10. Juni 2010
1915: Lois Weber: Hypocrites
Im Vorspann als Credit-Sequenz sitzen die Hauptdarsteller auf einem Thron, gekleidet in ihre Rollenkostüme. Gleitend ist der Übergang nicht nur vom einen zur andern, sondern ebenso gleitend, in Überblendungen, der Kostümwechsel derselben Darsteller in der Vorabvorstellung ihrer im Film dann unterschiedlichen Rollen. Der Priester ist auch Gabriel, der Mönch und Asket. Beide sind Courtenay Foote, ein Schauspieler, dessen Geburtsdatum offenbar keiner mehr kennt, der früh starb und dessen verklärt-gemeißelte Gesichtszüge in einem Pasolini-Film nicht fehl am Platz wären. Die Frau, im imaginierten katholischen Mittelalter wie in der damals heutigen Gegenwart, heuchlerisch die eine Zeit wie die andere, ist Myrtle Stedman. Sie sieht generischer aus und spielt, flehend, die Wahrheit und den Priester suchend, die Frau, die erlöst werden will. (Und dass dieses Erlösungsbegehren einem anderen, viel fleischlicheren Begehren manchmal gleicht, das ist kein Zufall, sondern der tiefere und möglicherweise wirklich unfreiwillige Grundzug des Films wie eben auch des ekstatischen Glaubens per se.)
Das Gleiten, der Übergang durch Superimposition, ist kein bloßer Vorspanneinfall, sondern die Methode dieses tief paradoxen Werks. Paradox nämlich als frommer Traktat, der Probleme mit seiner Bildpolitik bekommt. Ein frommer Traktat jedenfalls ist Hypocrites ganz sicher, und zwar einer, der schon im Titel ankündigt, was er dann tut: Er zeigt die Heuchelei vergangener und neuerer Zeiten. Aus christlicher Perspektive. Der Film eröffnet mit einem Gottesdienst. Der Pasolini-Priester auf der Kanzel klagt die Menschheit so allgemein an, dass jede Kirchgängerin, jeder Kirchgänger sich auch persönlich gemeint fühlt. Lois Weber zeigt das in Einzelporträts, sie gruppiert die Gesichter, die sie die Kamera entlangfahren lässt, zu Widerspruchs- und Empörungskleingruppen. Der innere Mensch, sagt der Priester, ist nicht, was der äußere scheint, das ist das Wesen der Heuchelei. Eine Frau blickt vergeistigt gen Himmel, dann senkt sie im Schuldanerkenntnis den Kopf.
Weber löst die Eröffnungsszene so auf, dass neben dem Priester, der von unten aufgenommene Halbnahen füllt, die Kirchgänger nach und nach, in Montage und Fahrt, ins Bild gefasst werden. Typen alle. Dann auch der Chor. Zwischen den beiden Flügeln des Chors aber (die Kanzel ist weiter rechts) liegt der Altar. Ein sehr schöner Schwenk von der rechten Chorseite zur linken fasst zwischendurch emblematisch den Altar in ein ehrfurchtsvoll verharrendes Bild. Erst ganz am Ende dieser Erfassung eines Sakralraums kommt es zum mittig gesetzten Establishing Shot aus dem Kirchenraumhintergrund.
Von einem Detail aus, dem man bei der ersten Notiz, die die Kamera nimmt, nicht unbedingt ansah, was im Verlauf aus ihm wird, nimmt Hypocrites seinen Fortgang. Einer der Männer im Chor las heimlich während der Predigt in der Zeitung. Der Priester hat es gesehen und möchte nun wissen, worum der Artikel sich drehte. Erstaunlich genug: Es geht um die Wahrheit. (Vielmehr: «Die Wahrheit») Und wie sie dem Menschen als sündhaften sich wieder und wieder entzieht. Nicht nur, werden wir sehen, in Paris.
Hier denkt man zurück an den seltsamen, von mir bislang unerwähnt gelassenen Teil des Beginns, der ein eigentümlich von einer Szenerie in die nächste gestaffelter Erzähl-Vorraum ist, durch den man gleitet, bevor man dann in der Kirche ist. Man sah, in einer Art Vor-Bild, aber nach den Darsteller-Thron-Superimpositionen, unter der Schrifttafelüberschrift «Gates of Truth» ein weißes Gartentor, durch das eine nackte Frau, halb durchsichtig, schritt.
Das Blatt in der Hand, die Wahrheit im Sinn gleitet der Priester in Schlaf und der Film vom Boden der zunächst etablierten Tatsachen in eine – grün viragierte – Vision. Wiederum tut er dies in Übereinstimmung mit dem durchgehaltenen Stilprinzip: der Überblendung. Ihr fortgesetzter Einsatz macht Hypocrites geradezu membranartig; unklar ist der Status der Anschlüsse, unklar ist das Verhältnis der einzelnen Teile zueinander, aber geglitten wird leicht und anstrengungslos: die Überblendung ist ein semantisch uneindeutige Konjunktion.
Nach oben, so viel steht fest, weist der Priester nunmehr den Weg. Er tut das buchstäblich. Nicht nur hier, sondern später erst recht, mit dem ständigen Wiederauftauchen der halb durchsichtigen nackten Wahrheit, wird diese Buchstäblichkeit als Prinzip erkennbar. Und das heißt: das realistische Register ist Vorwand für das andere, das nun dominiert: das der Allegorie. Im Bild oben ist im übertragenen Sinn oben. Die nackte Frau ist die nackte Wahrheit. Das Abrutschen auf dem beschwerlichen Pfad in die Höhe ist die Schwierigkeit, den Pfad der Tugend nicht zu verlassen. Alles ist eminent übersetzbar, eben nach Art der Allegorie, die jenes Register der Signifikation ist, das sich nach dem eins zu eins sehnt. Und, übrigens, gesehnt wird überhaupt viel auf dem Weg in die Höhe. Frauen dem Priester hinterdrein, der doch nur zur nackten Frau, die die Wahrheit ist, will.
