hollywood 5/10

19. Juni 2022

10 x William Dieterle

Von Ekkehard Knörer

William Dieterle (Jewel Robbery)

Jewel Robbery (William Dieterle)

© Warner

 

Eine Stunde Glück (1931)

Ein Klopfen an der Tür, auf der der Name W. Dieterle steht. Der Regisseur höchstselbst dann am Schneidetisch, müde Kalauer mit Schnitten und Bemmen. Eine andere Tür, da lesen wir  Vorführungsraum. Hier erst wildes Sequenz-Durcheinander, unsortiert, flott und wirr hinein in den, flott und wirr hinaus aus dem unfertigen Film. Es folgt dann der tatsächliche Spielfilm, der in jeder Hinsicht ein faszinierendes Werk des Übergangs ist: zwischen Stummfilm und Tonfilm, zwischen Leben und Tod, er spielt noch dazu vollständig im Studio in der Nacht. Zwei Monteure, Dieterle ist eine Figur namens Eddy, Harald Paulsen ist Tommy, treiben im Warenhaus Allotria, statt zu tun, was ihre Aufgabe ist, nämlich die Arbeit an der Dekoration während der nächtlichen Schließung. Sie holen eine junge Frau - Rollenname: Mädel; erst als sie tot ist, wird sie als Erna adressiert - aus dem strömenden Regen, wo sie eine Zeitung mit dem Titel Das Leben verkauft, hinein in das Warenhaus mit seiner Kulisse aus Tischen, Stühlen, Puppen. Man trinkt und singt, vom Glück und vom Sonntag, es ist ein einziger Traum, in dem sich zwischendurch die Dinge, vor allem die Puppen, beleben, ein blackgefactes Orchester, eine Puppe verwandelt sich in die sehr gelenkige Dolly Haas und dann in eine steife Puppe zurück. Ein sächselnder Portier sucht immerzu seine Katze, ein ständiges Versteckspiel zwischen den Warenhaus/Studio-Kulissen, es wird Hochprozentiges aus Wasser getrunken, Tommy wird Automotor mit Zylinder, Dialoggeplänkel ist Welten von Screwball entfernt, wirkt improvisiert. Der Tonfilm scherzt sich und (in Dieterles Fall: sprech-)singt sich munter, aber statisch voran. Was dazwischengerät, und zwar oft sehr abrupt, sind stumme Sequenzen, sie sind unscharf, bewegt, Jagdszenen gegen Ende, die Puppen als Horrorfiguren, Stummfilm ist in diesem Fall: Alptraum. Und so ist und bleibt der Tod, von den Scherzen über Schnitte ganz zu Beginn bis zum fatalen Sturz, der das Mädel zur Erna macht, am bitteren Ende, schmerzhaft und trostlos präsent. Die Frist war im Titel und im Titelsong, auch wenn es niemand wahrhaben wollte, von Anfang bis Ende gesetzt. (80cp)

 

Jewel Robbery (1931)

Baroness Terri (Kay Francis) geht es zu gut: Schaumbadgeboren, eine, die sich neben dem Baron Liebhaber hält. Und vom Baron Schmuck will. Auf zum Ringstraßen-Juwelier, der Schauplatz ist ein Hollywood-Wien. Herein spaziert, eine von sechs Pre-Code-Kollaborationen, William Powell als Gentleman-Dieb. Der Diamantenräuber als a girl’s best Liebesobjekt, einer, der den Überfall choreografiert, die Dame charmiert und den Wachmann erst einspannt, die Beute ins Auto zu tragen, dann Marihuana-Zigaretten verteilt, auf deren Rauchen und dessen Folgen die Kamera, auch später beim Polizeipräsidenten gerne, aber nicht zu lange verweilt. Das Timing stimmt, der Dieb, nein Räuber (eine Sache der Ehre) schickt Rosen und rücküberführt das Diebesgut in Terris Besitz, wie überhaupt in diesem Film der Weg von einem Safe zum, ja in den anderen führt: You wanna see my jewels? Sophisticated comedy, angeschärftes, aufgepepptes, schulterfreies Theaterstück, Verführung, Entführung, Aufschub von einem Raum und Safe zum nächsten, die Polizei, und sei sie gar keine, interveniert, Flucht übers Dach, aber es wird nach dem Ende zum Äußersten kommen: Close-Up auf Kay Francis, ihr letztes Wort lautet Nizza, sie sieht geraden Blicks in die Kamera und gebietet uns Schweigen. (80cp)

 

Six Hours to Live (1932)

