8. September 2019
Dolce vita seriosa Notizen zur Film- und Kunst-Biennale 2019 in Venedig
Ihre Einladung zu einem sorgenfreien Dolce Vita, trotz politischer Desaster und aktueller Finanznöte, hat sich die Venedig-Filmbiennale über Jahrzehnte nicht nehmen lassen; noch heute spannt sie der Orizzonti-Reihe einen schwarz-weißen Erinnerungsstreifen, starring Anita Ekberg, vor. Und doch sollen Federico Fellini und Giulietta Masina, die human-humorvollen Eltern des in die Jahre gekommenen Festivals – immerhin die 76. Ausgabe! – an die Mischung aus verspielter Ästhetik, Seriosität und Glamour erinnern, die das Festival seit den 60er Jahren mit der von Cannes beanspruchten Führungsposition konkurrieren lässt. Angesichts der johlenden Groupies am roten Teppichrand, unter Regenschirmen stundenlang der Weltstars harrend, die nur kurz mit dem Hubschrauber zwischenlanden, stellt sich diese Atmosphäre traditionsbewusster Gediegenheit allerdings kaum mehr ein. Melodramatisches Gehabe mit nepotistisch geförderter Filmauswahl haftet der Film-Biennale schon länger als Vorwurf an.
Die Kunst-Biennale dagegen wird im Prinzip als seriöses, von den besten Kuratoren zusammengestelltes Großereignis wahrgenommen, dem allenfalls, wie unter der Leitung von Okwui Enwezor, attestiert wurde, zu ausladend, politkulturell zu ansprüchig, dafür kuratorisch zu wenig formbewusst gewesen zu sein. Heute nähert sich die Zahl der über die Stadt verteilten Nationalpavillons der 50er Grenze; kaum jemand wird den Parcours aller Pavillons absolvieren, sind doch die Giardini und Arsenale schon Strapaze in Sachen unverbildeten Schauens genug.
In diesem Jahr allerdings scheint es tendenziell umgekehrt zu sein. Die Film-Biennale gibt sich in der Auswahl der Wettbewerbsfilme und insbesondere der Orizzonti-Wettbewerbs-Reihe problemorientiert wiedererweckt. Die Programmplanung lässt erkennen, dass es weniger um Filmspektakel als um das Anliegen geht, respektable ästhetische Antworten aus verschiedensten Ländern auf zeitgenössische Problemlagen zu liefern. Nicht nur lässt die argentinische Jurypräsidentin Lucrecia Martel zwar Roman Polanskis Spielfilm J’accuse im Wettbewerb laufen, den Schöpfer des Opus wünscht sie indes nicht am Lido zu sehen. Die Crew dieses von den Kritikern hochgeschätzten Dramas, das den Kampf um die Rehabilitierung von Alfred Dreyfus aus der Sicht von Nachrichtendienst und Militär theaternah und mit viel Getöse in Szene setzt, feiert ihren Triumph ohne den Regisseur. Der Verdacht kommt auf, dass J’accuse auch ein Plädoyer in eigener Sache ist. Als journalistische Polemik von Emile Zola wird die Anklage affizierungsträchtig filmmittig platziert und bewegt – auch am Großen-Jury-Preis ersichtlich – das Zuschauerherz.
Weitere filmische Anklagen folgen auf dem Fuß. Steven Soderbergh inszeniert in The Laundromat aktualitätsbewusst ein Aufklärungspamphlet gegen die Cum-Ex-Finanzgeschäfte, wobei Meryl Streep eine ältere Dame gibt, die sich um eine Versicherungspolice und eine Immobilie betrogen sieht, woraufhin sie ihrerseits einen beherzten Feldzug beginnt und zur Anklägerin der anonymen Briefkastenfirmen wird. Die Ästhetik des Films ähnelt dabei selbst den Werbebroschüren von Fondsanbietern in ihren graphik-designten Einstellungen und ihren Beschwörungsformeln – nach 10 Minuten schon vergessen, sagt ein Kritikerkollege dazu.
Olivier Assayas stellt sich erstmals als hollywoodkompatibler Filmemacher mit der kämpferisch-lauten Story Wasp Network um Exilkubaner in Miami vor, die helfen sollen, antikommunistische Kubaner zu bekämpfen. Dass sie sich in ihrer Zusammenarbeit mit dem FBI letztlich selbst ausliefern, haben sie nicht bedacht. Zur Serie der Anklagefilme gesellt sich schließlich Costa-Gavras politischer Beitrag Adults in the Room: In ihm wird die Austerity-Politik der EU-Troika gegenüber Griechenland ab dem Wahlsieg der Syriza-Partei 2013 aus der Sicht von Yanis Varoufakis, als Drama, nachinszeniert, wobei dieser zu einem unerschrockenen, hartnäckigen und doch scheiternden Bittsteller avanciert. Die politischen Akteure, u.a. Schäuble und Juncker, werden typisierend nachgespielt, Christine Lagarde fällt durch eine vergleichsweise überlegte und weniger dogmatische Haltung auf.
