dokumentarfilm

1. Dezember 2023

Vor der Kamera, für sich selbst Ein politisches Kino unter den Bedingungen des westdeutschen Fernsehens: Zu einer Retrospektive der Dokumentaristin Edith Marcello

Von Fabian Tietke

Wir Frauen sehen uns an (1977)

© ZDF

 

Die meisten der Menschen, um die es in Edith Marcellos Fernsehdokumentation Billige Hände – Ausländische Arbeiterinnen in Deutschland geht, vermeiden an ihren Arbeitsplätzen den Blick in die Kamera, blicken mit halb gesenktem Kopf höchstens kurz einmal hoch – so wie man guckt, um sicher zu gehen, dass der kontrollierende Blick des Vorarbeiters nicht länger auf einem ruht. Wenn sich Blick und Kamerablick zu treffen drohen, senken die Arbeiter_innen die Augen. Nur die Augen jener, denen die Präsenz der Filmemacher_innen noch nicht klar war, halten überrascht, vielleicht auch neugierig länger den Blickkontakt. Wohin der Blick der spanischen Arbeiterin fällt, die abseits des Arbeitsplatzes vom Streik gegen die Entlassung von Kolleginnen in einer Fabrik in Hannover berichtet, lässt sich kaum ausmachen. Um sie unkenntlich zu machen, ist das Bild im Gegenlicht aufgenommen, dunkle Schatten liegen über ihrem Gesicht. Doch auch die Arbeiter_innen, die in Wohnzimmern und Küchen von ihren Erfahrungen mit dem Arbeiten in der Bundesrepublik berichten, blicken nur selten in die Kamera oder zur Filmemacherin. Nur jene, die deutsch mit dem Filmteam sprechen können, oder die,  wie der italienische Arbeiterpriester, es zumindest gewohnt sind, öffentlich zu reden, blicken direkt in die Kamera. Sprachkenntnisse, Klassenfragen, Rassismuserfahrungen – die Machtstrukturen, die sich in den Blicken von Marcellos Film spiegeln, sind vielfältig. Billige Hände entstand 1969 für den hessischen Rundfunk, es ist eine der ersten Arbeiten Marcellos. Remake – Frankfurter Frauen Film Tage der Kinothek Asta Nielsen widmet Edith Marcello im Rahmen des diesjährigen Festivals von kommendem Mittwoch an eine Werkschau. Es ist die erste.

Marcello, 1937 geboren, studierte Malerei und lernte ihr filmisches Handwerk beim westdeutschen Fernsehen. Wie die Filmemacherin in einem Gespräch mit der Kinothek 2021 erklärte beginnt ihre Laufbahn in einer Spielfilmkommission des ZDF. Anschließend wechselt sie zum Dokumentarfilm und wirkt bis 2014 an über 80 Filmen mit. In Marcellos Werk ist die Fernsehdokumentation der Regelfall und der Dokumentarfilm fürs Kino die Ausnahme. Ihre Filme entstehen oft in kooperativer Zusammenarbeit, teils in kollektiven Strukturen. Bei vielen der Filme kooperiert sie mit David Wittenberg, der über seine journalistische Arbeit zum Fernsehen und zum Dokumentarfilm gekommen ist.

 

Pierburg – Ihr Kampf ist unser Kampf (1974/75)

© Edith Marcello / David Wittenberg

 

