visions du réel nyon 2021

12. Mai 2021

Wir sind Viele Zehn Filme

Von Bert Rebhandl

Faya Dayi (2021)

© Visions du Réel

 

Faya Dayi (2021) Jessica Beshir

Auch in diesem schwarzweißen Film prägt sich ein Satz besonders ein: «Alle kauen, um (von hier) wegzukommen». Die Rede ist von Khat, einer Droge, die in den Regionen in Äthiopien, in denen Jessica Beshir gedreht hat, nicht nur weithin gebräuchlich ist, sondern auch ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Faya Dayi sucht nach einer Form, die man als Analogie zu dem Zustand sehen könnte, in den man durch Khat kommt: eine poröse Form, in der alte Sagen, sufistische Gesänge, oder einfach Dialoge aus dem Off das Bild durchziehen. Fragmente von (Lebens-)Geschichten werden erkennbar: junge Männer träumen vom Aufbruch nach Matema, einer Stadt in Ägypten, die den ersten Schritt auf einem Weg nach Norden darstellt. Eine junge Frau namens Fatima sieht sich aus einer Beziehung verstoßen. Ein junger Mann möchte nicht wie sein Vater werden, der ohne Khat nicht zu ertragen ist. Die Menschen in Faya Dadi sind Oromo, und mit dieser ethnischen Identität «im eigenen Land im Exil». Der Soundtrack passt zu dem Zustand, den man sich als Khat-Rausch vorstellen kann: von fern musste ich an Popol Vuh denken. Faya Dayi sieht beinahe zu gut aus für sein Thema, das würde ich mir aber gern bei einer Kinovorführung noch einmal genauer überlegen.

 

Zinder (2021) Aicha Macky

Die Gang, die in der Stadt Zinder im südlichen Niger mit einer Hakenkreuzfahne herumfährt, hat von Hitler nur einen sehr ungefähren Begriff: ein unbesiegbarer Krieger in Amerika. Die Szene scheint mir anfangs fast ein bisschen zu deutlich auf das internationale Publikum hin ausgerichtet zu sein (Arte und der Aljazeera Documentary Channel sind involviert). Aicha Macky, die selbst aus Zinder kommt, verzichtet danach aber auf weiteres Anfüttern mit starken Zeichen, und schafft es tatsächlich, einen tiefen Einblick in eine Männlichkeitskultur und in soziale Zusammenhänge in einer Region in Afrika zu geben, deren geopolitische Bedeutung mit dem Migrationsdruck wächst. Von Weggehen ist allerdings überraschend wenig die Rede. Drei männliche Protagonisten und eine Ramsess genannte Person stehen im Mittelpunkt. Ramsess sagt von sich, dass Gott sie als «halb Mann, halb Frau» geschaffen hat, als Hermaphroditin. Sie ist im Benzin-Schmuggel mit Nigeria aktiv, dem wichtigsten Erwerbszweig der Gangs aus dem Armenviertel Kara Kara, die sich in Form von palais organisieren: Gemeinschaftsorte, an denen sie Muskeln aufbauen. Viele tragen Narben von früheren Auseinandersetzungen mit Schlagringen oder Macheten. Auf dem Handy schauen sie Steinigungsvideos von Boko Haram. In Erzählungen ist auch von brutaler Gewalt gegen nicht «anständig» bekleidete Frauen in kurzen Röcken die Rede, die de facto zu Sklavinnen der Gangs gemacht werden. In Tudun James, dem Rotlichtviertel von Zinder, arbeiten 15-, 16-jährige Mädchen. Zugang erhält die Filmemacherin dort durch ihre Protagonisten. In einer Szene filmt Macky sogar in einem Gefängnis, wo ein Mann namens Cikara die Parole ausgibt: Wir müssen uns ändern. Ob es Wege aus der Gewalt gibt, bleibt offen.