Figuren, die auf der Meryl Streep-Seite stehen und mit Achille Mbembe zu den Überflüssigen der Menschheit gezählt werden könnten, zu jenen, die notorisch das Nachsehen haben und daher der Filmkamera als Anklägerin bedürfen, kommen aus unterschiedlichen Weltgegenden: Von der Revolte südafrikanischer Schwarzer, die nicht nur in Bergwerken verunglücken, sondern die Gräber ihrer Ahnen in den Fluten eines Staudamms untergehen sehen, wie in dem bedächtig inszenierten «College-Film» This is not a Burial, it‘s a Resurrection des Südafrikaners Lemohang Jeremiah Mosese, hin zu tibetanischen Schafhirten im ästhetisch ansprechenden Orizzonti-Beitrag Qiqiu (Ballon) von Pema Tsedenoder, zu französischen Bauern in dem Spielfilm Revenir von Jessica Palud – in guter Dumont-Tradition zieht sich eine insistente Anklagedramaturgie. Während im tibetanischen Umfeld der unlösbare Konflikt zwischen moderner Familienplanung und traditionellem Reinkarnationsglauben am Körper der Frau ausgespielt wird, bringt das Kreditwesen der Banken im europäischen Kontext naturalistisch weiteres Unglück über die bereits in sich zerfallene Familie.
In dem tunesisch-marokkanischen Spielfilm Les epouvantails von Nuri Bouzid macht eine junge Frau eine Vergewaltigung öffentlich, woraufhin sie auf Facebook für «tot» erklärt und ebenso wie ihre Anwältin verfolgt, geschlagen, geächtet wird. In dem saudiarabischen Wettbewerbsbeitrag The Perfect Candidate der Regisseurin Haifaa Al Mansour darf eine selbstbewusste Ärztin für eine asphaltierte Zufahrt zum Wüstenkrankenhaus kämpfen und sich mit eben diesem Anliegen zur Wahl stellen, um sodann verspottet – und nicht gewählt zu werden. Allerdings sind Frauen wiederholt unverschleiert zu sehen – vermutlich schon das eine kulturelle Provokation. Der libanesische Settimana-delle-critica-Beitrag Jeedar El Sot von Ahmad Ghossein zeigt seinerseits eine Frau in Nöten, als sie sich mit anderen Libanesen während eines israelischen Bombenangriffs in einem Wohnhaus verschanzt vorfindet, dessen Obergeschoß von israelischen Militärs besetzt wird. Gemeinsam mit ihren Landsleuten muss sie sich unwahrnehmbar machen, kann jedoch vor diesen ihre Intimverrichtungen nicht verbergen – was zu einem psychologisch differenzierten Kammerspiel Anlass gibt. Der Animationsfilm Bombay Rose Gitanjali Rao wiederum schildert Konflikte aus dem Blick eines heranwachsenden Mädchens in einer indischen Großstadt, polizeiliche Verfolgung von Kinderarbeit, Hindu-Moslem-Kontroversen, Armut, bitteren Überlebenskampf.
Kinder geben überhaupt immer häufiger die Drehmomente wagemutiger Dramaturgien ab: So in Pelikanblut der deutschen Regisseurin Katrin Gebbe, in der ein adoptiertes rumänisches Mädchen das Leben ihrer Stiefmutter, großartig verkörpert von Nina Hoss, auf einer Pferdefarm durcheinander bringt und in eigenwillige Phantasiewelten entgleiten lässt. In dem – preiswürdigen – tunesischen Orizzonti-Beitrag Bik Eneich von Medhi M. Barsaoui wird die Verletzung eines Kindes, bei einer Autofahrt durch einen Schuss marodierender Truppen getroffen, Anlass zu dramatischem Suspens: Bei der Suche nach einem Organspender für das Kind wird klar, dass der amtliche Vater nicht der biologische ist. Diese Enthüllung hat zwangsläufig weitere Probleme, Geständnisse und Drohungen, Verweise auf die Rechtslage und kriminelle Vorgänge zur Folge. Nicht nur entzweit sich das Ehepaar, der amtliche Vater sieht sich ungewollt mit Organschmuggel schwarzer Kinder konfrontiert. Als sich der biologische Vater schließlich zur Organspende bereit findet, ist das familiäre Vertrauen dahin, nicht zuletzt aufgrund der kulturell auferlegten Schweigepflicht.
