9. Juli 2010
1920: André Antoine: L’hirondelle et le mésange
André Antoine hing seinen Job bei den Gaswerken an den Nagel, als das von ihm gegründete Theater erste Erfolge versprach. Groß waren die nicht, finanziell gesehen, aber in die Lehrbücher der Theatergeschichte gelangte Antoine mit seinem werkstattförmigen «Théâtre libre» sehr wohl. Sieben Jahre lang brachte er den Naturalismus, vorzugsweise Zola, auf die Bühne, spielte selbst, inszenierte, mehr als 100 meist ganz neue Stücke in sieben Jahren, 12.000 Zeitungsartikel wurden darüber geschrieben, dann machte das hoch verschuldete Theater dicht.
Antoine war keineswegs entmutigt, gründete sein eigenes Théâtre Antoine, übernahm als künstlerischer Leiter das «Odéon», gab das 1914 auf und machte nie wieder Theater, war aber als Kritiker, Theoretiker, Vortragsredner und Vorkämpfer gegen einen «allzu a-r-t-i-k-u-l-i-e-r-t-e-n» (Antoine) Rezitations- und für einen antirhetorischen Schauspielstil unterwegs und von gewaltigem Einfluss auf freie Theaterszenen weit über Frankreich hinaus. Zu seinen Forderungen gehörten: Kein Spiel für die Galerie, kein Rampensauwesen, alles im Dienst von Text und Stück. Keine Leinwände mit Blumenbemalung als Hintergrund, sondern echte Pflanzen in echten Töpfen.
Flashforward Pflanzen in Töpfen
Antoines Regie- bzw. Inszenierungsstil ist im Handbuch «Fifty key theatre directors» wie folgt beschrieben:
Antoines Inszenierungsmethode hat er früh entwickelt und bis zuletzt beibehalten. Zunächst las der Stückautor seinen Text in Anwesenheit der versammelten Gruppe. Dann wählte Antoine die Darsteller aus und entwarf, allein vom Text ausgehend, eine erste Mise-en-Scène. Dazu gehörten zahlreiche Skizzen und Bühnenentwürfe, Auftritts- und Abgangsmarkierungen und, mit kleinen Kreuzen und Pfeilen angedeutet, die Positionen und Bewegungen der Schauspieler. Bei seiner Arbeit an der Inszenierung änderte Antoine kaum je den Dialogtext, aber in seinen Arbeitsbüchern findet man die Szenenanweisungen der Autoren oft rüde durchgestrichen und durch eigene ersetzt.
Alles war haargenau festgelegt, sollte aber in keinem Fall artifiziell wirken. Die Schauspieler waren angehalten, in der Wirklichkeit Menschenstudien zu treiben, aber der Stücktext blieb unangetastet. Von der im bürgerlichen Theater bevorzugten Rampe verlagerte sich die Spielszene in die Mitte der Bühne, Ziel war die Illudierung, Schließung der vierten Wand: keine - und sei es im Virtuosenspiel indirekte – Adressierung des Publikums. Ein ganz auf die Bühne ausgerichtetes Realismuskonzept exaktester Mise-en-Scène. Das sollte man, sieht man dann einen der so nachdrücklich «realistischen» Filme André Antoines, sicher im Hinterkopf behalten.
In den Filmgeschichtsbüchern ist André Antoine kaum je verzeichnet. Sieben Jahre lang aber, von 1915 bis 1922, verlegt er sich, da ist er um die sechzig, auf Anfrage der Produktionsfirma Pathé aufs Kino. Er verfilmt Theaterstücke und Romane, darunter Werke von Dumas und Hugo und Zola und Daudet. Und er dreht einen Film, der etwas anderes will. Skizzenhaft gibt es ein Drehbuch, eine melodramatische Eifersuchtsgeschichte, im wesentlichen aber entsteht der Film beim Dreh selbst. Gegen Ende kommt es zu einer durchaus überzeugenden Plotverdichtung mit Beinahe-Vergewaltigung, versuchtem Diebstahl und Mord. Lange aber werden zuvor Stimmungen, Blicke, Bewegungen, Beziehungen akkumuliert, eingesammelt, wie immer man sagen will. Jedenfalls ist es großartig anzusehen.
