dokumentarfilm

17. Januar 2010

Linke Filmgeschichte Irving Lerner

Von Ekkehard Knörer

The Autobiography of a Jeep

 

Die folgenden Informationen verdanken sich fast vollständig zwei von Wolf-Eckart Bühler erarbeiteten und herausgegebenen Heften der Filmkritik" Nr 289/290 im Januar und Februar 1981. Bühler erstellte dafür nicht nur eine möglichst vollständige Filmografie Irving Lerners, abgedruckt sind auch Interviews, die er in den Siebzigern mit Lerner selbst, mit Philip Yordan, mit Haskell Wexler, Ben Maddow und Leo Hurwitz geführt hat. Dazu kommt ein kluger Essay zu Lerner und seinen Filmen.

Philip Yordan, Drehbuchautor, Produzent, Arschloch und ausbeuterischer Frontmann für Blacklist-Autoren, sagte im Interview über Irving Lerner, dem er Arbeit gab, ohne ihn, wie es scheint, je angemessen zu bezahlen oder auch nur zu behandeln:

Er war ein Versager. Im ökonomischen Sinn war er ein absoluter Versager. Was er auch anfaßte, es machte kein Geld. All die Dinge, die er machte, und die er so gut machte, waren alles Dinge, die eigentlich gar nicht gemacht zu werden brauchten. Überflüssige Dinge. Schön vielleicht, aber überflüssig. Man kann sich so was ab und zu mal leisten, aber für Irving war das sein ganzes Leben!

In den Augen Hollywoods lebte Irving Lerner das Leben eines überflüssigen Menschen. Auch darum ist aus dem, was er tat und dem, was ihm dabei widerfuhr, viel zu erfahren über die amerikanische Filmindustrie, der er, immerhin, eine Handvoll eigener Filme abgetrotzt hat. Seine Karriere, im Schnelldurchgang: Geboren 1909 in New York. Studium der Anthropologie an der Columbia University bei Franz Boas; Bekanntschaft mit Margaret Mead (1927-1934). Für linke bzw. kommunistische Zeitschriften schreibt er Filmkritiken unter dem Pseudonym Peter Ellis. Herausgeber postumer Schriften des früh verstorbenen sozialistisch Filmkritikers Harry Alan Potamkin (1934). Erste Kenntnisse von Film- und Kamerarbeit im anthrop ologischen Kontext; Kooperation mit linken Theater- und Filmemachern. Mitarbeit am Film Pie in the Sky, an dem auch Ralph Steiner, Elia Kazan, Elman Koolish und Molly Day Thatcher beteiligt sind. In der Zeitschrift New Masses steht darüber zu lesen:

The silent film presented by New Theatre and Nykino is a splendid beginning toward revolutionary comedy-pantomime. With the simplest materials, in fact 'properties' and ideas that can be found on any city dump, it sustains for 20 minutes or so the right level of grim satire on misery.

In den linken Kreisen, auch in seiner Tätigkeit als Bearbeiter und Untertitler europäischer und sowjetischer Filme, lernt er Woody Guthrie, Eisenstein, Kurt Weill und Hanns Eisler kennen. Mit Fritz Lang geht er nach Hollywood, assistiert ihm bei You and Me (1938). Auch an Robert Flahertys Film The Land ist er als Kameramann und Assistent beteiligt.

1940 entsteht die Dokumentation Valley Town. Lerner ist im Vorspann nur als Editor genannt, arbeitete aber an allen Phasen und an der Konzeption des Films gleichberechtigt, wenn nicht führend mit. Es geht in dem Film um die sozialen Folgen, die die Einführung neuer Technologien in einer Stahlarbeiterstadt in Pennsylvania hat. Eine Tafel zu Beginn des Films hält fest: «The people in this film are not actors. They are men and women of an American town.» Dennoch ist die Anmutung des Films nicht nur in der Wahl des von einer ganz sicher nicht authentischen Stimme gesprochenen Bürgermeisters als Ich-Erzähler alles andere als rein dokumentarisch. Im Gespräch mit Bühler erläutert Irving Lerner seine Haltung dazu - und verbindet sie mit einer Erklärung, warum er glaubte, seine Arbeit grundsätzlich auch im Kontext der Filmindustrie fortsetzen zu können:

Für mich gab es so etwas wie «den Dokumentarfilm» eigentlich gar nicht mehr. Denn wie auch immer die Probleme sich stellen, sie müssen «ausgerichtet» werden nach dem jeweils gewählten Thema. Also gibt es das gar nicht: eine ganz besondere und spezielle Weise, Dokumentarfilme zu machen. Oder Spielfilme zu machen. Das ist alles Film, nicht mehr, nicht weniger. Dokumentarfilm und Spielfilm, das sind keine Gegensätze, sehr viel entscheidender als das, was sie scheinbar trennt, ist das, was sie miteinander verbindet. Und also sagte ich mir, wenn das wirklich stimmt, was ich mir da denke, dann kann ich ebensogut dahin gehen, wo ich mein Arbeitsfeld unter Umständen ganz beträchtlich erweitern kann – und so packte ich meine Sachen zusammen und zog nach Kalifornien.