 

Soviet Friendsbook (2020) Aljona Surzhikova

In Estland konnte man 1997 schon im Alter von 16 Jahren die Hochschulreife erreichen. Aljona Surzhikova nimmt ein Freundschaftsbuch, wie es in sowjetischen Kindheiten als Album, in dem Kontakte gesammelt wurden, üblich war, zum Ausgangspunkt eines Querschnitts durch einen postsowjetischen Jahrgang. Sie sucht einige Leute ihrer Schulkasse wieder auf: der Programmierer Stas lebt heute in Kambodscha, Maria in Russland, Yulia in Berlin, Roma ist in Tallin geblieben, Vika hat es nach Stockholm gezogen, Aljona lebt in Prag. Der Film wurde schon 2014 begonnen, dann durch eine Tragödie, wie es heißt, unterbrochen, und schließlich doch fertiggestellt. Die Fragen aus dem damaligen Freundschaftsbuch werden aufgegriffen, deutlich spannender ist aber das Videomaterial aus dem Jahr 1997 im Vergleich mit heute. Mehrfach ist von dem Schisma die Rede, das in Estland damals wirksam wurde: viele Menschen mit starkem Bezug zu Russland wurden de facto aus der Gesellschaft gedrängt, besonders interessant ist deswegen Maria, deren Eltern sich in Lipetsk niederließen, und die man wohl als durchschnittliche Bürger von Putins Staat sehen kann. Soviet Friendsbook wirkt manchmal fast ein wenig naiv, dazu kommt eine seltsame Muzak, interessant fand ich den Film aber trotzdem sehr.

 

Capital (2021) Javier Toscano

Ein Found-Footage-Film, der das unrealisierte Projekt von Eisenstein, Das Kapital von Marx zu verfilmen, nachträglich realisiert – zu den Bedingungen der visuellen Kultur von ungefähr 2020. Javier Toscano holt sich Bilder und Töne aus dem Netz, und kombiniert sie mit Textinserts aus Eisensteins Notizen. Das Material ist extrem vielfältig und in jeder Minute interessant, auf eine Weise, wie A Movie von Bruce Conner beindruckend ist: an dessen Sammlung von Sensationen könnte man am ehesten denken. Toscano kommt bei einer Gesellschaft des digitalen Spektakels an, nicht umsonst ist ein längerer Abschnitt über Youtube-Performer besonders stark gewichtet. Was man nun heute genau mit einem Begriff wie Warenfetischismus anfangen könnte, verschwindet im Malstrom von Toscanos Montage, oder im Bewusstseinsstrom (Joyce war schon für Eisenstein eine wichtige formale Referenz). Muss ich mir noch einmal genauer anschauen.

 

Groupe merle noir (The Blackbird Group) (2021) Anton Bialas

Ein mittellanger Film über eine Gruppe von Menschen, deren Zusammenhang nur in Andeutungen klar wird: sie sind tendenziell eher nachtaktiv, essen abgelaufene Sachen aus dem Supermarkt, haben offenkundig Außenseiterstatus. Eine terroristische Zelle? Am Ende gibt es tatsächlich eine Explosion, deren Opfer aber die Gruppe Schwarze Amsel selbst zu sein scheint. Anton Bialas durchsetzt seinen Film mit Parolen und Zeichen aus Literatur und Politik, unter anderem bin ich so auf das Brevier des Chaos von Albert Caraco gestoßen, auch das Palindrom, das Guy Debord für seinen berühmtesten Filmtitel benützt hat, taucht auf. Großartig vieldeutig das Schlussbild: eine riesiger Gänsemastbetrieb öffnet seine Tore und lässt die Tiere in den Auslauf. Eine Entdeckung.