1974/5 realisiert sie zusammen mit ihm ihren heute bekanntesten Film Pierburg – Ihr Kampf ist unser Kampf über einen spontanen gemeinsamen Streik migrantischer und deutscher Arbeiter_innen bei einem Autozulieferer in Pierburg. Der Film, der auf der Retrospektive nicht gezeigt wird, montiert nach einer Art Vorspann mit allgemeinen Kontextinformationen zur Fabrikarbeit Aufnahmen des Streiks, Gespräche mit Beteiligten und Politikern, zeigt die Selbstorganisation der Streikenden. Marcello & Wittenberg legen besonderes Augenmerk auf die weiblichen Arbeiterinnen als Trägerinnen des Streiks. In ihrem Essay zur Werkschau des Festivals weist Sophie Holzberger darauf hin, dass Marcello und Wittenberg in Pierburg – Ihr Kampf ist unser Kampf auf Material zurückgreifen können, dass die Arbeiter_innen gedreht haben. Der Film wird in Gewerkschaftsgruppen, auf Veranstaltungen und in Volkshochschulen gezeigt. Kurz davon ist Der Kampf der Lip Arbeiter (BRD 1973–1975) entstanden, kurz danach entsteht Wir halten den Betrieb besetzt – die Zementwerker in Erwitte (BRD 1975–76).

In den oft bleiernen Streikfilmen der 1970er Jahre ist der Pierburg-Film eine erfreuliche Ausnahme. Er ist beweglich, abwechslungsreich und auf engem Raum vielschichtig und intersektional. Dass der Film heute so bekannt ist, verdankt er einer Wiederentdeckung in den 1990er Jahren. Im Rahmen von Recherchen zur Geschichte der Arbeitsmigration in die Bundesrepublik, widerständige Praktiken und der Entwicklung des Konzepts der Autonomie der Migration griff die Gruppe kanak attack den Pierburg-Film auf und betrachten ihn zusammen mit dem Dokumentarfilm Diese spontane Arbeitsniederlegung war nicht geplant (1982) von Thomas Giefer, Yüksel Uğurlu und Klaus Baumgarten über den Fordstreik 1973 als Beispiele für migrantische Selbstorganisation.

Ab Mitte der 1970er Jahre wendet sich die Filmemacherin vermehrt feministischen Themen zu. Marcellos Das hat mich sehr verändert von 1976 beginnt mit dem «Frauenzentrumslied», jener Umdichtung des Eröffnungslieds aus Kurt Hoffmanns Das Wirthaus im Spessart, die 1973 auf der stilprägenden LP Lieder von Frauen der Frauenoffensive München erschien. Frauen eilen durch die Frankfurter Straßen und fünf von ihnen stauen sich dann – es wirkt sehr, als hätte die Kamera drum gebeten – vor dem Eingang des Ladenlokals, in dem sich seit 1973 das Frauenzentrum in Frankfurt-Eckenheim befindet. Der Film dokumentiert die Arbeit des Zentrums, zeigt die eingehenden Anrufe, das Beratungsangebot, Gruppentreffen.

Ein Jahr darauf entsteht Wir Frauen sehen uns an – Erfahrungen aus der Frauenbewegung. Der Film beginnt ähnlich, dieses Mal mit einem Lied von der Platte Canti di donne in lotta (Lieder von Frauen im Kampf) des Gruppo musicale del comitato per il salario al lavoro domestico di Padova (Musikgruppe des Komitees für den Lohn für Hausarbeit von Padua). Die erste Strophe des Lieds Stato, Padrone fehlt: «Staat und Bosse, macht Eure Rechnung, denn die Frauen wollen Geld. Für Jahre, Jahrhunderte, haben wir gearbeitet. Für Jahre, Jahrhunderte habt ihr uns ausgebeutet.» 

