nachruf

22. November 2022

Statt eines Nachrufs Jean-Marie Straub (8.1.1933 – 20.11.2022)

Von Alexander Horwath

Jean-Marie Straub, im Oktober 2004 vor dem Österreichischen Filmmuseum. Einen Monat lang liefen damals nicht nur die Filme von Straub-Huillet, sondern auch Filme von John Ford, ausgewählt von Huillet und Straub. Die Vorstellungen mit ihren eigenen Werken waren durchwegs viel besser besucht als jene mit den Ford-Filmen. Straub wollte das nicht wahrhaben und beschimpfte ein paar Mal das Publikum: Es sei «eine Frechheit, dass die Leute lieber zu uns kommen als zu John Ford».

© Viennale

 

Der folgende kurze Text wurde verfasst, als Jean-Marie-Straub noch lebte. Ich war eingeladen, begrüßende Worte zu sagen, anlässlich einer Eröffnung in der Akademie der Künste. Eröffnet wurde an diesem 17. September 2017 das mehrteilige Projekt und die Ausstellung «Sagen Sie's den Steinen. Zur Gegenwart des Werks von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub». Die reichhaltige Website dazu ist weiterhin verfügbar – sie enthält u.a. verschiedene Texte von Huillet und Straub, die damit erstmals in deutscher Sprache verfügbar wurden. Im Einleitungstext zu diesem Projekt setzten die Kurator*innen Annett Busch und Tobias Hering zwei Begriffe in Kontrast zueinander: «ausstellen» und «herausstellen«.

 

 

Die Filme adäquat ausstellen, das kann nur ein Kino. Aber herausstellen lässt sich die Arbeit, die in ihnen steckt – und das tut die Ausstellung hier. Sie macht noch einmal, so wie Huillet und Straub es in ihren Werken tun, Abstände, Unterschiede, Differenzen erlebbar, anhand von Dokumenten, Bildern und neuen künstlerischen Arbeiten.

Aber wo soll oder darf man sie «hinstellen», die beiden Herausgestellten und ihre Filme? Geht es ganz ohne Kategorien, ohne Genealogien, ohne Alphabet? Ich habe sie gestern Abend zweimal versuchsweise wo hingestellt, zu Hause in Wien, in der Bibliothek. Einmal kamen sie – als Huillet-Straub mit H – unmittelbar zwischen Hou Hsiao-hsien und Jim Jarmusch zu stehen, beim zweiten Mal – als Straub-Huillet mit ST – zwischen Josef von Sternberg und Erich von Stroheim. Beides gut, beides ließe sich wahrscheinlich sinnvoll weiterspinnen. Aber das muss nicht sein. Denn das Alphabet ist nicht nur ein Ausweg, sondern auch eine Falle. Man könnte die Falle natürlich weiter, geräumiger machen; man könnte das Spiel erweitern um jene Vorgängernamen wie Bach und Brecht, Cézanne und Corneille, Hölderlin, Kafka, Pavese, Schönberg, Vittorini und so fort, um all jene also, deren Werke und Geschichten Straub-Huillet weitererzählt haben, mit denen sie uns gelehrt haben, weiter zu zählen in der Geschichte und weiter auf die Geschichte zu zählen, und die sie schließlich ganz neu erzählt haben – so als wäre es das erste Mal. Und es war ja auch immer das erste Mal, weil es plötzlich Kino war und nicht Text, Wort, Alphabet.         

«Die Leute sagen: Straub arbeitet mit den Worten. Das stimmt nicht. Er sucht nach Bildern.» Das sagt Danièle Huillet, und sie hat ganz recht: Sie haben beide 55 Jahre lang nach den Bildern gesucht, und zwar nicht irgendein Bild,  juste une image, sondern une image juste, das richtige, das angemessene Bild. Und sie sind zu den Bildern gereist, rund um die halbe Welt; sowohl zu den Bildern, die es schon gab, als auch zu den Einstellungen, die sie erst dort – und  nur dort – machen konnten. Dazu noch einmal Danièle Huillet, in einem der schönen Texte, die nun auf der Website des Projekts stehen: «Wir haben 1975 eine Tour durch die USA gemacht, wohin wir eingeladen waren, weil unser Film Moses und Aron beim Festival in New York lief und wir von Universitäten gebeten wurden, mit Filmen zu kommen. Wir wählten die Universitäten entsprechend den Museen aus, in denen sich Bilder von Cézanne befanden, und so sahen wir zum ersten Mal die Cézannes der Barnes Foundation [in Merion, bei Philadelphia]. Wir mussten per Anhalter in die Stadt zurückkehren, denn es gibt tatsächlich nicht viele öffentliche Verkehrsmittel, die die Umgebung der Foundation anfahren, aber wir waren so glücklich, endlich ein Museum gefunden zu haben, wo man es für normal hielt, dass die Leute zu den Bildern kommen – was immer zu schaffen ist, wenn man wirklich will, sogar fast ohne Geld, wir sind der Beweis! –, dass also die Leute zu den Bildern kommen, und nicht die Bilder zu den Leuten.»