 

The Rossellinis (2020) Alessandro Rossellini

Roberto Rossellini starb 1977. Er hinterließ eine große Familie, deren Mitglieder alle an einem Syndrom laborieren: Rossellinitis. Das klingt wie eine Krankheit, und ist auch durchaus so gemeint von Alessandro, dem «Schwarzen Rossellini», Sohn einer amerikanischen Tänzerin aus einer kurzen Beziehung mit Renzo Rossellini, den der Pater familias zum künstlerischen Statthalter und Nachfolger aufbauen wollte. Alessandro hat sich vorgenommen, die in aller Welt lebenden Rossellinis zu ihren Erinnerungen an den übermächtigen Vater und Großvater zu befragen, und er konfrontiert sie auch mit den Verletzungen, die Roberto hinterließ («an enormous inheritance of family conflict»). Die Reise um die Welt (zu der schnippischen, dann aber doch sehr offenen Isabella in Nordamerika, zu dem ehemaligen Playboy Roberto auf einer schwedischen Insel, auf der Ingrid Bergman ihr Ferienhaus hatte, in die Emirate, wo Raffaela, die Tochter aus der dritten Ehe, lebt, sie ist Muslimin geworden und nennt sich nun Nour) führt schließlich zurück zu Alessandros Mutter: einer Afroamerikanerin, die in einem Altenheim in New York lebt. Das Schlussbild, zu dem alle in Italien noch einmal zusammenkommen, bekommt Alessandro quasi geschenkt: es wurde für ein Shooting von Dolce & Gabbana organisiert.

 

Radiograph of a Family (2020) Firouzeh Khosrovani

«Mother married father’s photograph.» So lautet der erste Satz. Er verweist auf die ungewöhnlichen Umstände der Heirat zwischen Hossein und Tayi. Er ist ein liberaler Iraner, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Genf studiert und das Leben im Westen genießt. Sie ist deutlich jünger, ein frommes Mädchen, das sich in der Schweiz zuerst einmal überfordert fühlt. Alkohol und kurze Röcke, und dann soll sie auch noch Ski fahren: «die Sünde war überall», und es fehlt ein «Mecca indicator», der die Gebetsrichtung weisen würde. Firouzeh Khosrovani rekonstruiert die Ehe ihrer Eltern vor allem mit Hilfe von Fotografien und ergänzenden, illustrierenden Filmaufnahmen aus der Periode, sowie als Hörspiel – zwei Stimmen lassen Dialoge zwischen Hossein und Tayi vernehmen, mit denen Khosrovani die Spannungen, die letztlich auf «zwei verschiedene Irane» verweist, nachvollziehbar macht. Das Wort «Mousieu», Tayis Versprecher für «Monsieur», wird zum Kosenamen, ist aber auch schon Zeichen der nie überwundenen Entfremdung. Zum zentralen Ort des Films wird schließlich die Wohnung in Teheran, in die das Paar einzieht: Tayi hat sich mit dem Wunsch einer Rückkehr durchgesetzt, und so sehr Hossein vorher versucht hat, sie an ein Leben «mit Bach und Hafis» (also mit einer trans-islamischen Hochkultur) zu gewöhnen, so sehr kehrt sie schließlich zu einem radikalen Islam zurück. In den Lehren von Ali Schariati findet sie ihre Wahrheit, in der Revolution von 1979 ihre Bestimmung als Lehrerin und Schuldirektorin. Aus der Wohnung verschwindet zuerst das Bild einer nackten Frau im Gras, das Hossein teuer war, stattdessen taucht ein Gebetsteppich auf. Der Vater stirbt in Teheran gleichsam im Exil: seinen Iran gibt es nicht mehr. Die Mutter kann sich im Einklang mit dem Geschichtsverlauf sehen. Sie ist, nun hochbetagt, in einem der letzten Bilder des Films auch zu sehen, mit einem Koran. Das Röntgenbild einer Familie ist implizit dann doch in erster Linie eine Hommage an Hossein, den Radiologen, der an Tayi wohl nie verstand, warum sie seinen Freiheiten immer eine innere Ausrichtung nach Mekka entgegensetzte.

