nachruf

24. September 2021

«Ich habe genug» Ein Nachruf auf Tatjana Turanskyj

Von Kathrin Peters

Tatjana Turanskyj in Petra (Hangover Ltd*, 2003)

 

Als eine flexible Frau im Forum der Berlinale 2010 gezeigt wurde, ging ihm einiges Raunen voraus. Ein neuer feministischer Film, ein Film, der nicht bloß Protagonistinnen, die einige «stark» nennen würden, ein paar frauenpolitische Forderungen aufsagen lässt. Sondern ein Film, der der Form nach aufs Ganze geht. So hieß es. Und so war es. Tatjana Turanskyjs Protagonistin Greta ist wütend, traurig und betrunken. Sie sucht einen neuen Job als Architektin, läuft durch Berliner Town-House-Siedlungen, rennt bei Bekannten, die sich in bürgerlichen Klein- oder auch Patchworkfamilien eingerichtet haben, gegen die Wand, und landet in den von Phrasen angefüllten Funktionsräumen von Coaches, Call Centers und Elternsprechstunden. Der Film ist ein Geflecht aus Szenen und Figuren, die ihre Texte performen. Immer wieder ist das Gesicht von Mira Partecke, die Greta spielt, von ganz nah zu sehen, in Beamer-Projektionen zum Beispiel, die bei Bewerbungstrainings und in Feedback-Runden zur Selbstkontrolle eingeschaltet werden. Aber auf Feedback und Selbstkontrolle gibt die Figur Greta zunehmend nichts mehr. Einmal erscheinen Tänzer in einem Park. Sie zeigen Greta, wie man sich fallen lässt, nämlich von den Hüften her. Das sieht gut aus, ist aber auch wieder nur eine Übung. Man kann auch einfach abstürzen.

«Der derzeitig propagierte Feminismus ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine konservative Emanzipation», sagt ein Stadtführer, der im Film auftaucht und verschwindet wie ein Chor, der die Wahrheit spricht. Das ist der springende Punkt: Kind-und-Karriere, Selbstverwirklichung und Körperoptimierung sind mit individuellen Anstrengungen verbunden, die in Aussicht stellen, an einer Struktur teilzuhaben, die aber unangetastet bleibt. Eine flexible Frau setzt auf die Performanz der Verweigerung.

Schon während ihres Studiums der Soziologie, der Literatur- und Theaterwissenschaft arbeitete Tatjana Turanskyj mit Einar Schleef in Frankfurt am Main. In den 1990er Jahren, als Berlin billig und cool war, betrieb sie die OK-GIRL$ Gallery mit. Theater, Kunst und Film gingen bei ihr immer zusammen. Mit dem Kollektiv Hangover Ltd* machte sie Anfang der 2000er Jahre ein paar spektakuläre Filme, in denen vier Frauen Plots von Fassbinder- oder Cassavetes-Filmen in der Kulisse der eigenen Wohnungen implodieren lassen (u. a. Remake und Petra, zusammen mit Sophie Huber, Christine Groß, Claudia Splitt und Ute Schall). Vor der Handkamera streiten sie über Regiepositionen und inszenieren sich selbst als schöne Nackte, schöne Leiche oder überdrehte Schauspielerin bis zur völligen Aushöhlung dieser Weiblichkeits-Topoi. Es sind Filme über die Bedingungen von Theater und Film, über Probe und Dreh und die Geschlechterinszenierungen, die dabei in Kraft gesetzt werden. Das ist Kritik im besten Sinne, weil die Filme darum kreisen, die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen sie selbst entstehen.

Dazu kam die filmpolitische Arbeit, in der es Tatjana Turanskyj mit der Mitbegründung von Pro Quote Regie 2014 um konkrete Produktionsbedingungen und um Zahlen ging – um Statistiken, Quotierung und Geld. Das war und ist kein neuer Kampf, sondern einer, der seit den 1970er Jahren geführt wird. Als Intellektuelle, die sie war, kannte Tatjana Turanskyj die Debatten über Repräsentationspolitiken, um die Frage, wer wie dargestellt wird. Ihre filmischen Referenzen auf Ulrike Ottingers Bildnis einer Trinkerin (1975) oder Helke Sanders Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers (1978) kommen nicht von ungefähr. Inzwischen gibt es durchaus Anzeichen dafür, dass sich allmählich Erfolge dieser filmpolitischen Arbeit um Diversität im Film einstellen, auch wenn jede Veränderung reflexhaft die Verteidigung des Status quo auf den Plan ruft – auch durch eben jenen konservativen Feminismus, der an den Formaten und Bedingungen festhalten will. Tatjana Turanskyjs Hoffnung lag zuletzt auf den postmigrantischen Künstler*innen, denen es gelingen könnte, die weißen Fördersysteme zu verändern (siehe hier).

