22. Mai 2023
5 x John Brahm
Let Us Live (1939)
Einführung des zentralen Paars nach Geplänkel mit einer Nebenfigur im Kneipengerangel: eine behandschuhte Hand (es ist die Henry Fondas, wie man nach einem Schwenk nach links sieht) greift von links auf die Schulter eines betrunkenen Mannes und reklamiert die Frau, Mary (Maureen O’Sullivan) für sich. Ungewöhnlich umwegiger Einstieg für einen so kurzen Film (67 Minuten), allerdings war er ursprünglich nicht nur größer geplant, sondern auch mit einigen dann gestrichenen Szenen gedreht. Die Geschichte von zwei Taxifahrern, die, von einer Reihe Zeugen falsch identifiziert, um ein Haar auf dem Elektrischen Stuhl landen, beruhte auf einer wahren Geschichte. Die Polizei, der Prozess, die Jury, der Gouverneur: sehen entsprechend gar nicht gut aus. Die Kürzungen (in den Ermittlungen, im Prozess, in der Verhandlung der Jury gibt es spürbare Lücken) machen die Sache allerdings eher noch straighter: Die Wandlung des rothaarigen Fonda vom bescheidenen Glückspilz des Schicksals zum in aller Unschuld desillusionierten jungen Mann wird, um Gegen-die-Uhr-Thriller-Momente verstärkt, zum eindeutigen Fokus des Films. Die Anklage gegen ein Rechtssystem, das das zulässt, bleibt implizit. John Brahm inszeniert außerordentlich präzise: die semitransparente Leinwand bei der Gegenüberstellung, die die Zeugen ins Halbdunkel rückt; die Härte, mit der Henry Fondas helles Gesicht in ein alles umgreifendes Dunkel getaucht wird (Kamera: Lucien Ballard). Und bei allen Konzessionen durch Kürzung: Die unschuldigen Männer kommen davon, aber es ist ein alles andere als versöhnliches Ende. (73cp)
The Lodger (1944)
Großartiges Studio-London, ein düsteres Nebelreich: Jack the Ripper is in da house. In die Familie der Revuetänzerin Kitty Langley - sie lebt dort mit dem arbeitslos gewordenen Onkel und dessen lebensfähigeren Frau - schleicht er sich ein, ins Obergeschoss, er macht sich ein Feuerchen im Raum unterm Dach. Einschleichen trifft die Sache ganz gut, denn Laird Cregar spielt diesen Ripper sanft, ganz sanft in seinem ungeheuren Körper, dessen Masse immer etwas Leichtes behält. Sanft züngelt der Wahnsinn in seinen Zügen, aus seinen Augen. Man sieht ihn nicht töten, sieht nicht einmal die Waffe in seiner Hand: ein Mann, der etwas Unheimliches hat, nur manifest wird es nicht. John Brahm verfährt nicht unbedingt subtil, wieder und wieder filmt er den Täter von reichlich weit unten, einmal fast erdbodennah. So recht passen die Theaterszenen mit ihren Cancans und fliegenden Rücken atmosphäre gar nicht dazu. Sollte man meinen. Seltsamerweise tun sie es doch, sie sind das Helle im Reich des Finstern. Umso beunruhigender, wenn das Finstere am Ende durch dieses Reich des Hellen, genauer gesagt: dessen Schnürboden, zu geistern beginnt, in tödlicher Absicht. Fulminantes Finale, hell und dunkel gestreift. Laird Cregar, der mit dreißig Jahren (an den Folgen einer rabiaten Diät) starb: ein unglaublicher Verlust für all die Filme, in denen er nicht spielen konnte. (74cp)
Hangover Square (1945)
Harmlos genug geht das los: ein Mann, Komponist, zwischen zwei Frauen, und zwischen zwei musikalischen Formen. Die eine blond und solide und klassisch, die andere brünett und lasziv und Unterhaltungsmusik. (Beides, alles, von Bernard Herrmann ohne Rücksicht auf Verluste komponiert.) Und was für ein Mann das ist: Laird Cregar als George Harvey Bone, in der Rolle, die ihn buchstäblich umgebracht hat, mit der amphetamingestützten Diät, die zum Herzinfarkt führte. Der Film ist, sich selbst in den Wahnsinn steigernd, chronologisch gedreht, tatsächlich kann man beobachten, wie Cregar zusehends schlanker, aber auch immer flackernder wird. Man spürt John Brahms Bändigungsakt, am Ende quellen Cregars Augäpfel aus ihren Höhlen, die Stimme bleibt samten, der Schauspieler setzt sich dem Sturm (nicht nur) der Musik aus, den er selbst heraufbeschwört. Daneben George Sanders als Mediziner, wandelndes Realitätsprinzip, prompt in die Sousterrainwohnung gesperrt. In einer anderen, einer der vielen von Joseph LaShelle grandios fotografierten Szenen bleibt er im Schatten, dagegen Laird Cregar auf der Suche nach der verdrängten Tat strahlend im Licht. Die Kamera mit Raubvogelblick auf den Komponisten, die Leiche im Arm, dann lauernd, knapp über dem Asphalt, einmal wird leinwandfüllend eine Laterne entzündet, rasend die Massen und lodernd der Scheiterhaufen, remember remember the fifth of November, die Tonspur ein einziges Brausen. Und dann das irre Finale, eine Plansequenz fliegt über das Orchester, die flitzenden Bögen der Streicher, hinweg, kreist um die Sitzenden, nimmt die spielenden Hände aus der Lotrechten in den Blick, eine Einstellung als lebendes, sich ins Irresein steigerndes Wesen, eine Szene, in der das Feuer schon lodert, bevor es tatsächlich ausbricht und den immer weiter spielenden Helden im furiosen Finale verschlingt. (83cp)
