3. Juni 2010
1913: Franz Hofer: Die schwarze Kugel
Sensationsdrama: Zu viel versprochen ist das nicht. Da könnte aber auch stehen: Maskenspiel. Vorhangstück. Schwesternrache. Actionfilm. Und natürlich auch das, was in der Titeltafel davor stand: Die schwarze Kugel.
Ausgangspunkt: Zwei Schwestern, Edith und Violetta, kommen von der Beerdigung ihrer Schwester. Sie starb, weil der Mann, der ihr die Ehe versprach, sie dann höhnisch verschmähte. Im Abschiedsbrief bittet sie höflich um Rache. Edith und Violetta, Violetta und Edith sind zu allem bereit.
Den Vicomte, der ihrer Schwester das antat, zu ködern, treten sie auf im Varieté. Wie aus allem, macht Franz Hofer, der Regisseur, der vom Theater kam, daraus ein Drama aus Blicken: mit doppeltem Vorhang. Die Bühne im Hintergrund im Frontalanblick. Im Vordergrund Hinterköpfe in einer Loge (mit zurückgezogenem Vorhang), von der aus man übers Rang-Publikum auf die Bühne sieht.
Herstellung von Sichtbarkeit und Unübersichtlichkeit zugleich. Genauer vielleicht: Inszenierte Sichtbarkeit, zu der stets ein Hindernis gehört für den Blick. Also: der Vorhang, gerne auch doppelt und dreifach. Aber auch, und in der Folge kommt auch dies mehr als einmal zum Einsatz: der Schleier, die Maske. Lustgewinn durch Blickhindernis. Die Handlung wäre, so gesehen, in erster Linie Vorwand, um Hindernisse in Szene zu setzen und ihre Überwindung. Der folgende Bühnenauftritt der Schwestern (verkleidet, maskiert) setzt das selbst noch einmal in Szene. Sie öffnen die Umhänge, sie öffnen auf der Bühne selbst noch einmal einen Vorhang.
Jede Offenbarung jedoch offenbart (neben ihrer eigenen Inszenierung) nichts als eine weitere Schicht. Franz Hofers Die schwarze Kugel ist ein Film, der vom Bühnenstück träumt als einer Installation, in der sich ins Endlose und ad infinitum immer weiter nur Vorhänge öffnen und den Blick freigeben auf einen je weiteren Vorhang, durch den wir (als Filmpublikum) jemanden sehen, der in rächender Sensationsdramaabsicht jemand anderen meist unbeobachtet beobachtet. Die Variationen sind sonder Zahl, hier ein paar Eindrücke:
Auch das Begehren des Blicks als Voyeurismus, der die Leinwand durchlöchert, um die «letzte Wahrheit» zu sehen, wird so ganz unumwunden mitausgestellt. Im Innern der Garderobe schließt Edith die Fensterläden und zieht noch eine weitere Schutzleinwand vor. Herausgefordert ist so der Vicomte, der den direkten Zugriff auf jede Bühne, die sich seinem Blick bietet, sucht. So öffnet er nicht nur den Fensterladen, was eine Schattenspielleinwand offenbart. Nein, er greift dann noch zur Schere und schneidet in perforativ-penetrativer Absicht in diese Leinwandmembran ein Loch. Als Loch-Bild sehen wir dann ins Innere, wie wir zuvor schon im Fernglasbild mit den Augen des Vicomte auf die Bühne sahen.
Weitere Auftritte haben: Geheimknöpfe, Geheimschränke und Geheimtüren. Es wird versteckt, verfolgt, gerannt, gerächt. Ganz aus dem Rahmen der Sensationsdramaturgie fällt die titelgebende schwarze Kugel. Auf der Bühne soll es sich in der Jonglage entscheiden. Die Schwester, in deren Hand die schwarze unter den weißen Kugeln verbleibt, soll zur Rache am Vicomte schreiten. Eigentlich steht, dass es nur Edith sein kann, im Moment der Entscheidung freilich schon fest. Es ist, als markierte sich in der Kugel ein Manifestationsüberschuss, der die Vorhänge und Geheimnisse des Restdramas balancieren und kompensieren muss. Die Färbeszene ist eine aufwendige Spiegelbildkonstruktion. Und nach der Entscheidung streckt Edith – maskiert – die Kugel dem Filmzuschauer direkt ins Gesicht.
Der dritte Akt, an dessen Ende der Täter stürzt und verzeiht, ist eine Abschweifung: nach draußen, zum Actionfilm. Eine Verfolgungsjagd findet statt, in Gärten, über Dächer. Nicht mehr als eine Verselbständigungsbewegung weg von der dysfunktionalen Dichtestelle «Kugel», weg vom Sensationsrachedrama, für den Moment auch eine Abwendung vom Vorhang-, Schleier- Maskenspiel. Good, clean chase fun.
Ganz vergessen hat Hofer seine Vorhanglust aber nicht. Das Beginnmotiv, das frappierend übrigens wie manches andere auch an Vera Chytilovas Film Tausendschönchen erinnert, nimmt er zuletzt wieder auf. Die Schwestern (wie) auf der Bühne, dem Blick des Betrachters frontal freigegeben. Aber auch hier ist noch und wieder ein Vorhang im Bild, durch den die Schwestern nicht etwa verschwinden, sondern ein letztes Mal und, siehe das zweite Still, nach einem letzten Blick zurück, nun erscheinen. Sie haben das Sensationsdrama hinter sich.