Hinein geht es mit Fanfarenmusik: Eine Demo auf der Straße, Protest gegen Paul Onslow, den unbeugsamen Vertreter des Staats Sylvaria, Warner Baxter, der auf einer internationalen Konferenz als einziger sein Veto aufrecht erhält. Das ist sein Todesurteil, denn man wird ihn ermorden. Er aber wird auferstehen, engelsgleich von Gemüt, wenngleich nur für sechs Stunden, was gerade hinreichen wird, beim Nein Sylvaris zu bleiben und die Frau, die ihn liebt, an einen anderen weiterzugeben. Das klingt bizarr, dabei sind die wahren Eigentümlichkeiten dieses Films damit noch gar nicht wirklich beschrieben. Mit seiner oft verwunschenen Atmosphäre, viel Schatten und Dunkel, nähert er sich, nach dem Einstieg mit Fanfaren, über eine lange Strecke ganz ohne Musik, dem Horror. Als Frankenstein und Mad Scientist fungiert ein schrulliger alter Herr, der Erfinder der Wiederbelebungsmaschine, die eindrucksvoll Funken sprüht, Blitzlicht im Dunkel. Mit der Rückkehr des Helden aus dem Jenseits aber gerät der Film seinerseits in jenseitige Stimmung. Somnambul selig umnachtet sind nun beide, der Held und die Atmosphäre, von Musik untermalt, die wie ganz nebenbei vor sich hin spricht, während Onslow sich ohne jeden Widerstand seinem erneuten Sterben ergibt. Sind so sanfte Modulationen, sind recht seltsame Close-Ups, sind Stimmungen und Wendungen sondergleichen, ist berückender “Auf Wiedersehen”-Abschied. Hinterher wird man den Eindruck nicht los, dass man diesen Film nur geträumt haben kann. (80cp)

 

From Headquarters (1934)

Zweimal geht es hinein, aber heraus geht es nicht mehr, jedenfalls nicht zu Fuß. Das Polizei-Hauptquartier ist der Schauplatz, nur per Blende (Schnitt, sich öffnende Türen: noch einmal ineinander geblendet, als wäre es ein und dasselbe) gelangt die Erzählung zum Tatort des Mords. Die Zweiheit des Orts ist ihrerseits doppelt offen für kaleidoskopische Vervielfältigung. Nicht den Täter, aber den Film zieht es wieder und wieder an den Tatort zurück: mehr als ein Schuss, mehr als eine Zeugin oder ein Zeuge, mehr als eine Version des Geschehens, einmal auch ganz buchstäblich zum wackligen POV-Shot perspektiviert. Der Tatort als Raum der (vielfachen) Subjektive, das Hauptquartier dagegen als Wimmelbild der Institution. Kommissare: befragen. Karteikarten: sind Gedächtnis. Fingerabdrücke: werden genommen. Presse: telefoniert. Forensiker: schießt Kugel ins Gewölle. Weit hinein begibt sich der Film in die Quasi-Dokumentation. Dieterle macht dabei Tempo, viele Untersichten, rasch wechselnde Raumaufteilung, Hasten auf Gängen, als Nebenprodukt wird in der Besenkammer ein weiterer Mord ausgefällt. «What a lovely murder», enthusiasmiert sich der Forensiker, die mögliche Tatwaffe in der Hand. Dennoch ist das nicht der Mord als schöne Kunst betrachtet, sondern: Das Kino als Kunst, aus fiktionalem und dokumentarischem Halbzeug das Bild einer Institution der ineinander greifenden Einzelteile zusammenzubauen. (78cp)

 

The Hunchback of Notre Dame (1939)

Charles Laughton als Quasimodo: Halb Prothese, halb Mensch, ganz Faszinosum. Der gepeitschte Schaumgummikörper, das starre herabgesunkene Auge, das verformte Gebiss, der ragende Zahn, Unform, und doch unendlich agil, seine Glocken-Ekstasen, liegend, zuckend, hängend, schwebend. Seine Sehnsucht, Gargoyle zu werden, und doch ist Quasimodo der zentrale Resonanzkörper dieses Films. Notre Dame und das Mittelalter-Paris, halb studioreal, halb Matte-Painting, Hintergrund für die wirbelnde, wartende, tobende Menge, die Bilder mit gesprenkelten Hell-Dunkel-Kontrasten, das Große neben dem Kleinen, der gütige König, die Gut-Böse-Spaltung der Brüder, Esmeralda als Romni: Die Klischees paradieren, der Ton oszilliert nicht ungelenk zwischen Komik und Ernst, Victor Hugo ist durchaus erwartbar auf Hollywood kleinformatiert: Es schwingt und rennt und klingt und ragt Laughtons Quasimodo heraus. (71cp)

 

All That Money Can Buy / The Devil and Daniel Webster (1941)