The Locket (1946)
Hier kommen die Flashbacks in Gestalt von Brian Aherne und Robert Mitchum zur Tür hereinspaziert - und öffnen Abgründe, die tief in die Vergangenheit einer jungen Frau reichen. Nancy (Laraine Day) ist blond und schön und verführt die Männer unraffiniert; dabei klaut sie, das Trauma führt in ihre Kindheit zurück, wie eine Elster: Diamanten, Armbänder, Schmuck aller Art. Nun, Gegenwart, kurz vor der Hochzeit, hier setzt der Film ein und stürzt in drei Vorgeschichten zurück, Rückblenden-Mise-an-abyme. Ein Psychoanalytiker, Dr. Harry Blair (Brian Aherne), tritt ein und erzählt, bevor er auf sich und Nancy näher eingeht, von Norman Clyde (Robert Mitchum), dem Maler, der Nancy verfiel, bis er - ein Mord ist geschehen - ihr zu misstrauen begann. Er selbst kann nicht mehr berichten, der Film tut es im Flashback aus seiner Sicht, an seiner Stelle, und bringt so den Toten zum Sprechen. Dann Blair selbst, zurück in den Krieg, Verschüttetes wird geborgen, ein Diamant blinkt lebendig, wo Bomben ihr Zerstörungswerk taten. Eingelegt in die Perspektivübernahmen ist, als Erinnerung Nancys, der anamnestische Blick in die Kindheit - hier wird der Film selbst als Psychoanalytiker tätig. Laraine Day/ Nancy wird so als Dreh- und Angelpunkt, der drei Männer zu einem Schicksal verbindet, in den Erinnerungsbewegungen zugleich Einschub um Einschub dezentriert: ein Vertigo-Flashback-Schachteleffekt. Zu sich kommt sie und kommt die präzise inszenierte und (von Nicholas Musuraca) auch in Licht und Schatten gesetzte Geschichte in einem grandiosen Finale die Treppe herab. Blick auf den Boden, Selbsterkenntnis als namenloser Schrecken. Hinter der Tür, die sich schließt, kann man auf eine besser Zukunft nur hoffen. (80cp)
Die goldene Pest (1954)
Gar manches ist faul im Städtchen Dossenthal in der südwestdeutschen Provinz. Ein US-Militär-Stützpunkt, nach drei Jahren in den Vereinigten Staaten kehrt US-Army-Mann Richard Hartwig (Ivan Desny mit fremdem, wenn auch nicht amerikanischem Akzent), der von hier stammt, wieder zurück. Jedoch: Statt Wirtschaftswunder ein Sodom und Gomorrha aus Drogenhandel im Tantengeschäft, weiblichem Schlammcatchen, Prostitution und einem Mafioso, der im Fond eines teuren Schlittens Drohungen spuckt. Der Bruder von Hartwigs Braut (drei Jahre hat sie auf ihn gewartet), Karl Hellmer (Karlheinz Böhm), ist von diesen bösen Mächten verführt und getrieben, mit Krediten hat er ein Vergnügungszelt im Zentrum eröffnet, attraktive junge Frauen radeln knapp bekleidet im Kreis, die Schwester singt, einen Drag-Auftritt gibt es auch, jedoch reicht das Geld, das er mit den Vergnügungen einnimmt, nicht aus. Erich Ponto gibt den älteren Herrn, der der Sache nicht traut; eine vielköpfige Familie, die den Nazi-Zeiten nachtrauert, vermietet ein Zimmer nach Art eines Stundenhotels. Tiefer und tiefer verstrickt sich Karl Hellmer, während der Zirkus, den er heraufbeschworen hat, zusehends außer Kontrolle gerät und im furiosen Truppenübungsfinale gleich mitexplodiert. Auf dem Weg in einen sehr produktiven Regie-Herbst als Fernseserienregisseur kam John Brahm - nicht unähnlich der Hartwig-Figur - nach Deutschland zurück; Erfolg war dem düsteren Sitten-Thriller keiner beschieden, so ist es bei dem einen Abstecher geblieben. Ob es den richtigen Ton gegeben hätte für diese wüste Geschichte, ist schwer zu sagen. So ganz gefunden hat John Brahm ihn jedenfalls nicht, Karlheinz Böhm bekommt die banale Abgründigkeit seiner Figur eines Getriebenen nie so ganz hin und Gertrud Kückelmann als allzu Naive ist nicht die, zu der einer, der den Koreakrieg gesehen hat, nach Jahren zurückkehrt. (64cp)