowenig wie bei Cronenberg in einen selbstreflexiven Filmstil übersetzt. Schrebers Obsession eines Frau-Werdens bringt die hübschen flachen Zeichnungen vom Dresdner Gerichtsgebäude, in das die Zeitzeugen als Figürchen eingesteckt werden, nicht ins Gleiten; seltsame technische Gebilde sollen den Wahn modellieren, anstatt dass sich das filmische Erzählen von den berichteten Wahnvorstellungen an den Rand der Darstellbarkeit treiben lässt.
Die Orizzonti-Jurymitglieder unter Vorsitz des chinesischen Regisseurs Jia Zhangke beschwören die erfinderische Kraft der neuen Medien und rufen zur Entstandardisierung des filmischen Erzählens auf. Die ägyptische Produzentin Marianne Khoury erhofft sich von den nordafrikanischen Umstürzen die Entwicklung neuer Filmgenres. Auch eine Retrospektive veranstaltet die Orizzonti-Reihe mit Filmexperimenten aus den 60er und 70er Jahren, zu denen Verfilmungen der Theaterinszenierungen von Camelo Bene gehören. Programmatisch weist sie eine hohe Heterogenität auf: In ihr finden sich ebenso das schön melancholische Filmkomposit Meteor von Matthias Müller und Christoph Girardet wie Mary Harrons The Moth Diaries, eine Variante des Collegehorrors mit blutrünstigen Jungmädchenträumen. Michael Glawoggers Dokumentation Whores' Glory vergleicht distanziert exotische Sexökonomien, die die Orizzonti-Jury mit ihrem Spezialpreis bedacht hat. Ross McElwee vervollständigt sein subjektives Photographic Memory im Hinblick auf sein Verhältnis zum Sohn; Yervant Giankian und Angela Ricci Lucchi bringen in Notes sur nos voyages en Russie 1989-90 die letzten Überlebenden der frühen Sowjetunion zu Gehör; Romuald Karmakar liefert eine grelle Studie über die Hysterie im Marktflecken «Marktl» anlässlich der Wahl seines Bürgers Ratzinger zum Papst; Oscar Perez und Maria del Mar de Ribot dokumentieren formstreng und humorvoll die auch filmhistorisch kuriose Tatsache, dass in den Hollywoodstudios der 30er Jahre zahlreiche Spielfilme quasi zeitgleich in spanischer Sprache und mit spanischen Schauspielern nachgedreht worden sind; Edgardo Cozarinsky mythisiert das argentinische Nachtleben von Buenos Aires mit süffigen Kamerafahrten über Musik.
Spätestens jetzt ist man für die ästhetische Variationsbreite und kompensatorische Kraft des Festivals dankbar, das zuletzt die freie Faust-Adaption von Aleksander Sokurov auszeichnet, den vierten Teil seiner Tetralogie über «große Spieler», ganz Goethes Textvorlage verpflichtet und doch ein musikalischer Bilderstrom. Für den Juryvorsitzenden Darren Aronofsky verfügt dieses Opus über die Qualität, «das Leben zu verändern». Nicht mehr und nicht weniger verlangen wir vom Film.