Bei den Prelinger Archives findet sich der Film Valley Town.

Trotz seiner eindeutigen Verortung im linken Spektrum, trotz seiner Tätigkeit sogar für die sowjetische Handelsorganisation Amtorg erhält Lerner von 1941 bis 1945 einen Job von der Regierung. Der im wesentlichen von ihm aufgebaute Overseas Branch des Office of War Information hat die Aufgabe, antifaschistische Filme für den Propaganda-Einsatz in Europa zu erstellen und dabei Werbung für den American Way of Life zu machen. Lerner nutzt die Gelegenheit dazu, ambitionierte Dokumentar- und Experimental-Filmemacher zu beschäftigen: Alexander Hackenschmid (als Alexander Hammid und Ehemann Maya Derens berühmt), der Schwede Henwar Rodakiewicz, der schon in den Zwanzigern Filme wie Portrait of a Young Man (mehr) gedreht hatte (jetzt in der Unseen Cinema Box wieder zugänglich), Roger Barlow (Kamera auch in Valley Town) und Sidney Meyers. Der bekannteste dieser Filme, Lerner führt dabei selbst Regie, ist der hinreißende The Autobiography of a Jeep. Der Titel verspricht nicht zu viel: Ein Jeep erzählt als Ich-Erzähler aus seinem Leben – man achte auch auf den winzigen Cameo-Auftritt von Laurel & Hardy. In viel besserer Qualität gibt es den Film wieder bei archive.org. (Man muss an Helmut Käutners In jenen Tagen denken, in dem das Dritte Reich aus der Perspektive eines Autos episodisch vor Augen geführt wird.)

Ein Coup gelingt Lerner im Jahr 1943. Yordan berichtet:

Kennst du die Geschichte mit Toscanini? Während des Krieges wollten sie unbedingt einen Film mit ihm machen, aber Toscanini hatte keine Lust. Er war nicht an Film interessiert und hat sie alle weggeschickt. Sie haben ihm die berühmtesten Regisseure angebracht, er hat sie nicht mal vorgelassen. Und dann hat er Irving getroffen und gesagt: wenn ich mit jemandem einen Film mache, dann nur mit Irving. Und Irving hat ihn gemacht. Er war einer von den Leuten, die in Konzerte gehen und die Partitur mitlesen, weißt du...

Der Film, der entsteht, heißt Toscanini: Hymn of the Nations. Produktion, Schnitt und Regie Irving Lerner. Einer der beiden Kameramänner ist Dziga Wertows seit 1942 in den USA arbeitender Bruder Boris Kaufman. Im Zentrum des Konzerts im Madison Square Garden, das der Film zeigt, steht Giuseppe Verdis Hymne der Nationen. 

Unmittelbar vor dem Konzert – das erzählt Lerner im Gespräch mit Wolf-Eckart Bühler – marschiert Hitler in der Sowjetunion ein. Der auf der politischen Linken und für den italienischen Widerstand engagierte Toscanini besteht darauf, aus Solidarität die sowjetische Nationalhymne zu spielen. Lerner: «Wir wußten nur zu genau, was das für uns bedeutete: kein Film mehr – denn die Sowjetunion war zwar theoretisch ein Alliierter, in Wirklichkeit aber natürlich nicht, in Wirklichkeit natürlich der wirkliche Feind, usw.» Lerner wendet seine ganze Überredungskunst auf – und in der Tat gelingt es den beiden, einen verblüffenden Kompromiss zu finden.

Gleich zwei der unter Lerners Leitung und Regie bzw. Co-Regie - das alles immer noch im Rahmen der von ihm organisierten Overseas-Abteilung des Office of War Information – entstandene Dokumentarkurzfilme werden für den Oscar nominiert: Swedes in America (mit Ingrid Bergman) und eine Doku über The Library of Congress (Hammid ist Co-Regisseur); beide leider im Moment nicht im Netz zu finden.

Ein weiterer sehr schöner Film, entstanden in einer ganzen Serie mit dem Titel The American Scene, ist The Cummington Story, der in nachgestellten Szenen die zögerliche Annäherung zwischen den Bewohnern einer Kleinstadt in New England und dort auftauchenden Kriegsflüchtlingen zeigt (Regie: Helen Grayson und Larry Madison.

Nach dem Krieg bringt Lerner – mit Hilfe von Willard van Dyke – ein Projekt zum Abschluss, an dem er seit 1942 arbeitet: die Musik-Dokumentation To Hear Your Banjo Play. Eine Geschichte, in der Tat, des amerikanischen Banjo-Spiels. Erzählt von Pete Seeger, im Fokus auch Woody Guthrie, mit dem Lerner seit längerem befreundet ist.

Weil die Bedingungen für Dokumentarfilmarbeit in New York sich dramatisch verschlechtern, geht Irving Lerner 1947 endgültig nach Hollywood. Das ist ein anderes Kapitel. Darüber demnächst mehr.