L’hirondelle et le mésange (dt. Die Schwalbe und die Meise) gehört ins kleine Genre des Lastkahnfilms, das mit Jean Epsteins La belle nivernaise, Renoirs La fille de l’eau, Gremillons Maldone, Vigos L’atalante und dann auch noch Käutners Unter den Brücken einige veritable Meisterwerke hervorgebracht hat – vgl. dazu auch Volker Pantenburgs kurzen Eintrag bei New Filmkritik. L’hirondelle et le mésange muss man unbedingt in diese Reihe stellen – auch wenn es ein Last-, kein Schleppkahnfilm ist –, es ist ein großartiges Werk, das allerdings auf das, was folgte, keinen Einfluss gehabt hat - ihn, genauer gesagt, gar nicht haben konnte. Als man bei Pathé nämlich die sechs Stunden Material sah, die Antoine beim Dreh produziert hatte, wurde das Projekt auf der Stelle gestoppt. Die zuständigen Stellen konnten in dem, was sie sahen, keinen Spielfilm erkennen, viel zu undramatisch und rein dokumentarisch schien ihnen das Material. Es kam nicht zum Schnitt, das Rohmaterial wurde verdost und verstaut und erst Jahrzehnte später wiederentdeckt. Antoine war da natürlich lange tot, der Regisseur Henri Colpi übernahm nach vorhandenen Notizen den Schnitt und stellte den Film im Jahr 1983 fertig. Die Zwischentitel sind dabei zum großen Teil und die oft wunderbar einleuchtenden Blendeneffekte komplett authentisch, letztere alle schon in der Kamera produziert.
Wie nah auch immer das, was dabei herauskam, an den ursprünglichen Intentionen von Antoine lag: es ist Dokumentarrealismus der atemberaubenden Art, im gleitenden Rhythmus von Kanälen und Flüssen geschnittene Bilder von Landschaften, Städten, von Menschen auf Kähnen, an Ufern, zu Wasser und zu Land. Kompositionen, denen man Antoines Sinn für die Mise-en-Scène jedenfalls anzusehen glaubt, Figuren, die man bei der Arbeit sieht, in der Stadt, auf dem Kahn, auf dem Land.
Von Belgien aus Richtung Frankreich schippert Kahnmann Pierre Van Groot durch die Kanäle, vor allem Baumaterialien an Bord seiner beiden manchmal hintereinander gekoppelten, manchmal nebeneinander zum Doppelkahn vertäuten Kähne «Schwalbe» und «Meise». Die Bewegung des Films ist nicht nur eine durch Belgien zur Grenze, sondern auch von vielen bewegten Aufnahmen vom Kahn aus auf das, was am Ufer vorbeizieht, hin auf die vier Hauptfiguren und Bewohnern des Kahns: Kapitän Van Groot, seine Frau Griet, deren Schwester Marte und der in Anvers geheuerte zum Süßwasserfisch umzuschulende Seemann Michel. Eine Bewegung von eher totalen, Figuren vor Wasser und Land ins Relief setzender Mise-en-Scène hin zu Großaufnahmen und Momenten der Leidenschaft.
Was den Film aber eigentlich dominiert, was wahrscheinlich die Pathé-Leute entsetzte: immer wieder großartige Vorbeifahrtbilder vom Kahn aus, Bilder, die den Kahn als Kamerastandort, aber nicht als Schauplatz für die Handlung benutzen. Man sieht Landschaften, man sieht - ausdrücklich wird es einmal gesagt – die im Krieg zerstörte Stadt, man sieht Menschen an Böschungen, man sieht Wäsche im Wind, man sieht Figuren an Fenstern, man sieht Schafe, man sieht Felder, man sieht Wiesen, man sieht vieles, das nicht den mindesten dramatischen Wert hat.
Landschaft vom Kahn aus - Kahn/Figur als Relief
Das Screenshotprinzip kann das schwerlich einfangen: das einfach Majestätische dieser vom bewegten Kahn aus gefilmten Bilder. Rhythmisiert wird, was lange noch kaum eine Geschichte ist, von der Abwechslung zwischen Schifffahrt und Landgang. Regelmäßig kehren diese Unterbrechungen wieder, am eindrucksvollsten sind dabei zwei Gelegenheiten. In Antwerpen wird der festliche Umzug namens Ommegang gefeiert - diese Aufnahmen sind übrigens, weil diese Festivität nur alle 25 Jahre stattfindet, sehr genau, nämlich auf den 20.07.1919 datierbar.
Und bei einer anderen Gelegenheit gehen die Vier vom Kahn ins Fotostudio und werden, als hätten sie, die vom Vorder- und Hintergrundwunderding namens Lastkahn mit Kamera kommen, das nötig, vor falschen Hintergründen trickreich platziert. Ohne übergroße Anstrengungen kommt dann auch der Eifersuchtsplot langsam in Schwung: Michel, der so tut, als liebe er Marthe. Dabei begehrt er in Wahrheit die verheiratete Griet. Meisterhaft wird das inszeniert als Tafelrunde aus Blicken.
Vergewaltigungsversuch, Beobachtung eines Mords: Gesicht in Großaufnahme
Pierre bringt Michel sehr unsanft zum Verschwinden. Das Wasser wahrt, sagt die letzte Schrifttafel, das Geheimnis. Es folgen, als sollte das Mordgeschehen zum Vergessen gebracht werden, noch einmal letzte Bilder von der friedlichen Landschaft, die nichts gesehen hat, die in der Vorbeifahrtotalen vom Feuer der Großaufnahmen-Leidenschaft schweigt noch da, wo sie raucht.