Marcello beginnt mit dem Komitee für den Lohn für Hausarbeit in Padua und den Anfängen der Frauenbewegung, zoomt in Fotos hinein und gleitet über sie hinweg, während eine weibliche Kommentarstimme Zusammenhänge herstellt. Eine Frauendemonstration in Frankfurt, Ausschnitte aus Agnès Vardas Réponse de femmes, entstanden im Auftrag des französischen Fernsehens im Internationalen Jahr der Frau 1975, ein Konzert im Frankfurter Frauentreff, der Münchener Frauenbuchladen: Diverse Stationen in der Bundesrepublik, in Frankreich, in Italien. Marcello schlägt in einer knappen Dreiviertelstunde einen beeindruckend vielfältigen Bogen über die unterschiedlichen feministischen Initiativen Mitte der 1970er Jahre. Die Dokumentation endet mit Noi donne (Wir Frauen): «Wir Frauen sehen uns an, jede von uns kennt das Leben der anderen.» Zwei Jahre später, 1979, realisiert Marcello für das ZDF eine Dokumentation, die sich ausgehend von Szenen des Frauenstreiks in Island am 24. Oktober 1975 der Debatte über den Lohn für Hausarbeit nähert. «‹Wir sind unbezahlbar› – Zur Diskussion um ‹Lohn für Hausarbeit›» lotet aus, wie diese Diskussion Frauengruppen in der Bundesrepublik beschäftigt.

Edith Marcellos Filme sind – wie Ekkehard Knörer das einmal an Ken Loach beobachtet hat – «Kino als Transportunternehmen», was hier heißt: Dokumentationen in bisweilen allzu fasslichen Formen zugunsten einer klaren Vermittlung von Inhalten. Man könnte auch sagen: ein politisches Kino unter den formalen Bedingungen des westdeutschen Fernsehens. Die Bilder stehen in ihren Filmen so gut wie nie für sich, sind meist unterlegt, eingehegt, vereindeutigt von Sprache, von Kommentar oder Gesprächen im Off. Die Filmbilder sind auf das Zeigen aus, nicht auf Entdeckungen, die sich erst bei genauerem Hinsehen offenbaren. Dazu passt das wiederkehrende Element von Standfotos, die angehalten werden. Es gibt auf diesen Fotos oft nicht viel zu entdecken, die Momente sind klar. Der Effekt zielt eher darauf ab, eine Reaktion in den Zuschauer_innen zu erzeugen. «Hier, sieh Dir das an», «Präg Dir das ein».

Die Stärke der Filme liegt in der Geschichte ihrer Entstehung, in einer Zugänglichkeit und Offenheit für lokales widerständiges Handeln in Zeiten einer Ausdifferenzierung der bundesdeutschen Linken erst in K-Gruppen-Sektierertum und dann in die Sozialen Bewegungen. Diese Offenheit überträgt sich auch in die Gespräche und Fragen in Marcellos Filmen, in denen es um eine Begegnung auf Augenhöhe geht. Sophie Holzberger findet in ihrem Essay darin eine Verbindung, die die Protagonist_innen der Filme Marcellos verbindet: «Auch wenn die Menschen in Marcellos Filmen aus ihren konkreten Umständen heraus sprechen; sie sind einander in ihren Träumen von einem anderen Leben verbunden.»

In den frühen 1980er Jahren ist Edith Marcello Teil des Auswahlkomitees der Duisburger Filmwoche. 1983 läuft ebenda Der Mensch, der zu Fuß geht, ist verdächtig von Marcello, Wittenberg und Regine Heuser über die Wünsche von Daimler-Benz nach einer Teststrecke im  Baden-Württembergischen Boxberg und die Proteste gegen dieses Projekt. Im Rückblick auf Marcellos Anfänge mit Billige Hände könnte man sagen, in ihren Filmen ab den 1970er Jahren hat sie sich eine Methode des Dokumentarfilms erarbeitet, die es Menschen möglich machen soll, ohne Scheu vor der Kamera für sich selbst das Wort zu erheben und einzufordern, gehört zu werden. Marcellos Transportunternehmen transportiert in seinen besten Momenten übersehene Momente politischer Wegscheiden, überhörte Stimmen. Das Film- und Videowerk Werk Edith Marcellos ist heute nur bedingt zugänglich. Um vorführbare Kopien ausfindig zu machen, brauchte es dem Programmtext der Kinothek Asta Nielsen zufolge einiges an «medienarchäologischer Arbeit».

Remake – Frankfurter Frauen Film findet vom 5. bis 10. Dezember 2024 statt