26. März 2023
Szenischer Ausstieg Über Daniel Sagers Erfundene Wahrheit – Die Relotius-Affäre
Das Beste in Daniel Sagers Dokumentarfilm Erfundene Wahrheit – Die Relotius-Affäre kommt zum Schluss. Vor dem Abspann werden 20 Namen eingeblendet: von Leuten, die für den Film angefragt wurden, aber entweder Interviews abgelehnt oder gar nicht erst reagiert haben. Es handelt sich um Menschen vom Spiegel: Ulrich Fichtner, der noch immer für das Nachrichtenmagazin arbeitet, oder der in den Vorruhestand abgefundene Matthias Geyer, die zu Relotius’ Förderern gehörten; Klaus Brinkbäumer, der von 2015-2018 Chefredakteur war und heute Fernsehdirektor beim MDR ist, sowie die wohl komplette Besetzung des Gesellschaftsressorts, in dem Relotius arbeitete und dessen Leiter er werden sollte, bevor die Geschichte um die erfundenen, mit lauter Journalismus-Preisen bedachten Artikel 2018 aufflog.
Diese finalen Inserts sind interessant, weil sie den medial unterbelichteten Teil der Relotius-Affäre zumindest andeuten – dass das Ganze nicht nur die Geschichte eines besonders krassen Lügners und Täuschers ist, sondern auch systemische Gründe hat. Eine Vorliebe fürs «Szenische» in Reportagen etwa, in denen die Autoreneitelkeit, statt etwas rauszufinden, sich vor allem auf das Aufpolieren von Metaphern und effektvolle Ein-Satz-Absätze konzentriert, damit zu den Texten dann auf der Journalismus-Preisverleihung «Literatur» gehaucht werden kann als größtes denkbares Lob (zur «Filmsemantik« im Abschlussbericht der «Relotius-Kommission» des Spiegel siehe hier). Eine bestimmte Führungskultur, die bis zum Schluss Zweifel und Kritik an Relotius bekämpft, weil der dem eigenen Fortkommen dient – der dauerprämierte Kollege verspricht das Ansehen, das in einer gerade an der Spitze dünkelhaften, statusorientierten Sphäre wie dem Journalismus zählt. So bedauert der aktuelle Spiegel-Chefredakteur Steffen Klusmann im Film, dass es keine Leute von außen gegeben habe, «die in einer gewissen Lautstärke gesagt haben, das kann doch nicht sein». Dabei besteht die erste Hälfte von Sagers Rekonstruktion der Geschichte daraus, diese Leute zu zeigen, die sich an Relotius oder den Spiegel gewandt hatten, weil sie merkten oder wussten, dass mit den Geschichten etwas nicht stimmte. Freilich ohne Status und Preise im Rücken.
Es ist deshalb nicht ohne Witz, wenn nach dem zigsten Beleg Chefredakteur Klusmann eine Viertelstunde vor Schluss sagt: «Irgendwann waren die Fakten klar, irgendwas stimmt hier nicht.» Ein Satz, der klingt, als wäre die Geschichte dem Spiegel zugestoßen wie ein schwer verständliches Naturereignis und als hätte man Relotius nicht eben auch zu schützen und verteidigen versucht über lange Zeit. Und es ist auch komisch, wenn die Schweizer Journalistin Margrit Sprecher, die in einer der Journalismus-Preis-Jurys saß, die Relotius auszeichneten, feststellt, dass die Reportagen immer bombastischer haben werden müssen – als hätte das Auszeichnungssystem damit überhaupt nichts zu tun.
Überraschend an Sagers Dokumentarfilm ist jedoch, wie plump und schwergängig er die meiste Zeit gestaltet ist. Es braucht lange, ehe die Erzählung in Fahrt kommt, was auch daran liegt, dass die Bilder mit sehr viel Sinn für Look und Style eingerichtet sind – und es entsprechend schwieriger ist, kleinteiliger, also nach einzelnen Sätzen zu schneiden, was der Film aber trotzdem tut. Wieso Sager meint, ausgerechnet in einem Film über Relotius, dem doch abschreckendsten Beispiel des atmosphärischen Gekleisters, seine Aufnahmen mit einem mühsamen Kunstwillen beschweren zu müssen (Kamera: Nicolai Mehring), bleibt rätselhaft, Da wird dann etwa bei dem echten US-Bürgerwehr-Grenzschützer Tim Foley, den Relotious für seine letzte Geschichte nie getroffen hatte, nicht einfach das Gespräch gefilmt, sondern nebenher noch versonnen impressionistisch auf ein Insekt geguckt, das über ein Mückengitter vorm Fenster huscht. Dabei ist das Originalmaterial der Aufklärung, dass Juan Moreno mit dem befreundeten Fotografen Mirco Talierco 2018 gedreht hatte, um die Lüge zu dokumentieren, und das der Film zeigt, viel interessanter.
Dass Erfundene Wahrheit diesem Tim Foley selbst für ein paar Schritte in das Gebiet folgt, in dem er aus eigenem Auftrag patrouilliert, ist das beste Beispiel dafür, dass Sagers Film nicht weiß, was er sein will. Die Musik sphärt oder puckert permanent, um Spannung und Dramatik in die Rekonstruktion zu bringen (Sounddesign und Mischung: Michael Kaczmarek), als wäre die irre Geschichte nicht irre genug. Gegen Ende wird der Dokumentarfilm dann zum Thriller, wenn er Morenos Kampf um die eigene Integrität und gegen Relotius’ Lügen zeigt. Ein eigentlich spannender Aspekt des Falls, mit dem schon Bully Herbigs vergleichsweise okayer Spielfilm Tausend Zeilen (2022) nur ansatzweise kokettiert hatte, weil das Familiendrama im deutschen Kino halt mehr gilt. Die Entsprechung zu dieser formalen Unentschiedenheit wären bei Sagers Dokumentarfilm die Schnittbilder von Moreno, auf denen er Computertippen simuliert, oder die Einführung seines schicken Wochenendhauses als einem Ort, den es für die Erzählung nicht braucht.
So bleibt Erfundene Wahrheit – Die Relotius-Affäre am Ende eine vertane Chance – das Gespräch über einen Skandal im deutschen Journalismus, auf das ein Großteil der Betroffenen keine Lust hat, so zu führen, dass sich der Debatte nicht so leicht entzogen werden kann wie die Film ignoriert.