 

The Arrow and the Uniform (2020) Miguel Antunes Ramos

«Das Material ist immer stumm, bis wir ihm eine Frage stellen», sagt eine Frauenstimme. Das Material sind 22 Minuten Aufnahmen von einer GRIN (Guarda Rural Indigena), gefunden in Museo do Indio. Der Film widmet sich der Entzifferung dieser Bilder, auf denen Angehörige einer Einheit zu sehen sind, die 1970, während der Militärdiktatur in Brasilien, ausgehoben wurde, damit Indigene ihre eigenen Völker polizieren. Die 22 Minuten wurden übrigens von einem Deutschen namens Jesco von Puttkamer gedreht, auf dessen Geschichte der Film leider kaum weiter eingeht. Die GRIN war ein Instrument, mit dem die Militärregierung die indigenen Menschen von fünf ethnischen Gruppen (zum Beispiel der Xerente) unter Kontrolle halten wollte. Von einem Foltergefängnis aus der damaligen Zeit gibt es nur noch Erinnerungen und wenige Dokumente. Menschen wurden wegen Alkoholkonsum oder dem Vorwurf der Prostitution aus ihren Gemeinden gerissen. Das Material bringt ehemalige Mitglieder der GRIN zum Reden über ihr ambivalentes Mandat.

 

Nous (2021) Alice Diop

Nous. Wir. Ein starker Titel, den Alice Diop dadurch einlöst, dass sie sich das Frankreich der Vorortzüge ansieht. Les Passagers du Roissy-Express hieß 1990 ein Buch von Francois Maspero, das ihr die Augen öffnete, und auf das sie nun mit einem Film geantwortet hat. Sie beginnt mit einer Familie, die im Morgengrauen in einem Wald nach Wild Ausschau hält – die Jagdgesellschaft, die daraus wird, steht dann am Ende des Films, im Zentrum ein herrschaftlich auftretender Franzose, dessen Profil die Kamera liebt. Unter den Menschen, die Alice Diop stellvertretend für das Wir zeigt, sind auch Mitglieder ihrer eigenen Familie: ihr Vater, ihre Schwester, die als mobile Pflegerin arbeitet. Videoaufnahmen führen zurück in die Vergangenheit der Migration aus dem Senegal. Royalisten wiederum feiern in Saint-Denis zum Gedächtnis an Ludwig XVI. In einer Gedenkstätte wird an die Transporte in die Vernichtung erinnert, die von Drancy Avenir abgingen. Eine Begegnung mit dem Schriftsteller Pierre Bergounioux, der in Gif-sur-Yvette lebt, gibt Alice Diop auch Gelegenheit, ihr eigenes Vorgehen zu reflektieren. Großer Film.

 

Courage (2021) Aliaksei Paluyan

Drei Menschen aus Belarus stehen für die Millionen, die das System Lukaschenko loswerden wollen: Denis, Maryna und Pavel stehen auch deswegen im Mittelpunkt von Courage, weil sie als Schauspieler im Belarus Free Theatre schon lange deutliche Oppositionsarbeit machen. Was auf dem Spiel steht, wird aus einer Frage deutlich, die Maryna stellt: «Was ist besser für unser Kind? In einem freien Land aufzuwachsen, oder als Halbwaise?» Die schiefe Alternative (im schlimmsten Fall könnte das Kind in einem unfreien Land aufwachsen, also unter den fortgesetzten Bedingungen der gegenwärtigen Herrschaft, und dabei auch noch durch die Repression die Mutter verlieren) zeugt von der dramatischen Lage in Putins Vasallenstaat. Courage zeigt den Alltag der Protestbewegung, zum Beispiel in Szenen, in denen Menschen vor den Gefängnissen warten, um ihre Angehörigen in Empfang zu nehmen. Das Theater arbeitet an einer Inszenierung, die aus London über Skype angeleitet wird. Lukaschenko ist immer noch im Amt. Die Menschen in Belarus werden noch viel Courage brauchen.

 

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