Ganz anders in dem äußerst beredeten Scheidungsdrama US-amerikanischer Herkunft, Marriage Story von Noah Baumbach im Wettbewerb, in dem sich wie gewohnt äußerst eloquente Schauspieler_innen in verbalem Schlagabtausch samt Advokat_innen gegenüberstehen – eine filmische Ausnahme bei diesem Festival neben der weiteren Ausnahme des Eröffnungsfilms Vérité von Kore-eda Hirokazu. In ihm stehen sich die französischen Diven Cathérine Deneuve und Juliette Binoche in einem ebenfalls wortreichen, wenn auch deutlich verhalteneren Mutter-Tocher-Konflikt gegenüber, der zugleich einer zwischen selbstgefälliger Schauspielerin und nachdenklicher Dramaturgin während der Dreharbeiten zur Autobiographie der Schauspielerin-Mutter ist. Wie zu erwarten, ergibt sich aus dieser Doppelung ein feines, zwischen den diegetischen Ebenen hin- und herwechselndes Psychodrama, das allerdings zuletzt als bloße Fingerfertigkeit zu verpuffen droht. In der Pressekonferenz wird denn auch nur nach der schauspielerischen Zusammenarbeit zwischen den Diven gefragt. Deneuve lehnt entschieden jede Ähnlichkeit mit ihrer Protagonistin ab.
Den goldenen Löwen dagegen erhält eine zwiespältige Charakterstudie von Todd Philipps um eine traumatisierte männliche Figur, den sogenannten Joker, der in dem facettenreichen Spiel von Jaoquin Phoenix seine dunklen Seiten immer stärker zum Tragen bringt, auch weil er Zustimmung für die Ermordung u.a. von Oberschichtskindern erhält – und als solcher zum späteren Widersacher von Batman wird.
Im Vergleich zu diesem kinematografischen Großaufgebot an sozialer Sensibilisierung und politischer Aufrüttelung durch Werke wenig bekannter Filmmacher_innen wirkt die Kunst-Biennale affektiv verhalten und in den ausgestellten Kunstpositionen repetitiv bekannt. Unter postkolonialem Vorzeichen wird den zahlreichen Kunstpositionen aus afrikanischen oder asiatischen Ländern ihre ästhetische Querstrebigkeit geraubt. Man sehe sich nur den ghanaischen Pavillon an: Hier finden sich dieselben Stellvertreterkünstler wieder, die schon in früheren Biennalen ‹Afrika› oder ‹das Andere› repräsentieren mussten: Allen voran John Akomfrah mit einer Dreikanal-Video-Installation melancholisch umherirrender Einzelpersonen, Ibrahim Mahamas Arte-povera-Installation abgeschrabbelter Gemüsekisten, Wandbehänge von El Anatsui, soeben im Haus der Kunst in München gezeigt, Gemälde schwarzer Gestalten von Lynette Boakye-Yiadom und anderes mehr. Auch in den Arsenale und im Zentralpavillon der Giardini begegnen einem auffällig viele und auch schon gesehene Positionen mit Afrikabezug: Installationen von Kemang Wa Lehulere, Porträtfotografien schwarzer Frauen von Zanele Muholi, duchamp-inspirierte Video-Zusammenschnitte des Afroamerikaners Kahlil Joseph, allerdings im Wechsel mit deutlich weniger bekannten Kunstproduktionen aus dem asiatischen Raum.
Und um das Erwartbare voll zu machen, kehren Arbeiten der Biennale-geübten Video- und Filmkünstler_innen Hito Steyerl, Stan Douglas und Apichatpong Weerasetakuhl mehrfach wieder. Einzig die deutsche Künstlerin Ulrike Müller ist mit ihren High-Heel-Gemälden, großflächig farbig, noch nicht durch die Kunst-Biennale gestakst. Die Ausstaffierung der Hallen mit kunstmarkt-gehypten Namen: Sie verhindert die Übung des unverbildeten Sehens, wie die kinematografische Schwester am Lido lehrt. Mehr Befremdungswillen! – möchte man dem Kurator Ralph Rogoff zurufen. Denn nur angesichts ästhetischer Rätselaufgaben zwischen kulturell Uneindeutigem ließe sich das diesjährige Kunstbiennale-Motto realisieren: «May You Live in Interesting Times».