Allerhand hat in dieser Faust-Version Platz. Das meiste wird durch die Scheidefigur des Teufels, der sich ganz folksy Mr. Scratch nennt und von Walter Huston mit Kinnbart, Gekicher, Sherlock-Holmes-Kappe und mehr als Gusto gespielt wird, in Gut und Böse sortiert. Die Guten sind die armen Farmer, deren Gewerkschaftsbildung am Bösen erst einmal scheitert. Die Guten sind die Mutter und die Gattin des Helden Jabez Stone, der als Farmer das Ende der Fahnenstange erreicht hat. Quiekendes Schwein, stürzende Gattin, Bernard Herrmann rührt Aufgewühltes aufwühlend auf. Auftritt des Versuchers, der mit Gold und sexueller Verlockung zur Vertragsunterzeichnung verführt. Das Gute ist so gut, dass es sich mit dem Bösen in Gestalt von neuer Frau Belle (Simone Simon) und verdorbenem, die Farmer in seinen Dienst zwingenden Gatten, sogar mit dem missratenden Steinschleuder-Stammhalter arrangiert. Die Unschuld namens Mary Stone ist mit dem Land so sehr identifiziert, dass Dieterle eine Überblendung von Kornfeld und Wochenbett sekundenlang durchhält. Neben der Figur des Mannes, der der Versuchung erliegt, den Kräften, die locken (Kapitalismus, Belle und der Teufel) und den Kräften des Guten (Mary, Ma Stone) rückt eine Scheidefigur anderer Art immer stärker ins Zentrum: Der Politiker Daniel Webster, der der Verführung einst widerstand, der die geteilten Gewalten der amerikanischen Demokratie am Zügel führt (buchstäblich: im Namen der Pferde) und den Prozess um die Seele des rettbar Verführten am Ende gewinnt. Ein Tanz der Geister und der Prozess der Gespenster, in Schleierbilder gefasst, sind Höhepunkte des Films, der zu viele Scheidefiguren besitzt, um an die klare Trennung von Gut und Böse selbst glauben zu können, weil er auch weiß, dass in der Geschichte der Vereinigten Staaten das Verbrechen gegen die indigene Bevölkerung als Ur-Böses immer schon steckt.. Wenn Gesellschaft und Geschichte vor den Augen verschwimmen, ist das für die Ambivalenzen genau das richtige Bild. Wieder ein Close-Up als Schlussbild: Mr. Scratch gibt den Uncle Sam als I Want You. (78cp)

 

Love Letters (1945)

High-Concept-Motiv-Verknüpfung eines Cyrano- und eines Amnesie-Plots: Joseph Cotten schreibt hier Briefe, und zwar aus dem Krieg. Sein Alan schenkt einem talent- und würdelosen Roger Worte, die dessen Liebesobjekt Victoria Moreland so sehr bezirzen, dass sie sein Werben akzeptiert. Und natürlich rasch spürt: Er kann es nicht sein. Die Frage, ob sie nur die leere Liebesrhetorik begehrt hat (Worte eines Mannes, der sie nie sah), oder ob da ein affizierbares Herz die Hand geführt hat - diese (im Melodram-Kontext selbst rhetorische) Frage wird erst einmal per brutaler Volte verschoben. Wir sehen: Jennifer Jones mit Messer und Blut, Kaminfeuer hinter, Leiche des falschen Gatten vor ihr. Hat sie ihn getötet? Sie weiß es nicht, sie kennt sich selbst nicht mehr, alles Vergangene ist gelöscht, sie ist nicht mehr Victoria Moreland, sondern nun, vornamenfrei: Singleton. Das Schicksal (Drehbuch: Ayn Rand, nach einem Roman von Chris Massie) führt nun Alan und Singleton zusammen; ihre medial vermittelte Liebesgeschichte muss und wird sich erfüllen. Tolle Einstellung: Eine Kamerafahrt vom abgeknickten Absatz nach oben zum unerwarteten ersten Kuss. Später: Die Hände von Jennifer Jones verkrampfen sich im Close-Up auf Alans Rücken bei der Erinnerung an die gelöschte Identität. Eine Identität, die auch als Körper erst wieder zusammengesetzt werden muss. Wiederum ein Melodram, bei dem Dieterle die haarsträubendsten Unwahrscheinlichkeiten ohne Zögern in eine Mischung aus Melos und Pathos überführt, bei der die Anstrengung, keine Zweifel aufkommen zu lassen, unsichtbar bleibt. (71cp)

 

Portrait of Jennie (1948)