Das ist auch diesem Projekt und allen künftigen Präsentationen des Werks zu wünschen, dass die Leute – und sei es per Anhalter – den Weg beschreiten, der zu den Filmen und zum ganzen Kosmos dieser beiden Künstler führt. Den Weg ins Kino, in die Ausstellung, zu den Konzerten und Gesprächen, und wieder zurück ins Kino – den Weg, der als glückhafte Erfahrung jenen anderen Weg würdigt, den Straub und Huillet in ihrer Arbeit gegangen sind.

Ein weiterer Text auf der Website, diesmal von Jean-Marie Straub, heißt «Synchronisation ist Mord». Und das gilt nicht nur fürs Synchronisieren von Filmen, sondern ganz allgemein für den immer deutlicheren Druck zur Synchronisation von allem und jedem, damit die Dinge reibungslos laufen können. «Mord» ist ein hartes Wort, es wirkt in diesem Zusammenhang zutiefst UNPASSEND. Aber genau darum geht es, dass im synchronisierten, homogenisierten Dasein immer alles passen soll, weshalb man nur mit dem scheinbar Unpassenden darauf antworten kann.

Ich durfte einmal, vor vielen Jahren, mit zwei filmkundigen Männern, die ich beide sehr bewunderte, am Tisch sitzen und ihnen zuhören, wie sie über das Kino von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet sprachen. Die beiden Männer, nennen wir sie Johnny und Pete, waren alte Freunde, aber beim Thema Straub-Huillet brach stets ein kurzer, heftiger Hagelsturm über die Freundschaft herein. Noch faszinierender als ihre apodiktischen Aussagen war jedoch, wie mir jeder der beiden Kontrahenten als leibhaftiger Widerspruch zum jeweiligen Straub-Huillet-Bild erschien, das er entwarf. Der eine, der an den Filmen die Verwirklichung einer einzigartigen künstlerischen und gesellschaftlichen Utopie beschwor, und eine vorbildliche Haltung der Bescheidenheit, Hingabe und Wertschätzung gegenüber der Welt, pflegte in seiner eigenen Praxis eher einen dystopischen und zynischen Umgang mit den Dingen. Der andere, dessen himmlischer Zorn in den Filmen der Straubs nur Anti-Kino sah und den gänzlichen Verrat an den Möglichkeiten des Mediums Film, erschien mir ansonsten in fast allen seinen Überzeugungen und Proklamationen und Lebenshaltungen wie ein Drilling von Straub und Huillet.

Ich weiß nicht, ob diese kleine Geschichte irgendetwas erhellt. Aber «ein großer Teil der Arbeit», sagt Straub, «besteht darin, die Klischees zu vermeiden und in die Luft zu sprengen, sie zu ‹dynamitieren›.» Und dann springt er vom Wort «dynamitieren» zu zwei anderen D-Worten, zum Wort «Donnerwetter!» und zum Wort «Dialektik». Und er fährt fort: «Man darf nie etwas sagen oder zeigen, wo nicht die Möglichkeit des Gegenteils als Widerstand darin zu spüren ist.»

 

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Heute, am 21. November 2022, lebt Jean-Marie Straub nicht mehr. Die Todesanzeige kommt mit dem Betreff «Quand je serai mort», so als spräche der Verstorbene noch immer. Er spricht mit einem Satz von Georges Bernanos: «Quand je serai mort, dites au doux Royaume de la Terre que j’ai l’aimais, plus que je n’ai jamais osé dire…»