10. Juli 2019
Ratnam | Lemke Double Feature (1)
Sie fällt ihm ins Auge, buchstäblich. Ihr Spiegelbild in seiner Pupille, als er erwacht. Er: Varun, Kampfflieger der indischen Armee. Sie: Leela, Ärztin, selbstbewusst, sie ist gerade angekommen, er kommt ihr unverhofft auf den Tisch. Autounfall nach gefährlichem Hallodri-Leichtsinn auf kurviger Straße. Ort: Srinagar im Bundesstaat Kaschmir. Zeit: 1999. Hintergrund: Srinagar-Krieg zwischen Indien und Pakistan. Mehr Backdrop: Berge, monochrom grau, Vorspann, darüber CGI-gestützte Kampfflieger in wilder Jagd. Zufall: Leelas Bruder Ravi, abgeschossen und tot, war einst Varuns Kamerad. Schicksal: Sagt Leela dazu. Musik: Macht A.R. Rahman dazu, ihm steht von Tango bis Schweinerockgitarren mal wieder Gutes und Böses wie unterschiedslos zu Gebote. Kamera, Ravi Varman: Schwelgt, fliegt, blickt von oben drauf, setzt atemberaubend in Szene, Landschaften aus Natur mit viel Schnee oder aus Gesichtern mit tränenverschleierten Augen.
Wie einst in Dil Se bringt Mani Ratnam Krieg und Liebe zusammen. Hier aber gehen die Wellen weniger hoch. Kammerspiele im Hochgebirge. Nicht himmelhochjauchzend, immer nur kurzes Aufbrausen, dann Bezähmung, großartig, wie Ratnam die ins Exzessive strebenden Formen des Bollywood-Melodramas bedient und dann immer gleich bändigt, beinahe anstrengungslos im Medium der Unwahrscheinlichkeiten zwischenmenschliche Hin- und Herwendungen ausbuchstabiert. Quasi Bergman, aber komplett in Vokabular und Grammatik des kommerziellen indischen Kinos.
Statt hochgejazzten Ausbrüchen eher ein Pulsieren, die Geschichte von Varun und Leela, Aushandlung von Geschlechterverhältnissen. Sie liebt ihn, er liebt sie, das ist nicht das Problem. (Ein anderer Mann, Militärarzt mit Brille, weniger hübsch als Varun: Liebt sie auch, während ihn eine andere liebt. Unglück im Ringelreihen, man tanzt dazu.) Nur: Varun, ein Filou, legt sich nicht fest, will vor ihr knien, macht ihr einen Heiratsantrag per Song-and-Dance-Video aus der Ferne, macht am Standesamt einen Termin: und erscheint einfach nicht. Mal betet, mal fährt er sie an, streichelt sie, packt sie, beschimpft sie, küsst sie (nicht), sie küsst ihn (nicht), er schläft mit ihr, sie schläft mit ihm, Scheibenwischer putzen den Schnee von der Frontscheibe, klarer sieht man das nicht. Und ganz klar wird alles erst, wenn das Happy End die Wunden (für indische Verhältnisse) sittlich progressiv heilt. Kernfamilie vor schroffem Gebirg.
Vorher noch ausgedehnter Läuterungs-Plot: Er wird abgeschossen, so geht der Film los, er kommt in Pakistan in den Erzählgegenwart-Knast. Erinnert sich, sehnt sich, ein durchgeknallter Mitgefangener singt My Name is Anthony Gonsalves (was hierhin verlinkt), die längste Zeit des Films ist Rückblende als Einholung der Vorgeschichte. Auf der Flucht aus dem Gefängnis fliegt eine Action-Viertelstunde lang einiges in die Luft. Was wir danach glauben sollen, vielleicht auch wollen, jedenfalls müssen: Varun, der Filou, ist nun ein anderer Mann. Zur Gleichberechtigung mit Leela emanzipiert. Ich bin versuchsweise selig. Und Schluss.
Mani Ratnam, Kaatru Veliyidai, Indien (Tamil Nadu) 2017
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Frauen wollen nicht angebetet werden. Frauen wollen anbeten. Sagt Superstar Judith Paus ganz zum Schluss, da ist der Film schon vorbei, da ist der Abspann, der lang ist, auch schon gelaufen. Also: Um Geschlechterverhältnisse geht es auch hier. Vielleicht nicht zentral, aber worum es hier, im jüngsten Lemkefilm, zentral geht, ist nicht einfach zu sagen. Um Neue Götter in der Maxvorstadt, das ist klar, sagt der Titel ja schon. Lemke zuhause im heimischen Turf, München-Maxvorstadt, Eisbach, Universität, die Copy-Oase (ja, die Copy-Oase, da sitzt der Typ mit Brille und Locken, der immer Kuchen bereithält, der sich mit dem Internet auskennt und den Judith Paus zwischendurch zum Vögeln in den Keller bestellt). Zum Turf, oder eher zu Lemke, gehören natürlich jede Menge junger Frauen, die auf den Straßen Allotria treiben, die Passanten bedrohen der Handys wegen zum Beispiel, die nichts darstellen sollen und wollen als einfach sich selbst. Ohne, und das ist der Zauber des Ganzen, etwas so Simples wie Selbstdarstellerinnen zu sein.
Wolfgang Flatz, der Aktionskünstler, spielt mit. Eine junge Frau ist ihm aufs Dach gestiegen, die die Tochter eines Kunsthändlers ist, den Superstar Rainer Knepperges spielt. Falls hier überhaupt irgendwer irgendwen «spielt». Die anderen «spielen» vielleicht nicht. Er vielleicht schon, hat sich eine eigentümlich Phrasierung der Sätze zugelegt, das jedenfalls schon. Kleiner Herzkasper zu Beginn, dann geht es wieder, dann verschwindet er wieder, kommt aber zurück, wegen Hashtag-Callgirl-für-Geister. Fragen Sie nicht. Ja, fragen Sie einfach wirklich überhaupt nicht, auch nicht nach der Toilette in der Kunstakademie, in der Judith Paus lebt, fragen Sie nicht nach dem wie so viele hier einfach nur in seinem Sosein supertollen Superstar Jürgen «Es gibt nur ein Rudi Völler» Orlowski. Oder fragen Sie nach dem besser doch, denn der ist leider einfach weg, später, und das ist sehr schade.
Wer erst nicht da ist, dann aber sehr: Detlef Bothe, Scorpio, ein Gangster wie in Dirty Harry, aber naja. Weil er nicht da ist, hat Klaus Lemke himself einen hinreißenden Auftritt, platzt in den eigenen Film, Hut tief im Gesicht, bricht ihn ab, den Film, und doch geht er weiter, alles ist möglich, früher war nicht so viel Meta, nun aber geht halt auch das. Und es fügt sich, die Musik fügt es lässig, die Auftritte fügen es fulminant, die Dialoge, das Mundwerk, das Schuhwerk, Hashtag dies, Hashtag das fügen es zu einem herrlich auseinanderfallenden Ganzen, das, wenn es aus und vorbei ist, noch lange nicht aus und vorbei ist. Fortsetzung folgt, mit Fortsetzung-folgt-Gesicht und auch ohne, solange das ZDF Lemke diese meisterhaft dilettantischen, alle Begrenzungen, die das hat, in Freiheit ummünzenden Machwerke abkauft. Auch wenn es zwischendurch öde wird. Wenn es aber gelingt, wie hier, mit den Neuen Göttern, dann besteht nicht so viel von dem, was in Deutschland so produziert wird, daneben.
Klaus Lemke, Neue Götter in der Maxvorstadt, Deutschland 2019