Der Film über die Liebe zu einer Frau, die lebend und tot ist, die nur als Einbildung real ist, eine femme fatale für den Künstler als Mann, dieser Film ist ein Fantasiestück, das sich mit dem «nur» nicht abfinden will und sich, weil es ein Hirngespinst dingfest zu machen versucht, nach Materialitäten verzehrt. So bekommt das Bild wieder und wieder Leinwandtextur, Rauheit als fast schon plumper special effect, wogegen der sehr reale Central Park als Begegnungsort steht. Nur dass im Realen das Irreale begegnet, das seine Realität nur auf der bemalten Leinwand erhält. Noch mehr Kontraste: die sprunghaft heranwachsende Jennifer Jones, die das Ätherische spielt, aber doch auch den Wunsch, auf die andere Seite, die des Lebens zu wechseln, glaubhaft verkörpert; die dunkle, von schrecklich viel Leben zeugende Stimme der sexy old lady Ethel Barrymore, die sich die Kunst des Künstlers ihrerseits in die Wirklichkeit wünscht. Das furiose Ende mit grünem Blitz und tosendem Wetter ist ein Exorzismus/Orgasmus, der sich zur Bannung der Toten als blühendes Gemälde-Leben in Farbe beruhigt. Ein überbordender Wahnsinn mit Kammerspiel-Zügen, den die inneren Widersprüche nicht mal zerreißen. Der mediokre Künstler, der in der Begegnung mit der eingebildeten Muse zum Genius wird: Unerschöpflich ist, trivial genug, nur das Imaginäre. Nicht-trivial: Für solche Einsichten Zeitmaschinen zu bauen, Jennifer Jones in den Central Park zu setzen, Wind und Wetter zum Sturm zusammenzubrauen. (74cp)

 

The Accused (1949)

Loretta Young ist Wilma Tuttle ist Professorin für Psychologie. Im Seminar sitzt ein Student, der ihr nachstellt, sie in Prüfungstext und Person stalkt und belästigt. Sie macht den Fehler, in sein Auto zu steigen, als er sie an einsamer Küste vergewaltigen will, tötet sie ihn Schlägen auf den Schädel und rollt die Leiche die Küste hinab. Sie erwacht, schweigt und verstrickt sich. Zwei Männer kommen ihr nahe: Ein Anwalt (Robert Cummings), er will Liebe, nicht Wahrheit. Der ermittelnde Polizist, er will die Wahrheit, aber Liebe nähme er auch. Die Erzählung - Drehbuch: die mit dem Pulitzer ausgezeichnete Dramatikerin Ketti Frings - schafft einen Space, der nicht unbedingt safe ist, im inneren Monolog Wilma Tuttles, aber es ist ein Raum, der alles Geschehen auf sie als Subjekt perspektiviert. Schroff dagegengestellt das zweite Date, der Anwalt nimmt sie mit, ausgerechnet zu einem Boxkampf. Der Kampf, die Ähnlichkeit des Boxers mit dem Aggressor, triggern die Erinnerung: Sie verrät sich, fast, was aber den Anwalt, der von ihrer Unschuld überzeugt ist, nur fester bindet. Daran ändern der Para-Prozess im Verhör und der Prozess am Ende, bei dem er sie vertritt, nichts. Auch Dieterles Inszenierung lässt an der Unschuld des Opfers, das aus Notwehr tötet, keinen Zweifel. (74cp)

 

Paid in Full (1950)

Kein Roman liegt zugrunde, sondern die «suggestion» einer Readers’-Digest-Story. Das verheißt für den Plot nicht unbedingt Gutes, oder verheißt wenigstens Soap. Daran wird es nicht fehlen, jedoch spielt und inszeniert Dieterle das als Melodram mit Noir-Anflug bis zuletzt straight. So flexibel er in der Anverwandlung der Genres ist, in Haltung und Unterton liegen ihm tongue in cheek wie Übermut denkbar fern. Auf die Spur von Noir führt der Beginn: Die Heldin sinkt am Steuer ihres Wagens zusammen, vor dem Krankenhaus, sie ist hochschwanger, ihr Name ist falsch, das Kind soll leben, es klingt, als wolle sie den eigenen Tod. Die Rückblende erklärt, was geschah. Zunächst nur die Geschichte eines Mannes (Robert Cummings), dem die falsche von zwei Schwestern den Kopf verdreht. Aus der friend zone, in der er sie als Mitarbeiterin abgelegt hat, macht ihm Lizabeth Scott schöne Augen, vergeblich. Ein Mann, in atemberaubender Blindheit entschlossen zum eigenen Unglück, zieht beide in dieses Unglück hinein. Und ein Kind, das sterben muss, noch dazu. Ihrerseits zu allem entschlossen steuert sich die Geschichte in eine fatale Ersetzungs- und Opfer-Arithmetik hinein, über Stock, Stein, erneute Hochzeit jenseits der Grenze. Sie steuert sich, aber steigert sich nicht: Dieterle filmt das weg, als wären es nicht der schiere Irrsinn, was sich hier abspielt. Hier schließt sich nichts kurz Richtung Camp. Das Melodram geht über Köpfe, Körper, Herzen von Müttern und Töchtern hinweg seinen geordneten Gang. (68cp)

 

William Dieterle (The Devil and Daniel Webster)

The Devil and Daniel Webster (William Dieterle)

© RKO Radio Pictures