Und dann ist schon wieder etwas verrutscht. Vom grün viragierten Visionsraum sind wir in ein wieder schwarzweißes, also als real zu begreifendes, mönchisches Mittelalter geraten. Gabriel, der Asket, meißelt hier an seinem uns lange unbekannt bleibenden Meisterwerk: eine Statue, die - genau - in Form einer nackten Frau nichts als die Wahrheit darstellen soll. Einer der Mitbrüder linst über die Mauer und wird geblendet, weil er das Werk unerlaubt sieht.
Enthüllt werden soll es auf einem Fest. Eine weitere Eigenart dieses immer aufs neue faszinierenden Films kommt hier zum Tragen. So bizarr das Gleiten von einem Bild- und Zeitraum zum nächsten auch sein mag (und es liegt gar nicht so fern, bei all dem an Maya Deren zu denken), auf jeden einzelnen dieser Bild- und Zeiträume lässt sich Lois Weber mit staunenswerter Lust am Detail und an der realistischen Fülle der Inszenierung dann ein. Die Nacktheit und Dürre der Allegorie erfährt sehr postwendend stets Konterkarierung in mal historien-, mal gesellschaftsfilmwürdig ausgemalten Szenarien. Und in jedem dieser miteinander nur durchs allegorische Membrangleiten verträglichen Räume erweist sich Weber, die selbst als Predigerin begann und im Laufe der zehner Jahre zum echten und hoch bezahlten Regiesuperstar mit eigener Produktionsfirma wurde, als wirkliche Könnerin. (Sie stürzte, Griffith durchaus vergleichbar, in den Zwanzigern ab, drehte noch einen einzigen Tonfilm und das war's dann.)
Bilder vom Fest, auch hier aber sehr schöne fromm-allegorische Einlagen, siehe die Nonnen, von denen die Kamera in die Höhe schwenkt, Richtung Kreuz (diese Bewegung wiederholt sich, später sind es einzelne Zunftschilder, die man beim Nachobenschwenk sieht; eigentlich ist das sozusagen die mise-en-abyme des Verfahrens, das Realismus und Allegorie in notwendiger Gleichzeitigkeit produziert).
Schließlich: Die Wahrheit wird enthüllt. Es kommt, wie es kommen muss: der sie enthüllende Abt, die versammelte Festgesellschaft, alle sind sie entsetzt. Die Wahrheit ist -– als Statue jetzt – nackt, wie Gott und der Asket Gabriel und Lois Weber sie schufen. (Man liest, dass möglicherweise Weber selbst die Wahrheit darstellt. Ganz verlässlich ist diese Auskunft wohl nicht.) Die Heuchler, und das sind sie alle, ertragen das nicht. Auch die Frau in schwarz, deren allegorischen Sinn ich nicht ganz begreife, sinkt zu Boden und legt den Arm vor die Augen.
Und als Zuschauer muss man, möglicherweise auch nicht ganz reinen Herzens, sagen: In der Tat. Die Wahrheit ist nackt. Nur mag sie allegorisch zwar gerne die Wahrheit sein. Es führt aber, wenn die Augen nicht trügen, zugleich kein Weg an der Tatsache vorbei, dass da immerzu eine splitternackte Frau full frontal, und sei es noch so halbdurchsichtig, durch das Bild rennt. Eine Attraktion keineswegs rein allegorischer Art. Es ist eben ein mehrfacher Bildsinn etwas kategorial anderes als ein mehrfacher Schriftsinn. Man bekommt bei noch so allegorisch-frommer Gestimmtheit den allzu sinnlichen Buchstabensinn der Sache nicht aus dem Kopf. Die Wahrheit ist eine nackte Frau. Punktum.
Als solche macht sie sich nun auf in die Säkularwelt unserer Gegenwart. Sie hält – siehe die letzten beiden Stills oben – ganz literal wiederum, der Politik, der Gesellschaft, dem auf den Klippen zur Fete versammelten Jungvolk, einander betrügenden Liebenden, gar dem Priester und dem Balken in dessen Auge sowie zuletzt einer irgendwie an Sex und Indulgence leidenden Familie den Spiegel vor. All das immer so, dass sie in allegorischer Gangart ins Bild schreitet, von rechts oder von links, den Spiegel dann zückt, in den Lois Weber die Bilder mit den Problemszenarien darin einspielt. Im oberen der beiden Bilder sieht man, wie das erneut in gleitenden Überblendungen, die Superimpositionsbilder der durchsichtig-undurchsichtig überlagerten Art produzieren, vorgeführt wird
Aus geht es, wie anders auch, christlich tröstlich tödlich. Priester und nackte Frau machen das Tor der Wahrheit hinter sich zu. Wir gleiten zurück in den Realraum der Kirche. Und siehe, der Priester ist tot. Bzw, frömmere Lesart: Ist gerettet! (Aber siehe auch, was drängt sich da in nicht totzukriegendem Realismus schon wieder für eine arg finanzweltliche Wirklichkeit auf die Zeitungsseite des Schlussbilds?)