Kollektives Arbeiten ist immer Teil des feministischen Projekts. Zusammen mit der Dokumentarfilmerin Marita Neher hat Tatjana Turanskyj 2017 Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen realisiert, ein hybrides Road-Movie, wie sie es nennen, über die griechisch-türkische Grenze und die europäische Migrations- und Sicherheitspolitik. Vor fast genau einem Jahr begann Tatjana Turanskyj eine weitere Form kollektiven Arbeitens: als  Professorin an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Mit allen ihr noch zur Verfügung stehenden Kräften war sie Hochschullehrerin und damit befasst, zusammen mit Studierenden ihr Konzept digitaler Autor*innenschaft auszubauen. Die Möglichkeit des unabhängigen Produzierens und Rezipierens lag für sie im Digitalen. Es lässt sich erahnen, was noch alles hätte entstehen können.

Unvollendet geblieben ist auch die Trilogie zu Frauen und Arbeit, von der Eine flexible Frau der erste und Top Girl oder la déformation professionelle (2014), der zweite Teil ist. Weibliche Subjekte und Subjektivierungen werden von Tatjana Turanskyj in ihrer ganzen Brüchigkeit thematisiert und zwar mit unbedingter Parteilichkeit. Selten, wahrscheinlich nie, ist feminisierte Arbeit so treffend und wohl deswegen auch immer wieder so witzig ins Bild gesetzt worden. Top Girl handelt von Helena (Julia Hummer), einer alleinerziehenden Schauspielerin, die zur Sicherung ihres Lebensunterhalts Sexarbeit nachgeht. Aber was heißt schon «handelt von»? Körper, Gesten und Materialien verdichten sich zu Motiven, zum Beispiel dem des Putzens. Der Film setzt reproduktive Hausarbeit immer wieder mit Sexarbeit in Verbindung – sei es, weil Putzen Teil von sexuellen Inszenierungen wird, sei es, weil Körpersekrete abgewischt werden müssen. Ein Saugroboter wird zur zweifelhaften Metapher von Emanzipation, die darin besteht, andere für sich arbeiten zu lassen. In manchen Momenten scheint die Möglichkeit einer Existenzweise auf, die jenseits von Geschlechternormen liegt, die im Grunde für alle Beteiligten erdrückend sind. Dann, wenn Helenas Mutter, die auch Gesangslehrerin ist, mit ihrem erwachsenen Gesangsschüler die Bachkantate «Ich habe genug» übt und beide von libidinöser Spannung getragen das Stück als Popsong interpretieren und tanzen. «Tackatacka bamm» gibt die wunderbare Susanne Bredehöft als Gesangslehrerin den Takt vor. Der bis zum Sinnverlust wiederholte Satz «Ich habe genug» wird zum Widerstandsslogan – es reicht jetzt, ich mache nicht mehr mit bei diesen flexibilisierten Leben, diesen pseudo-emanzipativen Geschlechterregimes, bei diesen so phantasielosen wie repressiven Körperpolitiken, bei der unterbezahlten Sorgearbeit und, ja, auch nicht, bei der geschmäcklerischen Filmästhetik, die das Art House Kino auszeichnen soll. Aber die Kantate «Ich habe genug» hat noch einen anderen Sinn. Es ist ein Lied über das Sterben. «Welt, ich bleibe nicht mehr hier», heißt es, wenn der Gesang über den Abspann läuft.

Das Drehbuch zum letzten Teil der Trilogie, Corporate, über Frauen* und Militär, ist noch fertig geworden. Aber die Zeit, die der Todkranken blieb, war nicht genug. Tatjana Turanskyj ist am 18. September 2021 gestorben. Es ist an uns, weiterzumachen.