17. Januar 2016
Wassertretende Menschenkette Filmhinweis für Berlin: Zaplyv von Kristina Paustian im Arsenal
Der Marxismus verstand sich als eine wissenschaftliche Weltanschauung, und in seiner offiziösen Verwirklichung, dem real-existierenden Sozialismus sowjetischer Prägung, gedieh gerade auch auf dem Feld der exakten Wissenschaften allerhand höherer Blödsinn. Den Physiker Boris Zolotov könnte man spontan da dazu zählen, wenn man ihn im Kreis von sechs Tänzerinnen sieht, die ihn umschmeicheln wie eine sakrale Figur. Doch Kristina Paustians Zaplyv (Swimmers), der im vergangenen November bei der Dokumentarfilmwoche Duisburg mit dem arte-Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde, ist von der ersten Einstellung an viel zu komplex, als dass man mit einer bloßen Guru-Entzauberung rechnen könnte.
Allmählich wird zwar klar, dass Zolotov inzwischen einer Art Kommune vorsteht, die sommers am Meer mit bestimmten Übungen an der Verbesserung des Lebens, wenn nicht sogar an der Herbeiführung eines «Goldenen Zeitalters» arbeitet. Aber seine Ideologie, wenn es denn eine ausgeprägte gibt und nicht nur eine performativ immer neu entstehende und zerfließende, erscheint nicht als Heilslehre, sondern als praktische Anleitung, mit dem «Alien» in der eigenen Existenz halbwegs auskömmlich zu leben.
Interessant ist Zaplyv denn auch nicht so sehr als ein (ohnehin ziemlich indirektes) Porträt, sondern als ein Film über Russland. «Wann wird das Glück nach Russland kommen?» «Wer ist glücklich in Russland?» Diese, an einer Stelle von Zolotov fast schon sinnlos umsichtig beantwortete Frage, steht im Mittelpunkt des heterogenen Materials. Die Montage verstärkt diesen Eindruck des Fragmentarischen noch. Zum Beispiel sieht man mehrfach Publikum bei einer Veranstaltung, der Gegenschuss bleibt aus, man hört nur Musik, und sieht Verzückung in Gesichtern, oder ruhige Konzentration.
Zu diesen Bildern gibt es Entsprechungen aus den Archiven, alte Fernsehsendungen mit Zolotov, in denen ein «Wunder» an einer Streichholzschachtel gewirkt wird, und in denen die Menschen im Publikum sehr schön erkennen lassen, wo die Sowjetunion kurz vor ihrem Untergang ungefähr stand in der zentral geplanten Herstellung des allgemeinen Glücks. Dass eine Frau einmal vor laufender Kamera die fünfte Wurzel aus der Zahl 89 ziehen soll, ist aber reiner Zufall, obwohl man das Gefühl bekommt, hier hätte wirklich alles mit allem zu tun. Und die Sowjetunion, in der Figuren wie Zolotov gedeihen konnten, ging ja erst 1990 unter.
Die Frage nach dem Glück in Russland wirkt zurück auf das, was in Zaplyv nicht zu sehen ist: das Russland, das wir aus den Nachrichten kennen, das Land der gestohlenen Modernisierung, das Land des imperialen Größenwahns, das Land der orthodoxen Renaissance. Zolotov bildet mit seinen Leuten eine Kolonie, die auf «Lieben und Lernen» beruht, und die ein Glück im Winkel (und im Sommer) sucht. Kristina Paustian erzählt davon mit einem dokumentarischen Gestus, der selbst wie ein Ausdruck der Netzwerktheorien des Meisters wirkt: eine unhierarchische Montage von Szenen, die keineswegs der wechselseitigen Erläuterung dienen, sondern die vielfach angemessen mysteriös bleiben.
Ein Dostojewski-Zitat im Vorspann weist immerhin eine Spur: Zaplyv wäre danach ein Film über die Neigung russischer Menschen, sich «Götter» zu suchen, weil sie die Freiheit nicht aushalten. Allerdings erscheint Zolotov als zwar gelegentlich ungeduldig, aber insgesamt wenig autoritär. Anders herum: eine Menschenkette im Meer unter der Abendsonne ist als Form von Gemeinschaft sicher offener als die sowjetischen Massenornamente, die der Staatsräuberkapitalismus unter Putin in kleinteilige Notgemeinschaften aufgelöst hat. Kristina Paustian nimmt sich in Zaplyv die Freiheit, sich über ein Sinnexperiment kein Urteil zu bilden, sondern es in faszinierende Facetten aufzulösen.
Hier das Protokoll von der Diskussion auf der Dokumentarfilmwoche in Duisburg